Das Herz Berlins

Essay

Die Grenze zwischen Fremdheit und Hiesigsein kann an ungeahnten Orten verschwimmen. Auf einem Neuköllner Friedhof trifft eine türkische Autorin auf Menschen, die ihr einen Zugang zur Stadt vermitteln.

Alevitischer Friedhof in Berlin
Teaser Bild Untertitel
“Ein Friedhof ist ein Durchgang. Auch für die Lebenden.”

Ein weiteres Mal trage ich meine Schritte vor die Haustür. Ich gehe fast jeden Tag spazieren, und meistens komme ich nirgendwo an. Aber ich hänge diesem seltsamen Glauben an, dass ich nur genug laufen müsste, um alles hinter mir zu lassen, was mich erdrückt. Unbemessene, ziellose Schritte jagen einander. Bin ich für immer hier, oder unterwegs kurz abgestiegen? Diese Frage verfolgt mich. Ich versuche, mich an dieser Stadt festzuhalten. Als Dramatikerin, als Feministin, als Lesbe, als Dissidentin, als Teil einer New Wave der Migration, mit jeder meiner Identitäten hab ich es versucht. Anzukommen, mich festzuhalten. Ich probiere es immer noch. Um mich wirklich in Sicherheit zu fühlen, brauche ich mehr als einen Ort, an dem ich die Namen der Gerichte auf der Karte aussprechen kann. Als gingen meine aufenthaltsrechtlichen Schwierigkeiten vorüber, wenn ich nur genügend Straßen überquere. Als wüchse meine Berechtigung, hier zu sein, mit jedem Mal, dass ich in eine mir unbekannte Straße einbiege und am Ende doch wieder weiß, wo ich bin. Als würde ich eine Hiesige, wenn ich nur irgendwann genügend Orte im Stadtraster kenne. Als fünde meine undefinierte Gekränktheit ein Ende, wenn ich nur ausreichend liefe. Aber dieses Mal habe ich ein Ziel. Es gibt einen alevitischen Friedhof an der Herrmannstraße, der mich anzieht wie ein Brunnenschacht, seit ich das erste Mal an dem Schild vorbeilief. Er ruft mich, und bisher tat ich immer so, als hörte ich seine Stimme nicht. Alevî Mezarlığı, Heimstätte derer, die zu unserem Gott zurückgekehrt sind. Heut ist sie mein Ziel.

Wozu ist ein Friedhof gut? Ich weiß es nicht. Ein gerader Weg fließt in den Friedhof hinein, so gerade, als wäre er mit einem Lineal gezogen worden. Menschen laufen rechts und links an mir vorbei wie auf einer belebten Hauptstraße. Manche sind in Gesprächen versunken, andere wollen sich einfach mal nur so umschauen, andere besuchen ein Grab, weil sie gerade in der Gegend waren. Dieser Friedhof lebt, denke ich unweigerlich. Aber es bleibt die Frage – während mich Bäume willkommen heißen, die auf beiden Seiten des Weges in den Himmel ragen –, wozu ein Friedhof gut ist. Die Hecken reichen mir bis an die Hüften. Was suche ich auf einem Berliner Friedhof?

Weg auf dem Alevitischen Friedhof
“Ein mit dem Lineal gezogener Weg fließt in den Friedhof hinein”.

Nach einem Weg von zwei Minuten spüre ich Blicke, die sich auf mich richten und zu lächeln scheinen. Rechts vom Weg, große und kleine Augenpaare. Sie fragen mich auf Deutsch.

Willst du auch essen? Lokma und Ayran?

Seit meiner Kindheit geht mir das so. Ich wirke fremd. Klar, jeder Mensch erscheint anderen Menschen fremd, aber ich bin viel zu müde von der Heimatlosigkeit, um immerzu unvoreingenommen freundlich zu sein. Ich bin hier keine Fremde. 

Türkçe biliyorum.

(Im Weiteren sprechen wir Türkisch.)

Ach, schön. Komm, iss mit uns. 

Ich bin eigentlich auch Alevitin… Aber arabische Alevitin. Nicht, dass ich mich jetzt damit besonders gut auskennen würde…

Ist doch egal. Komm her.

Diese ungeschminkte, umstandslose Einladung reißt mich aus meiner seltsamen Unruhe. Mir unbekannte Frauen rufen mich her, um Lokma mit ihnen zu teilen, und ich falle dieser Einladung in die Arme wie einer alten Freundin. Auf hölzernen Bänken sitzen Menschen, die alle einander ähnlich sehen. Bank an Bank. Zwischen ihnen toben Kinder, so bunt gekleidet, als wären sie aus einer Bonbontüte herausgepurzelt. Sie laufen herum, ohne sich um die Erwachsenen zu kümmern und verteilen ihr Juchzen großzügig in der Luft. Sie verschwinden hinter Grabsteinen und tauchen wieder auf, rufen einander auf Deutsch, auf Türkisch, auf Kurdisch Worte zu.

Möge die Person ewiges Leben finden.

Sage ich.

Mögen ihre Freund*innen wohlbehalten bleiben.

Sagen die Trauernden.

