Neuer Präsident Kolumbiens erstmals mit grün-sozialdemokratischer Agenda

Interview

Bei der Wahl in Kolumbien konnte das links-progressive Bündnis vor allem Nicht-Wähler/innen überzeugen. Ein historischer Sieg.

Gustavo Petro
Teaser Bild Untertitel
Gustavo Petro und Francia Márquez feiern ihren Sieg am 19. Juni in Bogotá.

50,44 % der Stimmen der Wahl in Kolumbien fielen auf Gustavo Petro und Francia Márquez vom links-progressiven Bündnis „Pacto Histórico“. Damit können sie die neue kolumbianische Regierung ab dem 7.  August 2022 bilden. Márquez ist dann die erste afrokolumbianische Vizepräsidentin des südamerikanischen Landes. Zusammen erhielten sie 700.000 Stimmen mehr als Rodolfo Hernández (47,31%) und Marelen Castillo vom Verband „Liga de Gobernantes Anticorrupción“. Die Wahlbeteiligung war mit 58 Prozent die höchste der letzten 20 Jahre. Verglichen zum ersten Wahlgang am 29. Mai gaben nochmal 1,2 Millionen Kolumbianer/innen ihre Stimme ab. Der Wahlkampf fand unter extrem polarisierten Bedingungen statt - inmitten hoher Inflationsraten, steigender sozialer Unzufriedenheit und einer zunehmend prekären Sicherheitslage.

Bangen bis zum letzten Tag: Der Sieg am 19. Juni 2022 war historisch

Yann Basset, Professor der Fakultät für Internationale Beziehungen, Politikwissenschaften und urbane Studien der Universität Rosario in Bogotá, Kolumbien hat die Stichwahl begleitet und berichtet im Interview mit der Heinrich-Böll-Stiftung.

Wie war die Stimmung am Wahltag?

Die Kampagne zur Präsidentschaftswahl war sehr lang und zermürbend. Vor allem der Wahlkampf nach dem ersten Wahlgang vor der Stichwahl war schmutzig. Alle Kandidaten versuchten, die anderen durch mehr oder weniger erfundene kleine Skandale zu diskreditieren. Die Umfragen sahen Rodolfo Hernández am Abend des ersten Wahlgangs am 29. Mai als wahrscheinlichen Sieger. Dieser Vorsprung wurde aufgrund zahlreicher Fehler von Hernández jedoch schnell wieder aufgeholt. So kam es, dass die Umfragen eine Woche vor dem zweiten Wahlgang ein technisches Unentschieden anzeigten. In den Umfragen wurde zudem ein sehr hohes Maß an Unsicherheit unter den Wählern festgestellt, da beide Kandidaten auf großen Widerstand stießen. Diese Ungewissheit verschärfte die Spannungen zwischen den Lagern, ebenso wie die unglückliche Einmischung mehrerer Medien in den Wahlkampf, die versuchten, den jeweils gegnerischen Kandidaten zu untergraben.

Welche Rolle spielte die nationale Wahlbehörde?

Die Ungeschicklichkeit der nationalen Wahlbehörde verschärfte die Spannungen. Die Wahlbehörde veröffentlichte am Vorabend zur Stichwahl ohne jeglichen Kommentar Ergebnisse einer Testwahl. Dies führte zu Verwirrung.  Die Wahlbehörde konnte nicht erklären, dass es sich um eine Simulation handelte, die von ihrem für die Auszählungssoftware zuständigen Auftragnehmer durchgeführt worden war. Das heizte die die Spekulationen über möglichen Wahlbetrug an. Schon bei den Parlamentswahlen im März hatte Wahlbehörde eine Million Stimmen zugunsten der Linkskoalition versäumt, in die Vorauszählung einzubeziehen, so dass diese Stimmen bei der endgültigen Auszählung nachgezählt werden mussten. Dies ließ in verschiedenen politischen Kreisen Zweifel aufkommen, ob diese Stimmen absichtlich "vergessen" worden waren oder ob sie unrechtmäßig "erschienen". Das Misstrauen gegenüber der Wahlbehörde war also Teil der Spannungen. Am Vorwahlabend versprach Rodolfo Hernández, die Ergebnisse zu akzeptieren, während Gustavo Petro sich damit begnügte, zur Ruhe aufzurufen und ankündigte, die Ergebnisse notfalls auf dem Rechtsweg anzufechten.

Das Wahlergebnis war sehr knapp und es wurde nicht erwartet, dass Petro gewinnt. Man nahm an, dass Petro sein Wählerpotenzial bereits im ersten Wahlgang ausgeschöpft hatte. Wie gelang ihm nun der Sieg?

Einige gingen nach dem ersten Wahlgang am 29. Mai fest davon aus, dass Rodolfo Hernández als Sieger aus der Stichwahl am 19. Juni hervorgehen würde. Zusammen mit den Stimmen des erfolglosen Kandidaten der Rechten, Federico Gutiérrez (Partei „Movimiento Creemos Colombia“), erwartete man, dass er eine komfortable absolute Mehrheit erreichen würde. Man nahm an, dass Gustavo Petro keine Stimmreserven mehr zu haben schien. Diese Berechnungen erwiesen sich jedoch als falsch.

