Brasilien: Warum Agro nicht Pop ist

Interview

Millionen Brasilianer*innen sind von Ernährungsunsicherheit betroffen. Wir sprachen mit Pedro Vasconcelos Rocha, von FIAN Brasilien, über Landwirtschaft in Brasilien und die brasilianische und deutsche Pestizidlobby.

Ein Feld mit Bewässerungsanlage

Was erhoffst du dir von einem Exportverbot von Pestiziden aus Deutschland bzw. Europa? Welche positiven Auswirkungen hätte ein solches Verbot für die Menschen in Brasilien, v.a. Landarbeiter*innen und indigene oder Quilombola Gemeinschaften?

Zunächst ist es für uns erstmal ein positives Zeichen für die Gleichbehandlung, denn wir Brasilianer*innen bekommen von den Pestiziden genauso Krankheiten wie die Europäer*innen. Die Aussage der Unternehmen, dass es in tropischen Ländern mehr Pestizide für eine erfolgreiche Landwirtschaft bräuchte als in europäischen Ländern, ist nicht zielführend. Der Boden, der verseucht wird, verseucht letztlich auch die Europäer*innen, da die auf den Boden produzierten Produkte nach Europa exportiert werden. Es ist für Europäer*innen nicht leicht festzustellen, welche unsichtbaren Bestandteile auf ihren Tellern landen. Es ist aber nachgewiesen, dass italienischer Grana Padano beispielsweise Spuren von Pestiziden aus Brasilien enthält. Die Tiere von denen der spanische Schinken kommt, wurden mit brasilianischen Soja gefüttert, für das sehr wahrscheinlich neben Gentechnik auch Pestizide zum Einsatz kamen. Der Schritt, bald keine verbotenen Pestizide mehr in andere Länder zu exportieren, der von der deutschen Regierung angekündigt wurde, ist daher von entscheidender Bedeutung. Denn die deutschen Unternehmen Bayer und BASF mischen im Pestizidhandel ganz vorne mit. In Brasilien symbolisieren sie einen ethisch fragwürdigen Handel. Einen Handel, der nur mit Gewalt und mit Pestizid-Besprühungen aus der Luft funktioniert. Die Menschen in der Umgebung der mit Bayer oder BASF Produkten bewirtschafteten Felder leiden unter gesundheitlichen Folgen wie genetisch bedingten Missbildungen oder Krebs.  Und sie sind nicht die einzigen in Brasilien aktiven Unternehmen.

Deutsche Lobbyarbeit in Brasilien?

In Brasilien hat das Institut PensarAgro - mit der  finanziellen Förderung deutscher Unternehmen - Änderungen der brasilianischen Umweltgesetzgebung erwirkt. Deutsche Lobbyisten versuchen aus meiner Sicht Einfluss auf das brasilianische Gift-Gesetzespaket (PL 6299) zu nehmen. Dazu wollte ich in Deutschland mehr Informationen erhalten, doch leider hat das nicht geklappt.

FIAN Brasil erwartet von Deutschland einen ehrgeizigeren Vorschlag für das Exportverbot von Pestiziden, ein Vorschlag, der Engagement und ethische Verantwortung signalisiert. Wir fordern insgesamt mehr Transparenz in Bezug auf die Verkäufe und Exporte dieser Produkte. Einige Produkte fallen in Deutschland nicht unter die Regulierung. Wir müssen wissen, welche Stoffe in Deutschland nicht reguliert sind um sie ggfs. in Brasilien regulieren zu können. Denn wir wissen nicht, was die Produkte hier anrichten können oder wie sie weiterverwendet werden. Wir möchten von deutschen Parlamentarier*innen wissen, wie es ihnen gelungen ist, bestimmte Pestizide in Deutschland zu regulieren, um von ihnen für unsere Lobbyarbeit in Brasilien zu lernen. Denn hier wird aktuell der Einsatz von Pestiziden, die Umweltgesetzgebung sowie der Bergbau auf indigenen Territorien flexibilisiert.

Für uns ist auch wichtig, ob Verbote nur für fertige Pestizidprodukte oder auch einzelne Wirkstoffe gelten. Brasilien verfügt über eigene Produktionskapazitäten: d.h. wenn nur fertige Produkte verboten werden und weiterhin Wirkstoffe exportiert werden, hilft uns das wenig. Auch die durch die Produkte verursachten Umweltprobleme müssen stärker anerkannt werden.

