Falsche Infos, falsche Bilder: US-Wahl wird zur Probe für Tech-Konzerne und Demokratie

Analyse

Die Desinformation im Internet hat im amerikanischen Wahlkampf eine neue Dimension erreicht. Die Plattformen kommen mit Factchecking nicht gegen die Macht der eigenen Algorithmen an – zumal die Quelle vieler Falschnachrichten im Weißen Haus sitzt.

Screenshot Twitter Safety / Trump-Tweet
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Von Twitter markierter Trump-Tweet

Objektiv gesehen stehen die USA im Moment nicht gut da. Das Land hält einen traurigen Welt-Rekord bei Corona-Infektionen und Todesfällen. Brutale Fälle von Polizeigewalt gegen Schwarze haben landesweite Proteste gegen Rassendiskriminierung entfacht. Zwei von drei Amerikaner*innen finden laut einer Umfrage, dass ihr Land sich in die falsche Richtung bewege und mehr als die Hälfte haben eine schlechte Meinung von ihrem Präsidenten, Donald Trump.

Aber es gibt noch eine andere Welt, in der Objektivität und Differenzierung keine Rolle spielen. In dieser alternativen Realität hat Donald Trump den Kampf gegen das Coronavirus gewonnen, während die – überwiegend friedlichen – Black-Lives-Matter-Proteste zu einem Zusammenbruch von Law and Order in den Innenstädten führen. Joe Biden und die Demokraten missbrauchen derweil angeblich die Briefwahl zum Wahlbetrug, um Trump um den verdienten Sieg zu bringen.

Einen Einblick in diese Parallelwelt bot Ende August der Republikanische Parteitag. Das Ausmaß der Realitätsleugnung war für viele Beobachter*innen selbst nach fast vier Jahren Trump erschreckend –The Atlantic berichtete über einen „Karneval der Desinformation.“ Die Einschaltquoten waren mäßig, aber wer braucht in diesen Tagen schon ein großes Fernsehpublikum, wenn die meisten Bürger*innen ihre Nachrichten im Internet bekommen?

Der Parteitag war das analoge Pendant der digitalen Echokammer rechter Kreise. „Hört zu, Liberals!“, richtete sich der Tech-Kolumnist der New York Times Kevin Roose mit einem eindringlichen Appell an die Leser*innen. „Wenn Ihr glaubt, dass Donald Trump im November nicht wiedergewählt werden kann, dann habt Ihr nicht genug Zeit auf Facebook verbracht.“ Roose ermittelt täglich die Autoren der zehn populärsten Facebook-Beiträge – und stets sind in dieser Liste Trump-nahe Gruppen und bekannte ultrakonservative Kommentator*innen vertreten.

Etliche dieser Autoren – und manchmal auch Autorinnen – sind dafür bekannt, dass sie manipulative, verzerrte oder falsche Inhalte von dubioser Herkunft verbreiten. Solche Inhalte kursieren am rechten wie am linken Rand des ideologischen Spektrums, aber Studien haben gezeigt, dass ältere Bürger*innen, die der Republikanischen Partei nahe stehen, mit höherer Wahrscheinlichkeit Falschnachrichten und Propaganda teilen.

Die großen digitalen Plattformen greifen so stark ein wie nie zuvor, aber sie kommen mit dem Löschen, Warnen und Korrigieren nicht hinterher. Die Coronavirus-Epidemie hat Verschwörungstheorien und Quacksalberei Vorschub geleistet – und die auf Sensationslust optimierten Algorithmen von Facebook, Twitter oder Youtube haben die Falschmeldungen um die ganze Welt getragen.

Öl ins Algorithmen-Feuer

In vielen Ländern, darunter auch in Deutschland, sind die Coronavirus-Mythen mit politischem Extremismus eine toxische Mischung eingegangen – oft angekurbelt durch gezielte Desinformation externer Akteure wie Russland oder China, die ein Interesse daran haben, liberale Demokratien zu destabilisieren (Russland) oder ihr eigenes Image in der Coronakrise aufzupolieren (China). Aber die USA sind – neben Brasilien – eine der wenigen Demokratien, in denen die Führung des Landes selbst Öl ins Feuer gießt. Trump und sein engster Zirkel bedienen die ganze Palette: von Coronavirus-Misinformation zu gezielter Desinformation über den Wahlgegner und demokratische Prozesse bis hin zu Hassrede. 

Im Juli entfernten die großen sozialen Netzwerke ein Video mit dem Titel „America’s Frontline Doctors”, welches die widerlegte Behauptung enthielt, dass das Malaria-Medikament Hydroxychloroquin ein geeignetes Mittel gegen Covid-19 sei. Doch zu diesem Zeitpunkt hatten Trump und sein Sohn, Donald Trump Jr., längst Versionen des Beitrags geteilt.

Schon im Mai versah Twitter zwei Beiträge, in denen Trump Zweifel an der Legitimität der Briefwahl säte, mit Links, die zu weiterführenden korrekten Informationen zum Thema führen. Als der Präsident Wähler*innen Anfang September dazu aufrief, zwei Mal zu wählen, um das System zu testen, versahen Twitter und Facebook den Beitrag mit Warnhinweisen, wonach der Beitrag gegen Integritätsregeln der Netzwerke verstoße, drückten sich jedoch um eine ausdrückliche Klarstellung, dass eine zweifache Stimmabgabe illegal ist.