In Wirklichkeit lag der Schlüssel zum Sieg von Gustavo Petro in der Mobilisierung von Nichtwählern, insbesondere in Regionen, in denen er bereits eine Mehrheit hatte, wie z.B. an der Karibik- und Pazifikküste.

Wie kamen die Stimmen für Rodolfo Hernández zusammen?

Rodolfo Hernández konnte die Stimmen der Rechten in den ländlichen Gebieten auf sich vereinen. Dies gelang ihm nicht in den Großstädten. In einigen Fällen, wie z. B. in Medellín, einer Hochburg der Rechten, gab es im nationalen Vergleich eine niedrigere Wahlbeteiligung. Dort sind nicht alle rechten Wähler zur Wahl gegangen. Andernorts hat Hernández nach einem besonders unglücklichen Wahlkampf im zweiten Wahlgang möglicherweise einige seiner eigenen Stimmen verloren.

In der Tat weigerte sich Hernández zwischen den beiden Wahlgängen, an Debatten teilzunehmen oder gar öffentlich aufzutreten. Er blieb auf seiner Finca und hoffte, dass die Stimmen der Rechten automatisch für ihn zählen würden. Dies war wahrscheinlich ein Fehler. Die städtischen Wähler sind nachrichtenbewusster und kampagnensensibler und haben ihn für dieses Verhalten bestraft.

Außerdem hat Hernández nach den ersten Wahlgängen sehr unpassende Äußerungen gemacht, vor allem über Frauen, und damit ein Macho-Konzept offenbart, das ihn bei dieser Wählerschaft an Boden verlieren ließ.

Schließlich litt das Image von Hernández stark unter den Skandalen, die ihm sein neuer Status als Wahlfavorit in den Medien einbrachte. Die Medien lenkten die Aufmerksamkeit auf den Vitalogic-Skandal, einen Korruptionsfall im Zuge eines öffentlichen Auftrags während Hernández' Zeit als Bürgermeister von Bucaramanga. Hernández‘ Sohn wurde begünstigt. Diesem Korruptionsproblem konnte ein Kandidat, der sich die Korruptionsbekämpfung auf die Fahnen geschrieben hat, nur sehr schwer ausweichen.

Der Oppositionskandidat Rodolfo Hernández hat seine Niederlage bereits eingestanden und der ehemalige Präsident Álvaro Uribe hat das Ergebnis ebenfalls akzeptiert. Der derzeitige rechte und konservative Präsident Iván Duque sicherte einen harmonischen, institutionellen und transparenten Übergang zu. Was hat die Rechte dazu veranlasst, den Sieg von Petro so schnell anzuerkennen?

Ich denke, Petros Sieg war so eindeutig, dass er nicht angefochten werden konnte. Darüber hinaus markieren diese Wahlen einen wichtigen Moment der Umgestaltung der Rechten, in dem die Wortführer vor allem an die Zukunft denken. Iván Duque und Álvaro Uribe können den Weg für die Zukunft der Rechten ebnen. Ein Sieg von Hernández hätte bedeutet, dass er die Führung dieser Tendenz hätte beanspruchen und ihr seinen Stempel aufdrücken können, indem er sich vielleicht vom Uribismus distanziert hätte. In der Opposition ist es für ihn schwieriger, denn es ist nicht einmal klar, ob er die Führung der Opposition übernehmen will. Damit ist das Feld wieder frei für den Uribismus, der die Geschicke der Rechten erneut beeinflussen kann.

Was erwarten Sie für die Stimmung im Land in den nächsten Tagen? Gibt es Angst vor dem neuen Präsidenten und sind diese Ängste gerechtfertigt? Wer hat etwas zu befürchten?

Gustavo Petro hat bei den Eliten und darüber hinaus stets großen Widerstand hervorgerufen. Natürlich ist da seine Vergangenheit als Guerillakämpfer, auch wenn diese für die meisten Kolumbianer nach einer langen politischen und legalen Karriere, in der die Verfassung stets geachtet wurde, etwas weit Entferntes und Überholtes ist. Es besteht auch der Glaube, dass durch ihn das Land eine ähnliche Erfahrung wie Venezuela machen könne. Meiner Meinung nach ist dies vor allem auf die Unkenntnis dessen zurückzuführen, was den Chavismo und die kolumbianische Linke voneinander trennt, sowie auf die unterschiedlichen Zeitpunkte, zu denen Chávez und Petro an die Macht kamen, und auf den institutionellen und kulturellen Kontext der beiden Länder. Tatsache ist, dass es in Kolumbien nie eine Erfahrung mit einer linken Regierung gab und viele Kolumbianer dazu neigen, das Unbekannte auf das Bekannte zu reduzieren, d.h. auf die Erfahrung des Nachbarlandes. Natürlich entspricht der Vorwurf des Chavismo rechter Propaganda. Doch es stimmt, dass Petro zu Beginn seiner politischen Karriere wie viele führende Vertreter der lateinamerikanischen Linken eine gewisse Sympathie für Chávez hegte.

