Brasilien: Die Zivilgesellschaft im Kampf gegen die Pandemie

Hintergrund

Aufklärungsarbeit, Spendenaktionen und die Versorgung mit dem Nötigsten – soziale Netzwerke dienen in Brasilien nicht nur der Verbreitung von Fake News.

Illustration "Die digitale Kluft überwinden"

Die mehr als eine halbe Million Toten der Corona-Pandemie haben in Brasilien Ratlosigkeit und tiefen Schmerz hervorgerufen. Hinzu kommen die Zweifel am richtigen Umgang der Regierung mit der Pandemie. Die brasilianische Zivilgesellschaft hat vor COVID-19 sehr erfolgreich politische Lobbyarbeit betrieben[1]. Beispiele hierfür sind das Gesetz «Maria da Penha», das Gewalt gegen Frauen als Straftat definierte, oder das Quotengesetz, das Aufnahmequoten für Studierende an öffentlichen Schulen sowie People of Color und Indigene an den Hochschulinstitutionen einführte. Dies zu erreichen, verlangte den zivilgesellschaftlichen Organisationen sehr viel physische Präsenz in politischen Räumen ab. Die Pandemie hat diese Arbeitsweise jäh unterbrochen.

Die Organisation Observatório de Favelas[2] reagierte auf die Pandemie als erstes mit der Aufklärungskampagne «Wie man sich vor dem Coronavirus schützt». Favelas und die Randbezirke von Rio de Janeiro sind wegen der hohen Bevölkerungsdichte und der prekären Grundversorgung deutlich anfälliger für die Ausbreitung der Krankheit sowie für die sozioökonomischen und die humanitären Folgen der Gesundheitskrise. Mit der Kampagne wollte die Organisation vor allem gegen Desinformation und die Verbreitung von Fake News vorgehen, da es vonseiten des Staates keine Präventionskampagnen gab.

Das Observatorium produzierte auf die Anwohner/innen der Randbezirke zugeschnittene Multimediastücke, die es über soziale Netzwerke und WhatsApp verbreitete. WhatsApp ist der in Brasilien beliebteste Messenger-Dienst und zählt dort mehr als 120 Millionen Nutzer/innen. Dank des Kommunikationskanals «Favelasap» erreichte die Aufklärungskampagne die Menschen direkt auf ihrem Handy. Von Vorteil war, dass dafür kein großes Datenvolumen erforderlich war, was in einem Land wie Brasilien, das erhebliche Probleme mit dem Zugang zum Internet hat, wichtig ist.

Das Observatorium führte noch zwei weitere Aktionen durch: Es druckte eine Informationsbroschüre und initiierte eine Kampagne, bei der auf den Straßen des Favela-Komplexes Maré mithilfe von Lautsprechern zur Vorsicht aufgerufen wurde. Dieses Projekt war so erfolgreich, dass andere Gegenden von Rio, und auch weitere Regionen Brasiliens, es kopierten.

Im Jahr 2021 wurde die Kampagne um Podcasts ergänzt und konzentriert sich nun darauf, die Anwohner/innen der Randbezirke über die Bedeutung der Schutzimpfung aufzuklären. Dieses Projekt wird von der Oswaldo-Cruz-Stiftung, eine der wichtigsten Forschungsinstitutionen im Bereich öffentliche Gesundheit Brasiliens, und von der Bundesuniversität von Rio de Janeiro gefördert.

Firewall gegen die Pandemie-Leugnung

Auch das unabhängige Kommunikationsnetzwerk Mídia Ninja entschied sich dafür, die gefährliche Pandemie-Leugnung der Regierung zu bekämpfen. Das Kollektiv investierte in Sensibilisierungskampagnen und richtete Dialogräume in den sozialen Netzwerken ein, wodurch es ein noch breiteres Publikum erreichte. Auf Instagram hat das Kollektiv mittlerweile mehr als 3,5 Millionen Follower/innen.[3]

Außerdem tat sich Mídia Ninja mit der Vereinigung der indigenen Völker Brasiliens (APIB) zusammen, um das jährlich stattfindende Camp der indigenen Völker «Acampamento Terra Livre» virtuell durchzuführen. Alle Treffen des fünftägigen Camps, bei dem die indigenen Völker von ganz Brasilien für ihre Rechte eintraten, wurden live übertragen, obwohl die Internetverbindung in einigen Ortschaften eine große Herausforderung darstellte. Raissa Galvão, eine der Herausgeberinnen von Mídia Ninja, glaubt zwar, dass der Boom für diese Art von Online-Formaten nun langsam zu Ende geht, dennoch hat es sich bei den sozialen Organisationen etabliert, da es mehr Menschen den Zugang zu Informationen ermöglicht und auch geografisch entfernte, aber interessensgleiche Gruppen verbinden kann.

