Russland: Petschenegen, Polowetzen und das Coronavirus

Hintergrund

Präsident Wladimir Putin steht vor der größten Herausforderung seiner Amtszeit: Die SARS-CoV-2-Pandemie in Russland erreicht in den nächsten Wochen ihren Höhepunkt. Von zögerlichem Handeln, einem unerwarteten Krisenmanager und der Furcht, die Reserven anzubrechen, berichtet Johannes Voswinkel, Leiter unseres Büros in Moskau.

Wladimir Putin im Schutzanzug
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Präsident Putin besucht ein Krankenhaus in Moskau.

Die Videos langer Schlangen von Rettungswagen vor den Krankenhäusern in Moskau haben dem SARS-CoV-2 Virus in den vergangenen Tagen auch in Russland ein bedrohliches Bild verliehen. Manche Patient/innen mussten sechs Stunden und länger im Wagen warten, bis die stationäre Aufnahme möglich war. Weit mehr als 12.000 Infizierte werden schon in Moskauer Krankenhäusern behandelt. Behördenvertreter beklagen ein Gesundheitssystem am Rand der Erschöpfung und befürchten gar ein “italienisches Szenario”. Denn Russland steht der Höhepunkt der Epidemie nach Prognosen erst noch bevor: in Moskau in den nächsten zwei Wochen, im Rest des Landes in gut drei Wochen.

Unrealistische Infektionszahlen

Lange Zeit schien es, als ob das Virus Russland weitgehend verschont. Noch am 8. März meldete die Gesundheitsbehörde gerade einmal 17 Infektionen. Allerdings hielten Kritiker/innen diese Werte schon damals für unrealistisch und geschönt. Die Hoffnung, sich als Insel der Stabilität zu erweisen, zerstob bald. Mittlerweile zählt Russland 32.008 Infizierte (Stand am 17. April) mit deutlich steigender Tendenz. Allein in den vergangenen 24 Stunden kamen 4.070 Erkrankte hinzu – ein negativer Rekordwert. 273 Tote und 2.590 Geheilte verzeichnet die Statistik. Damit ist Russland in die Gruppe der 15 am stärksten betroffenen Länder aufgestiegen. Alle Föderationssubjekte des Landes sind mittlerweile betroffen, aber der Schwerpunkt liegt in Moskau, das mehr als die Hälfte der Infizierten meldet. Ob das Gesundheitssystem der Herausforderung gewachsen ist, steht offen. Die Reform des Systems hatte im Zeichen der „Optimierung“ zwischen den Jahren 2000 und 2015 landesweit zur Schließung von mehr als 5.000 Krankenhäusern geführt.

Überraschend unautoritäre Reaktion

So fällt der 20. Jahrestag des Aufstiegs Putins zum mächtigsten Mann Russlands mit der womöglich größten Herausforderung seiner Amtszeit zusammen. Anfangs reagierte Russlands Führung zögerlich auf die Bedrohung durch die Pandemie. Wer gedacht hatte, dass der Kreml die heraufziehende Krise ausnutzen werde, um mit autoritären Maßnahmen die eigene Macht in Politik und Gesellschaft weiter auszubauen, sah sich überrascht. Vermutlich galt es vor allem, die geplante Volksbefragung am 22. April, die den möglichen Machterhalt Putins bis 2036 sichern sollte, und die Großfeier zum 75. Jahrestag des Zweiten Weltkriegs am 9. Mai nicht zu gefährden. Beides musste Putin mittlerweile auf später verschieben.

Verantwortung liegt in den Regionen

Vokabeln wie Quarantäne oder gar Ausnahmezustand mied Putin – vielleicht, um dem schon jetzt weitreichenden Einfluss der Sicherheitsorgane letzte Grenzen zu setzen. Von einem umfassenden Aktionsplan war lange Zeit nicht die Rede, dramatische Appelle blieben aus. Putin gab lieber wochenlang arbeitsfrei und schob die Verantwortung den Regionen zu. Moskau ging es vor allem darum, die wirtschaftlichen Perspektiven nicht zu stark zu belasten, das Budget zu schonen und unangenehme Maßnahmen den Regionen zu überlassen. Der Präsident sieht sich mehr für die globale Geste unter Weltenlenkern zuständig. Im hermetischen Ganzkörperanzug, den er zum Besuch eines Spezialkrankenhauses für Corona-Patient/innen trug, fühlt er sich beengt.