Also sind diese Sorgen begründet?

Eine wahrscheinlich zutreffendere Befürchtung hat mit dem Stil von Gustavo Petro zu tun. Er ist eine Führungspersönlichkeit mit einem sehr vertikalen, manchmal autoritären Stil, die dazu neigt, sich mit jedem Verbündeten auch anzulegen. Er umgibt sich mit bedingungslosen Anhängern, die ihn nicht in Frage stellen. Er ist auch eine Führungspersönlichkeit mit einem aggressiven Stil sowie einem populistischen Diskurs, der sich leicht mit seinen Gegnern, aber auch mit Vertretern der sozialen Sektoren oder der Medien anlegen kann. Es besteht eine gewisse Sorge, dass diese Tendenzen in eine antiliberale Richtung abdriften könnten. Seine Zeit als Bürgermeister von Bogotá lässt in dieser Hinsicht gewisse Zweifel aufkommen.

Schließlich gibt es noch die sozialen und wirtschaftlichen Interessen, dessen Vertreter befürchten betroffen zu sein. Der Rentenreformvorschlag von Gustavo Petro wurde von der Gewerkschaft der Unternehmen, die die Rentenfonds verwalten, heftig kritisiert, obwohl er auf ähnlichen Grundsätzen beruht wie die Vorschläge renommierter Wirtschaftswissenschaftler. Dies würde den Übergang zu einem Säulensystem mit einer ersten Säule eines Umlagesystems und einer zweiten Säule der Kapitalisierung bedeuten. Derzeit können die Kolumbianer zwischen einem staatlich verwalteten Umlagesystem und einem privat finanzierten System wählen. Die Finanzgewerkschaften befürchten, die Verwaltung der Rentengelder der Kolumbianer zu verlieren.

Wo wird die Umsetzung von Petros politischen Projekts wirklich schwierig?

Das Schwierigste für Gustavo Petro ist, dass er keine linke Mehrheit im Kongress hat. Er schlägt ein Programm mit tiefgreifenden strukturellen wirtschaftlichen und sozialen Reformen vor. Auch wenn sein Bündnis „Pacto Histórico“ die Linke sowohl im Senat als auch in der Abgeordnetenkammer auf ein noch nie da gewesenes Niveau gebracht hat, so stellt sie doch nicht mehr als 25% der jeweiligen Versammlung. Gustavo Petro wird daher mit der Mitte-Links-Koalition „Esperanza“ verhandeln müssen, deren führende Vertreter ihn in der zweiten Runde mehrheitlich unterstützten Auch wird er mit der traditionellen liberalen Partei, die er während des Wahlkampfs erfolglos anzusprechen versuchte, in Kontakt treten müssen. Der Generalsekretär der Liberalen Partei, César Gaviria, unterstützte schließlich Federico Gutiérrez im ersten und Rodolfo Hernández im zweiten Wahlgang.

Petro hat sich eindeutig verhandlungs- und kompromissbereit gezeigt. Dies ist nicht sein üblicher Stil, aber das wird sicherlich bedeuten, dass er viele seiner Vorschläge aufgeben oder modifizieren muss.

Dahinter verbirgt sich auch die Frage nach seinen Beziehungen zu wichtigen Kräften in der kolumbianischen Gesellschaft, wie den bereits erwähnten Wirtschaftssektoren sowie dem Militär. Der Befehlshaber der Armee hat Gustavo Petro während des Wahlkampfes in einer in Kolumbien noch nie dagewesenen Weise offen kritisiert. Das lässt auf ein angespanntes Verhältnis schließen, obwohl die Streitkräfte im Allgemeinen institutionalistische Positionen vertreten.

 


Yann Basset hat an der Université Paris III - Sorbonne Nouvelle in Politikwissenschaften promoviert. Er ist Politikwissenschaftler an der Sciences Po Bordeaux und hat einen Master-Abschluss in den europäisch-lateinamerikanischen Wirtschaftsbeziehungen. Er ist Professor an der Fakultät für internationale, politische und urbane Studien an der Universidad del Rosario, Kolumbien und seit 2012 Direktor der Gruppe für Demokratiestudien DEMOS-UR an derselben Einrichtung. Er ist Autor mehrerer Bücher und Veröffentlichungen über Wahlen und politische Parteien in Lateinamerika und insbesondere in Kolumbien.

 

Bereits am 15. Juni 2022 nahm Yann Basset an einer Online-Diskussion zu den Präsidentschaftswahlen in Kolumbien der Heinrich-Böll-Stiftung teil.

 

Präsidentschaftswahlen in Kolumbien: Hoffnung auf einen historischen Wandel - Heinrich-Böll-Stiftung

video-thumbnailDirekt auf YouTube ansehen