Ein weiterer Erfolg von Mídia Ninja war die mit 1.000 Teilnehmenden extrem gut besuchte digitale «Konferenz für populäre Kultur», die Minister und Sekretäre für Kultur der Bundesstaaten und Gemeinden zusammenbrachte. Diese Veranstaltung wurde als sehr wichtig für die Mobilisierung zur Annahme des Gesetzes Aldir Blanc angesehen, einem Gesetz zur Nothilfe für den Kultursektor aufgrund der Corona-Pandemie.

Die Solidaritätsnetzwerke setzen ein Zeichen für das Leben

Im Pandemiejahr wurden auch sehr viele Spendenplattformen eingerichtet. Die Spenden erreichten einen historischen Wert von mehr als 6,5 Milliarden brasilianischen Real (circa 1 Mrd. Euro).[4] Die Organisationen und Kollektive versuchten durch ihre Aktionen, die Auswirkungen der Pandemie zu lindern, denn die hohe Inflation, die Arbeitslosigkeit und die Senkung der Nothilfen durch den Staat hatten die Zahl der hungerleidenden Menschen wieder auf ein seit 2004 nicht mehr dagewesenes Niveau ansteigen lassen. Das Brasilianische Forschungsnetzwerk für Ernährungssicherheit und -souveränität stellte fest, dass im letzten Quartal 2020 19,1 Millionen Menschen Hunger litten. Schwarze Frauen und ihre Familien waren hiervon besonders betroffen.

Aufgrund dieser prekären Situation bildeten sich in den Favelas und den Randbezirken Rios Verteidigungs- und Gemeindekomitees sowie Krisenkabinette, bei denen die Frauen eine führende Rolle einnahmen. Eine der Initiativen, das Krisenkabinett des im Norden von Rio de Janeiro liegenden Favela-Komplexes «Complexo do Alemão», konnte dank zahlreicher Spender/innen und 32 Freiwilligen ein halbes Jahr lang Lebensmittel, Masken und Hygienekits an über 54.000 Menschen verteilen.

Auch die Bewegungen auf dem Land reagierten schnell, um die Versorgung der dortigen Bevölkerung sicherzustellen. Es gab unterschiedliche Solidaritätsinitiativen und Aktionen, organisiert beispielsweise von der Landlosenbewegung (MST), der Bewegung der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen (MPA), der Bewegung der Obdachlosen (MTST) oder der Nationalen Vereinigung für Agrarökologie (ANA). So wurde beispielsweise die Online-Plattform Real Food Action (Ação comida de verdade) ins Leben gerufen, um die Arbeit von Solidaritätsnetzwerken im Bereich der Lebensmittelhilfe im ganzen Land zu kartieren. 300 Aktionen wurden aufgenommen und die Datenbank wird nun weiterverwendet, um die Beziehung zwischen Produzenten und Verbraucher/innen von Lebensmitteln zu analysieren und so auf besser abgestimmte öffentliche Politiken hinzuwirken.

Wie kürzlich veröffentlichte Studien zeigen, hat mehr als die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung weniger Lebensmittel zur Verfügung als in früheren Jahren. Dazu hat auch die pandemiebedingte Wirtschaftskrise beigetragen. Doch die schlechte Ernährungslage hat sich bereits unter Bolsonaro verschärft, der seit Anfang 2018 die öffentliche Politik für Ernährungssouveränität demontiert. Am stärksten betroffen ist hiervon die familiäre Landwirtschaft, obwohl sie für einen großen Teil der Lebensmittelproduktion für die brasilianische Bevölkerung verantwortlich ist.

Der Kampf gegen den Hunger in der Pandemie lag bisher in den Händen der Zivilgesellschaft. Noch immer gibt es eine lange Liste an Maßnahmen, die von der Politik mit hoher Priorität verfolgt werden sollten. Darunter der Zugang zu gesunden Lebensmitteln, ein verbessertes Essensangebot für Menschen mit wenig Einkommen, beispielsweise durch Restaurantes Populares[5], und der Direktverkauf von Lebensmitteln an die Verbraucher/innen. Dieser Vorschlag wurde insbesondere von der Bewegung der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen durch Nachrichten über WhatsApp vorangetrieben.

