Die Grenzen des Sagbaren klar ziehen!

Kommentar

Wir brauchen den Holocaust-Gedenktag heute mehr denn je. Nie war es entscheidender, ihn aktiv zu begehen, sich der Erinnerung auszusetzen, historisches Wissen nicht nur bewusst zu halten, sondern weiter zu schärfen und vor allem dafür zu sorgen, dass auch die Vorgeschichte nicht in Vergessenheit gerät.

Die Grenzen des Sagbaren klar ziehen! - Das Holocaust-Mahnmal in Berlin
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Holocaust-Mahnmal in Berlin.

Zeitzeugen des Holocaust leben nur noch sehr wenige, sehr hochbetagte. Anatoli Shapiro, ukrainischer Jude, der als Kommandant der Roten Armee die in den drei Hauptlagern von Auschwitz verbliebenen Häftlinge befreite, starb bereits 2005, 92-jährig. Als würde mit dem Dahinschwinden der Zeitzeugen auch die Angst schwinden, dass sich ein so monströser Zivilisationsbruch wiederholen könnte, gehen antisemitische Sprüche wieder leichter von den Lippen.

Das Internet ist voll mit antisemitischem Müll und einem immer noch zu wenig öffentlich skandalisierten Antiziganismus. Jüdinnen und Juden sind wieder bedroht, Sinti und Roma gleichfalls. Antisemitismus macht sich im neuen Gewand einer bestimmten Israelkritik breit, Antiziganismus verkleidet sich als Kritik am Missbrauch deutscher Sozialleistungen. In Ungarn betrieb der amtierende Regierungschef Wahlkampagnen mit offen antisemitischen Slogans. Anschläge auf jüdische Gemeinden von Pittsburgh bis Halle offenbaren die Enthemmung eines irrationalen Judenhasses. In Frankreich, aber auch in Deutschland grassiert unter jüdischen Familien verstärkt die Überlegung, nach Israel auszuwandern.

Die große Grenzverschiebung: Martin Walsers Rede erntet Applaus

Oft heißt es, die Grenzen des Sagbaren hätten sich verschoben, um dann auf das „Vogelschiss-Diktum“ des AfD-Fraktionschefs im Bundestag zu verweisen, oder auf das „Denkmal der Schande“ -Gebrüll der Hauptfigur des sogenannten Flügels derselben Partei. Wer tiefer einsteigt, zählt die geheuchelte Empörung von Rechtsaußen über den Antisemitismus unter Muslimen auf und erwähnt Musiker, die sich nicht entblöden, deplatzierte Witze über Auschwitz in ihre Texte einzubauen.

Dabei haben weder die AfD-Politiker noch Kollegah die große Grenzverschiebung bewirkt. Man muss nicht nur zwei, sondern zwanzig Jahre zurückblicken und sich an die Paulskirchen-Rede des Schriftstellers Martin Walser erinnern, die er 1998 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hielt. Ein wirklicher Tiefpunkt für den Preis. Der ganze Instrumentenkasten des Rechtspopulismus: die Selbstinszenierung als Tabubrecher, das Reden in Andeutungen, die kultivierte Wut auf die Linksintellektuellen, das provokante Offenlassen von Fragen und das Aussprechen des Unsagbaren – all das kam in der Rede vor, wurde vom Publikum mit Applaus bedacht anstatt mit Buhrufen.

Die Grenze des Sagbaren war in dem Moment überschritten, als Walser, ohne es auszusprechen, einen Schlussstrich unter das deutsche Kapitel „Auschwitz“ forderte. Da gab es den Holocaust-Gedenktag schon seit drei Jahren. Offenbar brauchte es eine gewisse Zeit, um Gewicht und Bedeutung eines solchen Tages zu begreifen und gesellschaftlich zu verankern. Denn noch zehn Jahre später, im Jahre 2008, beklagte sich der jetzige Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, darüber, dass in München und Regensburg Karnevalsfeierlichkeiten auf den 27. Januar gelegt wurden.

Trotz rechtem Gegenwind wächst die Sensibilität für das Thema Holocaust

Diese Art von Ignoranz ist heute, im Jahr 2020 und insbesondere in München, kaum noch vorstellbar – trotz des buchstäblichen Erfolges der Walser-Rede, der ihre Adepten 2017 in den Bundestag spülte, wo sie seither immer wieder mit den erprobten Stilmitteln versuchen, den demokratischen Grundkonsens lautstark ins Wanken zu bringen.

Denn die Sensibilität für das Thema um den Ort Auschwitz ist eher gewachsen – erstmals seit mehr als 20 Jahren reiste mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel eine deutsche Regierungschefin an den Ort des Grauens und brachte zusammen mit der Bekräftigung bleibender deutscher Verantwortung auch Geld mit, das den Erhalt der Gedenkstättenarbeit unterstützen soll. Nicht nur der Bund, sondern auch die Länder haben Antisemitismus-Beauftragte eingesetzt, die sich dem Dammbruch ungehemmter judenfeindlicher Äußerungen entgegenstemmen wollen.

Als die polnische Regierung ein Holocaust-Gesetz auf den Weg brachte – das zwar den richtigen Ansatz der Klarstellung verfolgte, dass Auschwitz keine polnische, sondern eine deutsche Erfindung war, aber mit der falschen Vorgabe operieren wollte, polnische Kollaboration vollständig zu tabuisieren - folgte weltweiter Protest. Das Gesetz wurde immerhin entschärft.

Drei Beispiele, die zeigen: Ganz machtlos stehen weder die Zivilgesellschaft noch die Institutionen der Demokratie vor dem Phänomen eines wachsenden Antisemitismus, der Auschwitz relativieren und abschließen will.