FIAN Brasil arbeitet in vielen Bereichen, die mit dem Menschenrecht auf angemessene Nahrung und Ernährung zusammenhängen. Wir machen Lobbyarbeit um Verstöße gegen diese Rechte anzuprangern und deren Umsetzung zu garantieren.  Das passiert immer in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen. Die Guarani Kaiowá begleiten wir seit 2005, u.a. auch durch juristische Unterstützung.

Deutsche Unternehmen sagen bei Problemen oder Schäden, brasilianische Landwirt*innen würden ihre Produkte nicht richtig anwenden. Doch in Wahrheit verkaufen sie Produkte, die wie chemische Waffen von der Luft aus etwa auf Indigene gesprüht werden. Diese Wirkstoffe lassen sich heute in unseren Flüssen und in unserem Trinkwasser finden. Auch hier in Deutschland gibt es Verantwortliche, die eigentlich wissen, dass die Stoffe gesundheitsschädlich sind und deshalb hier verboten worden sind.

Wir arbeiten auch an der Frage der Unternehmensverantwortung, insbesondere der transnationalen Unternehmen, die in Brasilien und weltweit tätig sind. Gemeinsam mit der brasilianischen Zivilgesellschaft arbeiten wir am Gesetzesentwurf 572/22, ein brasilianisches Lieferkettengesetz, das eine Regelung zwischen Menschenrechten und Unternehmen vorschlägt, mit Schwerpunkt auf transnationale Unternehmen. Die Wirtschaftslobby in Brasilien ist sehr mächtig und versucht das Projekt zu stoppen. Wir vernetzen uns mit anderen lateinamerikanischen und internationalen, z.B. asiatischen Akteuren. Die Europäische Union hat signalisiert, dass sie eine unterstützende Haltung einnehmen wird. Auch ein Vorschlag über entwaldungsfreie Lieferketten wird derzeit diskutiert. Es ist wichtig, dass Fragen der Entschädigung und Wiedergutmachung klar definiert sind, nicht wie z.B. im Fall Rio Doce , wo bis heute noch nach Verantwortlichen gesucht wird. Die wichtigsten Grundsätze sind: Vorbeugung, Transparenz, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung. Die Konsultation indigener Völker sollte eine Leitlinie sein. Die Debatte um die Rechenschaftspflicht kann bei all dem Druck also vielleicht doch Erfolg haben. Die Sorge um die Rechenschaftspflicht darf nicht nur eine Sache des globalen Südens sein.

Wie ist der Stand der Einführung einer nationalen Politik zur Reduzierung von Agrargiften in Brasilien?

Wir haben einen Kampf und eine große Koalition gegen die Gesetzesinitiative 1459/22 (das ‚Giftpaket‘, wie wir es nennen) gebildet und um internationale Unterstützung gebeten. Die UN-Sonderberichterstatter für die Auswirkungen giftiger Substanzen und Abfälle auf die Menschenrechte, Baskut Tuncak, sowie zum Recht auf Nahrung, Michael Fakhri, betrachteten in einer Stellungnahme das Projekt mit großer Sorge. Das Gesetz würde die brasilianischen Rechtsvorschriften flexibilisieren - und das obwohl Brasilien in den letzten Jahren bereits eine Rekordzahl von Pestiziden zugelassen hat. Im Register soll die Angabe von krebserregenden und hormonell gefährlichen Stoffen entfernt und nur eine Risikokategorie genutzt werden. Auch soll der Name „Pestizid“ zu „Pflanzenschutzmittel“ geändert werden. Es kommt zu keiner regelmäßigen Überprüfung der Register, sodass die Gefahr besteht, dass Pestizide auf unbestimmte Zeit freigegeben werden. Die Sorge um dieses Gesetzespaket haben wir bereits vielfach zum Ausdruck gebracht und zuletzt dem Landwirtschaftsausschuss vorgelegt. In der Abgeordnetenkammer beobachten wir parallel eine schrittweise Reduzierung der Förderung der Agrarökologie.