Seit ich in dieser Stadt angekommen bin, habe ich mich nirgendwo eingerichtet, aber hier ist auf einer Bank ganz außen noch ein Platz frei, als wäre er immer schon für mich bestimmt gewesen. Ich fühle mich sehr wohl. An dem Tag, da ich Istanbul verließ, hatte sich eine außerordentliche Trauer in meinem Körper breit gemacht. Jetzt erst ließ sie nach. Lokma, Ayran und Menschen taten mir gut. Tun mir gut. Die Menschen, die gerade eine geliebte Person verloren haben, erkundigen sich, wie es mir geht. “Zeit”, sagt eine von ihnen. “Mit der Zeit wird alles besser.” Ob sie es zu mir sagt oder zu den Angehörigen, vermag ich nicht zu unterscheiden. Vielleicht sagt sie es uns allen. Wir alle brauchen Zeit, um unsere Wunden heilen zu lassen, unwiederbringliche Verluste zu verkraften oder uns in einer Stadt einzurichten. “Wurzeln”, sagt eine andere Person. “Wo sie vergraben werden, dort sprießen die Knospen.” Die Sprechende nimmt ein Lokma in den Mund. “Schau mal, hier liegt mein Großvater und neben ihm meine Großmutter. Und die hier die ganze Zeit herumrennt und Steine nach den Jungs wirft, ist meine Tochter. Willst du noch ein Lokma? Wann bist du hergekommen?

Migration, Musik und Malerei haben eines gemein: Entweder füllen sie dein ganzes Leben aus, oder sie spielen überhaupt keine Rolle. Unsere Unterhaltung wird mehr oder weniger von unserer Lage bestimmt, und von unserem Zustand. Die Schule, auf die die Kinder gehen, der Segen, den das neue Geschäft bringt, die Schadensfälle, die die Versicherungspolice abdeckt, die Frage nach einer guten Anwältin, die Türkisch spricht, die Schwierigkeit, eine neue Wohnung zu finden. Wie es früher in Kreuzberg war, was die ersten Ankömmlinge alles ertragen mussten; dass den hier Geborenen immer noch andauernd vorgehalten wird, in der wievielten Generation sie einen Migrationshintergrund hätten. Wie es den jüngsten Ankömmlingen ergeht. Was mit unsrem Land los ist. Was nur mit unsrem Land los ist.

Berlin normalisiert sich. Lokma und Ayran sind alle.

Teşekkürler.

Dir sei gedankt, dass du unsern Schmerz geteilt.

Grab auf dem Alevitischen Friedhof
“Die Namen auf den Grabsteinen machen sichtbar, was mich mit diesen Menschen verbindet”.

Ich laufe einher zwischen den bescheidenen, neu bepflanzten Gräbern. Wer ihrer Schlichtheit gewahr wird, fühlt sich eingeladen, zu verweilen und zu schauen. In den 60er, 70er, 80er, 90er Jahren kamen Güllüzar und Hüseyin und Cemile und Ali und hier liegen sie jetzt und ich verstehe viel besser, was sie und mich miteinander verbindet. Es ist weder die Zeit noch der Boden. Es ist im Nachgang des sich beim Kauen im Mund dehnenden Lokma zu finden und des leicht bitteren Ayran, im Nachhall der Unterhaltung, die mich nicht loslässt. Und doch lässt es sich kaum in Worte fassen, was uns zueinander bringt.

Ich glaube, ein Friedhof ist ein Durchgang. Nicht nur für diejenigen, die nicht mehr unter uns sind. Auch für die Lebendigen. Ein Weg aus der Fremde ins Hiesigsein. Für diejenigen, die hier ihr Leben verbrachten, hier unter der Erde liegen, einst “Gäste”, dann “Ausländer”, dann “Mitbürger” waren, und für die Neuankömmlinge, öffnet der Friedhof seine Tore auf die Stadt.

Wäre ich in der Türkei jemals mit diesen Menschen zusammengetroffen? Ich glaube nicht. Hätte ich diesen Friedhof besucht, wenn ich keine Alevitin wäre? Ich glaube nicht. Vermutlich hätte ich ihn nicht einmal bemerkt. Es kommt mir komisch vor, aber ich habe selten darüber nachgedacht, was es heißt, Alevitin zu sein, und doch hat es in Berlin eine Wunde geheilt. Während meine anderen Identitäten ermüdet und ernüchtert sind vom Sich-an-der-Stadt-Festklammern, bereitet mein verwahrlostes Alevitentum mir in Berlin das Gefühl, zuhause zu sein.

Möglichkeiten tun sich auf dank der Menschen, die vor mir herkamen, die hierher gehören und mir hier ihre Gastfreundschaft erweisen. Die “Gastarbeiter”, Geflüchteten, Migrant*innen, die jahrelang darum kämpften, sich in Deutschland, in Berlin, niederzulassen, haben mir einen Weg gewiesen und mein Herz geöffnet. Mir scheint, ich könne hier Anteile von mir selbst finden, die ich in der Heimat verloren hatte. Und meine Geschichte ist nicht nur die des heutigen Tages. Sie beginnt mit den Menschen, die in den 1960er Jahren das westdeutsche Anwerbebüro in Tophane, Istanbul, betraten, um sich zu bewerben. Die ihre “Deutschlandpapiere” ausgestellt bekamen und umgehend vom Bahnhof Sirkeci aus auf eine dreitägige Zugreise aufbrachen, mit hölzernen Koffern, um Arbeit zu verrichten, die sonst niemand machen wollte. Die in den berüchtigten “Heimen” lebten, denen ihre Angehörigen von Schreibkundigen gegen Bezahlung Briefe aufsetzen ließen, die selbst alles taten, um ihren Antwortbriefen Bilder beilegen zu können. Und sie wird weitergehen mit denen, die nach mir kommen. Ich habe gelernt, den Herzschlag Berlins zu hören, oder mein Herz in Berlin schlagen zu hören. Ich gehe zum Ausgang. Zum ersten Mal, seit ich in Deutschland ankam, setze ich nicht nur Schritte auf den Boden, sondern meine Füße. Ich fasse Mut.

 

Aus dem Türkischen von Oliver Kontny.

>> Zur türkischen Version des Artikels auf der Webseite unseres Büros in Instanbul.