Moskaus Bürgermeister als oberster Krisenmanager

Das gab einem Gouverneur die Möglichkeit, sich als oberster Krisenmanager zu profilieren: Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin, der von Politolog/innen oft den liberalen Technokrat/innen im Umkreis Putins zugerechnet wird, führte ein Regime der Quarantäne für Auslandsreisende und der Selbstisolation der Bürger/innen ein, an dem sich viele Regionen orientierten. Er ordnete kostenlose Übernachtungsplätze in Hotels und kostenlose Taxifahrten für Ärzt/innen und medizinisches Personal an. Als die Polizeikontrollen des neuen Erlaubnissystems für Fahrten durch Moskau am vergangenen Mittwoch genau die großen Menschenmassen vor den Metro-Eingängen erzeugten, die es zu vermeiden galt, handelte der Bürgermeister ein Ende der strikten Überprüfungen aus und versprach ein verbessertes, automatisiertes Kontrollsystem. Sobjanin erwarb dank der Corona-Krise politisches Kapital. Ob er es später nutzen kann, wird sich zeigen. Falls Moskau in ein Corona-Desaster gerät, ist er allerdings prädestiniert für die Rolle des Sündenbocks.

Sparsames Rettungspaket für die Wirtschaft

Als das Bild des Präsidenten nach zwei Fernsehansprachen voller warmer Worte zu blass erschien, verordneten ihm seine Polittechnolog/innen den Liveauftritt in einer Videokonferenz mit Gouverneuren. Putin konnte ihnen wie einer Schulklasse Aufträge in die Notizblöcke diktieren – das sah nach Führung aus. Endlich versprach er Hilfe für die Menschen: erhebliche Bonuszahlungen für das Krankenhauspersonal, Erleichterungen wie einen Zahlungsaufschub für die Beiträge an die Sozialversicherungen für Kleinunternehmer/innen, föderale Unterstützung für die Regionen. Später kamen direkte Hilfen für die Gehaltszahlungen an gut drei Millionen Arbeitnehmer/innen und eine finanzielle Unterstützung für Fluggesellschaften hinzu. Trotz allem fällt das bislang geplante Rettungspaket der russischen Regierung für die Wirtschaft mit einem Umfang von etwa 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im internationalen Vergleich eher klein aus. Zwar hat Russland erhebliche Finanzreserven: Allein im Wohlstandsfonds liegen 125 Milliarden Dollar, hinzu kommen 540 Milliarden Dollar als Staatsreserve. Doch diese gut gefüllte Kasse gilt vielen in der Landesführung als letztes Mittel im Kampf gegen fallende Zustimmung und Unruhe im Land. Deshalb soll sie besser möglichst wenig angetastet werden.

Petschenegen und Polowetzen

Zum Schluss seiner dritten Ansprache zur Corona-Krise stellte der Präsident das Virus in eine Reihe mit den mittelalterlichen Angriffen der Nomadenvölker Petschenegen und Polowetzen auf russische Fürstentümer. So belebte er das alte Bild des guten Russlands, das ständig von äußeren Feinden bedroht wird. Doch die gesellschaftliche Konsolidierung im Ausnahmezustand funktioniert nicht mehr so gut wie früher. Im Vergleich zu den Regierungschefs anderer Länder konnte Putin nach aktuellen Meinungsumfragen das Momentum der Krise nicht nutzen, um seine Popularität auszubauen. Die Gesellschaft ist zugleich geprägt von politischer Apathie und einem diffusen Sehnen nach Reformen, dem die Führungselite in einem erstarrenden System nicht nachkommt. Auch die Opposition bietet keine verlässlichen Kanäle für Veränderungswünsche: Sie ist zersplittert und hat den Glauben an sich selbst verloren.

Umsatzeinbrüche, unbezahlter Urlaub und steigende Arbeitslosigkeit

So muss der Präsident vor allem wirtschaftliche Verwerfungen fürchten, die in sozialer Unruhe münden könnten. Schätzungen des möglichen Rückgangs des Bruttoinlandsprodukts Russlands durch die Corona-Krise liegen

breit gestreut zwischen 1 und 7 Prozent. Allein in der ersten von Putin auf Kosten der Unternehmen als “arbeitsfrei” deklarierten Woche Ende März sanken die Ausgaben der Bevölkerung für Waren und Dienstleistungen um mehr als 21 Prozent. Viele Unternehmer/innen wehren sich auf ihre Weise: Laut einer Studie haben etwa 30 Prozent aller Unternehmen Mitarbeiter/innen dazu gezwungen, unbezahlten Urlaub zu nehmen. Mehr als 20 Prozent sollen Gehälter gekürzt und etwa 15 Prozent Arbeitnehmer/innen entlassen haben.

Krise offenbart strukturelle Wirtschaftsprobleme

Mitglieder der Ökonomischen Expertengruppe, die lange Zeit das Wirtschaftsministerium beraten hat, befürchten eine Welle von Firmenpleiten, hohe Arbeitslosigkeit und um sich greifende Verarmung, wenn der Staat nicht ein umfangreiches Hilfsprogramm finanziert. Denn die Krise führt die strukturellen Probleme Russlands verschärft vor Augen: Das Modell der Ressourcenwirtschaft erweist sich in seiner Abhängigkeit vom Ölpreis und den langfristigen Veränderungen auf den globalen Energiemärkten als nicht zukunftstauglich.