Antisemitische Haltungen bleiben in der deutschen Gesellschaft präsent

Hilflos jedoch klingt die Aussage, dass der heutige Antisemitismus „erschreckend“ sei – denn das war er immer schon und nie war er verschwunden. Es hilft auch nicht, „in erster Linie mit ethischen Appellen, mit Appellen an die Humanität zu operieren, denn das Wort ‚Humanität‘ selber (…) wirkt wie Angst und Schwäche, etwa ähnlich so, wie in bestimmten Vorgängen (...) die Erwähnung von Auschwitz zu Rufen wie ‚Hoch Auschwitz‘ geführt hat und die bloße Erwähnung jüdischer Namen bereits zum Gelächter“, schrieb Theodor W. Adorno in seiner jüngst wieder aufgelegten Vorlesung über die Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, die er 1967 in Wien gehalten hatte.

Demokratinnen und Demokraten müssen sich nicht dem, mit gewohnt sarkastischer Zuspitzung formulierten, Diktum Henryk M. Broders anschließen, der Antisemitismus sei ein „Weltkulturerbe“, aber die Latenz seiner Existenz ist ernstzunehmen. Keine Maßnahme politischer Bildungsarbeit, keine sozialpsychologische Studie, kein verpflichtender KZ-Besuch für sämtliche Schülerinnen und Schüler (dessen Wirkungslosigkeit insofern nachgewiesen ist, als es ihn in der DDR gab), wird die latenten antisemitischen und rassistischen Vorurteile ausrotten können.

Elmar Brähler und Oliver Decker weisen in ihrer Studie „Flucht ins Autoritäre“ von 2018 nach, dass 10% der Befragten „traditionellen antisemitischen Aussagen ausdrücklich“ zustimmen. Bis zu 50% werden es, wenn eine „Umwegkommunikation“ angeboten wird. „Die höchsten (…) Werte erreichen Post-Holocaust-Forderungen nach einem Schlussstrich unter die Verbrechen der Deutschen während des Zweiten Weltkrieges.“ Zählt man die teils-teils-Antworten, bei denen Menschen sich nicht klar ablehnend zu antisemitischen Äußerungen verhalten, hinzu, so geben Brähler und Decker den Anteil der Latenz für Ostdeutschland mit 40 bis 80% und für Westdeutschland mit 30 bis 80% an.

Autoritäre Dynmaiken führen zu antisemitischen Haltungen

Antisemitismus nach Auschwitz ist ein deutsches Latenzphänomen im Jahr 30 nach der Wiedervereinigung. Die Ursachen liegen für Decker und Brähler, die umfangreiche Fragekombinationen durchgeführt haben, nicht in Einzelursachen wie unzureichender Bildung, sondern im Gesamtgefüge einer gesellschaftlichen Dynamik, die auf Menschen in ihrer Sozialisation einwirkt.

Auch in einer vergleichsweise stabilen Demokratie wie der bundesdeutschen treten autoritäre Dynamiken deutlich sichtbarer zu Tage, ausgelöst durch rechtsextreme Einflüsse in individuellen oder regionalen Umfeldern und durch aggressive politisch-soziale Wertigkeitsdiskurse. Brähler und Decker knüpfen mit ihren Untersuchungen an die frühen Vorurteils-Studien von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno an, die das Konzept der autoritätsgebundenen Persönlichkeit entwickelten, auf das Adorno 1967 in Wien mehrfach verwies.

Während es für den Erziehungswissenschaftler und Publizisten Micha Brumlik 2005 noch so aussah, als könne das Konzept der „authoritarian personality“ allmählich ausgemustert werden, denn laut Umfragen gäbe es „bei einer Mehrheit der Deutschen eine inzwischen gefestigte Frontstellung gegen antisemitische Äußerungen und Verhaltensweisen“, stellen sich die Dinge heute wesentlich anders dar. Der Wirkkomplex aus autoritärer gesellschaftlicher Dynamik, autoritärer Erfahrung im Lebenslauf und dem Gefühl der Kränkung durch ein wirtschaftliches Umfeld, in dem man selbst überflüssig zu sein scheint, erzeugt heute offenbar einen enormen Druck, der ein Ventil benötigt: „Viele Menschen finden dieses Ventil offenbar im Antisemitismus.“

Mit welchen Idealen und Methoden Heranwachsende von ihren Eltern erzogen werden, darauf kann die Gesellschaft nur mittelbar Einfluss nehmen. Auf die Frage, ob sich in der Gesellschaft autoritäre Dynamiken ausbreiten, ob die Verschiebung der Grenzen des Sagbaren akzeptiert oder ob ihr in aller Klarheit und deutlicher Entschiedenheit widersprochen wird, darauf können Politik, Wissenschaft, Bildungseinrichtungen, NGOs, Kirchen und Vereine durchaus Einfluss nehmen, ja es ist sogar dringend geboten. Beim schlichten Bedauern über autoritäre Charaktere, die in ländlichen Regionen heranwachsen oder einem Sarkasmus über Antisemitismus als “Kulturerbe” kann und darf es nicht bleiben. Es gibt einen Handlungsauftrag aller Demokratinnen und Demokraten, sich dem Ausbruch autoritärer Dynamiken energisch und in aller Klarheit zu widersetzen.

Ein nicht hoch genug zu schätzender Aspekt dabei ist eine kontinuierlich weiter zu entwickelnde und sensible Erinnerungskultur, die so ausgestaltet sein muss, dass sie historisches Lernen mit Vernunft und Gefühl ermöglicht. Dazu gehört die Empathie mit den Opfern, ihren Kindern und Kindeskindern und der Entschluss, aktiv für eine liberale und gerechte Gesellschaft einzustehen. Deshalb brauchen wir den 27. Januar als Gedenktag an die Opfer des Holocaust.