Die Stärkung der Agrarökologie wird von Experten und Expertinnen ebenfalls als eine mögliche Antwort auf den Hunger gesehen. Die Nationale Vereinigung für Agrarökologie  unterstützt daher die Initiative «Agrar­ökologie in den Kommunen». Zwei ihrer Hauptanliegen sind die Förderung der familiären Landwirtschaft und der Ernährungssicherheit sowie die Stärkung der Agrarökologie, um gegen den Einsatz von Pestiziden und anderer giftiger Chemikalien des Agrobusiness vorzugehen.

Der digitale Wandel startet schleppend

Die zivilgesellschaftlichen Organisationen haben schnell und wirkungsvoll auf die Krise reagiert. Obwohl der persönliche Kontakt für den Austausch sehr wichtig ist, brachte der Umstieg auf digitale Formate auch Vorteile. Bei Online-Veranstaltungen konnten die Organisationen ein breiteres Publikum erreichen und ihre Kommunikationsstrategie für digitale Plattformen verbessern.

Dennoch muss der digitale Wandel kritisch begleitet werden. Digitale Technologien beinhalten häufig soziale Bewertungen, die die Sichtweisen und Vorurteile der Entwickler widerspiegeln – in der Mehrheit also die weißer Männer. Ein Beispiel hierfür ist die Gesichtserkennung. Die Systeme erkennen die Gesichter von schwarzen Frauen oder Trans*Menschen häufiger fälschlicherweise positiv. [6]

Der digitale Wandel muss also auch einer Menschenrechtsperspektive gerecht werden. Das Jahr 2021 ist durch die Herausforderungen der Pandemie besonders komplex. So wird es weiterhin notwendig sein, innerhalb und außerhalb der Organisationen neue Aktionsformen zu suchen. 


[1] De Paula, Marilena: «Envolver-se é a única forma de enfrentar a realidade (Sich engagieren ist der einzige Weg, der Realität ins Auge zu sehen)», Zeitschrift Periferias, Heinrich-Böll-Stiftung Brasilien, Nr. 5, Brasilien, 2020 .Verfügbar unter: https://revistaperiferias.org/materia/fundacao-heinrich-boll/ (Zugriff am 20.10.2021).

[2] Organisation mit Sitz im Favela-Komplex Maré in Rio de Janeiro, in dessen Gemeinden 140.000 Menschen leben. Verfügbar unter: https://of.org.br/en (Zugriff am 20.10.2021).

[3] Oliveira, Filipe: «Facebook chega a 127 milhões de usuários mensais no Brasil (Facebook erreicht 127 Millionen monatliche Nutzer in Brasilien)», Folha de São Paulo, Brasilien, 2018. Verfügbar unter: https://www1.folha.uol.com.br/tec/2018/07/facebook-chega-a-127-milhoes-… (Zugriff am 20.10.2021).

[4] Polaz, Karen: «Filantropia e investimento social na pandemia: Respostas, Aprendizados e reflexões sobre o futuro (Philanthropie und soziale Investitionen im Zusammenhang mit der Pandemie: Antworten, Lehren und Überlegungen für die Zukunft», Grupo de Institutos, Fundações e Empresas (Gruppe von Instituten, Stiftungen und Unternehmen), Brasilien, 2021. Verfügbar unter: https://sinapse.gife.org.br/download/filantropia-e-investimento-social-…. (Zugriff am: 29.03.2021).

[5] A. d. Ü.: Restaurants, in denen gesunde und nährstoffreiche Gerichte insbesondere für einkommensschwache, sozial benachteiligte oder unter Ernährungsunsicherheit leidende Menschen angeboten werden. Da der Zutritt nicht auf diese beschränkt ist, wird der Preis auf die finanziellen Möglichkeiten der Gäste abgestimmt.

[6] Guedy, Erly: «Reconhecimento Facial e suas intersecções com a diversidade de gênero, raça e território (Gesichtserkennung und ihre Auswirkungen auf Geschlecht, Ethnie und territoriale Vielfalt)», Coding Rights, 2021. Verfügbar unter: https://medium.com/codingrights/from-devices-to-bodies-reconhecimento-f… (Zugriff am 20.10.2021). (Anm. d. Red.: Das System wurde überwiegend mit Daten von Männern und Frauen mit weißer Hautfarbe trainiert, es kann nicht gut zwischen mehreren schwarzen, asiatischen und Trans* Menschen unterscheiden.)


Übersetzung aus dem Brasilianischen: Kirsten Grunert

Dieser Artikel ist Bestandteil des Dossiers Cybergesetze, Bitcoins und Empowerment: Demokratie und digitaler Wandel in Lateinamerika