Facebook kündigte außerdem an, in der Woche vor der Wahl keine neue Wahlwerbung mehr zuzulassen, die kurz vor der Stimmabgabe nicht mehr auf Richtigkeit überprüft werden könne. Spots, die schon vorher liefen, können jedoch weiter online bleiben. Und viele dieser Spots haben es in sich. In einem Fall wurde ein Zitat des demokratischen Trump-Herausforderers Joe Biden grob aus dem Zusammenhang gerissen, ein anderes Video, das direkt aus dem Weißen Haus versendet und millionenfach geteilt wurde, erweckte durch eine Montage den (falschen) Eindruck, dass Biden während einer Wahlkampfveranstaltung eingenickt sei.

Wie schon 2016 warnen die Geheimdienste vor gezielter russischer Einflussnahme auf die amerikanische Präsidentenwahl – und wie damals scheint Trump Putins Schützenhilfe gerne anzunehmen. Als Twitter im August ein Nutzerkonto wegen eines Beitrags sperrte, den die Geheimdienste als von Russland gesteuerten Charakterangriff auf Joe Biden identifiziert hatten, hatte Trump diesen Beitrag bereits mit seinen 85 Millionen Followern geteilt.

Vormarsch von QAnon

Mit der aufgeheizten Rhetorik steigt auch das Risiko politisch motivierter Gewalt. Im August löschte Facebook den Aufruf einer rechten militanten Gruppe zu bewaffneter Gewalt gegen Demonstrant*innen in Kenosha, Wisconsin erst einen Tag, nachdem ein 17Jähriger dort zwei Protestierende erschossen und eine weitere Person schwer verletzt hatte. Facebook-Chef Mark Zuckerberg sagte später, es gebe keine Beweise dafür, dass der Teenager den Aufruf der „Kenosha Guards“ gesehen habe, aber er gab zu, dass das Versäumnis, den Eintrag trotz mehrerer Warnungen von Nutzern früher zu löschen, ein „operativer Fehler“ gewesen sei. Trump weigerte sich derweil, die Tat des wegen Mordes angeklagten Schützen von Kenosha zu verurteilen, die Teile seiner Anhänger*innen als Akt der Selbstverteidigung feiern.

Facebook hat nach eigenen Angaben im zweiten Quartal dieses Jahres 22,5 Millionen Hass-Beiträge gelöscht, mehr als zehnmal so viele wie im gleichen Vorjahreszeitraum. Im August gab Facebook bekannt, dass es unter anderem 790 Konten der extremistischen Gruppierung QAnon von seiner Seite entfernt habe, die mit Gewalttaten in Verbindung gebracht und von der US-Bundespolizei FBI als einheimische Terror-Bedrohung eingestuft wird. Deren Anhänger*innen glauben, dass eine Gruppe von Satanist*innen, die einen Sexhandel mit Kindern betreiben (darunter bekannte Politiker*innen der Demokraten), die Weltherrschaft und den Sturz von Donald Trump anstrebt. QAnon hat über die Landesgrenzen der USA hinaus Erfolg. T-Shirts mit dem Buchstaben Q, dem Symbol der Bewegung, tauchen inzwischen auch bei Protesten gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie in Berlin auf. 

Debatte über Plattform-Regulierung

Diese Entwicklung hat der Debatte über eine Regulierung sozialer Medien auf beiden Seiten des Atlantiks neue Brisanz gegeben. In der EU wie in den USA wird über eine Änderung von Gesetzen aus der Frühzeit des Internet diskutiert, die die digitalen Plattformen von der Haftung für Informationen befreien, für die sie nur ein Forum herstellen. Deutschland hat mit dem NetzDG die Haftung der Plattformen für illegale Inhalte verschärft – was jedoch nach Sicht von Kritikern zulasten der Meinungsfreiheit gehen könnte. In den USA fordern Trump und einige Republikaner*innen umgekehrt, dass die Netzwerke, die sie der Zensur rechter Meinungen beschuldigen, für das Entfernen von Inhalten zur Verantwortung gezogen werden sollten.

Die meisten Expert*innen sind sich heute einig, dass die Plattformen keinen Freibrief mehr erhalten sollten. Doch raten sie, bei der Haftungsfrage nicht auf die Inhalte zu schauen, sondern auf deren Priorisierung und Präsentation. Durch die Algorithmen, die auf der Basis gesammelter Daten über die Präferenzen von Nutzer*innen entscheiden, welche Inhalte jemand zuerst sieht, haben sie ihre neutrale Vermittlerrolle verlassen. In der EU wie in den USA wird darüber diskutiert, welche Risiko-Management-Systeme Plattformen einführen sollten, um die virale Verbreitung schädlicher Inhalte zu stoppen, und wie viel Einblick sie in ihre algorithmischen Entscheidungsprozesse gewähren müssten, um eine unabhängige Überprüfung zu erlauben.

Die EU-Kommission will einige dieser Fragen in ihrem bis Jahresende erwarteten Entwurf für einen Digital Services Act klären. In den USA haben Demokrat*innen wie Republikaner*innen im Kongress die Plattformen im Visier, und Tech-Berater*innen der Biden-Kampagne stecken in diesen Tagen die Köpfe zusammen, um nach einem erhofften Sieg des Demokraten aktiv zu werden.

Im aktuellen Wahlkampf helfen diese Ideen jedoch wenig, und der Kampf gegen Desinformation und gegen die exponentielle Kraft der eigenen Algorithmen bleibt der Abwägung der Technologie-Konzerne überlassen. Deren größte Sorge ist mittlerweile ein Szenario, das Experten nicht für abwegig halten. In der Facebook-Zentrale im Silicon Valley wird an Notfall-Plänen für den Fall gearbeitet, dass Trump die Plattform in den Tagen nach der Wahl nutzt, um Zweifel an einem für ihn ungünstigen oder unklaren Wahlergebnis zu säen.