Warum ist die Agrarökologie eine Alternative und wie kann sie gestärkt werden?

Mit dem Slogan „Agro ist Pop“ wird eine bestimmte Vision, wie man Landwirtschaft betreiben sollte, populär gemacht. Dieses Landwirtschaftsmodell verschafft nur einigen wenigen Menschen in Brasilien ein Einkommen und ernährt schon gar nicht die brasilianische Bevölkerung. Derzeit leiden 33 Millionen Brasilianer*innen an schwerer Ernährungsunsicherheit. 125 Millionen Brasilianer*innen sind in irgendeiner Form von Ernährungsunsicherheit betroffen. Familien mit Kindern sind besonders auf das bereits erwähnte Schulspeiseprogramm angewiesen. Für viele brasilianische Kinder ist das Essen in der Schule das einzige Essen am Tag. Weil es in der Schule etwas zu essen gibt, haben wir es geschafft das Alphabetisierungsniveau und den Schulbesuch hoch zu halten. Es ist natürlich ein ernstes Problem, wenn ein Kind zur Schule geht, nur, weil es Hunger hat. Agro ist nicht Pop. Es ernährt die brasilianische Bevölkerung nicht. Das Agrobusiness macht auf dem Rücken der Bevölkerung Geld.

Die brasilianische Zivilgesellschaft pocht daher auf ein anderes landwirtschaftliches Modell: die Agrarökologie. Die Agrarökologie geht gut mit der Landwirtschaft und dem Boden um und handelt ökologisch verantwortlich. In den verschiedensten Regionen des Landes befassen sich die Menschen mit neuen landwirtschaftlichen Modellen und gründen Netzwerke. Indigene Völker setzen sich mit dem Thema Agroforstwirtschaft auseinander. Die Bewegung ‚Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra‘, sprich die landlosen Arbeiter*innen, ist erwähnenswert: sie sind der größte Produzent von Bio-Reis in Lateinamerika. Es wäre toll, wenn wir noch mehr nationale und internationale Unterstützung für dieses Vorhaben hätten. Denn in Brasilien gibt es seit langem keine starke agrarökologische Politik mehr. Während der PT-Regierungen gab es Initiativen für nationale Pläne – doch sie sind schließlich an der Umsetzung gescheitert. Grundsätzlich wurde einem anderen landwirtschaftlichen Modell der Vorzug gegeben, doch es konnten einige Maßnahmen zugunsten von kleinbäuerlichen Betrieben durchgeführt werden.

Die Umwelt sowie die Beteiligung derer, die sich für sie einsetzen, sollte stärker in den Mittelpunkt rücken.

Pedro Vasconcelos Rocha ist Advocacy Advisor ist seit Februar 2022 bei FIAN Brasilien. Er ist Politikwissenschaftler und hat einen Master in ländlicher Entwicklung. Seine politischen und akademischen Erfahrungen liegen in den Bereichen Landwirtschaft, Ernährung, Umwelt und Territorium. FIAN beteiligt sich in Brasilien an verschiedenen zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüssen wie dem Bündnis für angemessene und gesunde Ernährung, der Kampagne gegen Pestizide und für das Leben sowie der Beobachtungsstelle für Schulspeisen.

Erzähl uns doch etwas genauer über das brasilianische Schulspeiseprogramm.

Wir haben im brasilianischen Kongress viel Lobbyarbeit für das staatliche Schulspeiseprogramm, Programa Nacional de Alimentação Escolar PNAE, gemacht und konnten dadurch viel Aufmerksamkeit in den Medien erhalten.

Das Programm gibt es bereits seit den 1960er Jahren und ist für viele andere Länder ein Vorbild. Denn: 40 Millionen Kinder und Jugendliche werden in staatlichen Bildungseinrichtungen mit kostenlosen Mahlzeiten verpflegt, die die biopsychosoziale Entwicklung stärken. Das Programm wurde in der Vergangenheit von der Zivilgesellschaft reguliert und wir hatten Zugänge zum Nationalen Rat für Lebensmittelsicherheit und Ernährung (Conselho Nacional de Segurança Alimentar e Nutricional CONSEA).

Das Ergebnis unseres Kampfes war unter anderem, dass der Staat sich seit 2009 dazu verpflichtete, mindestens 30% der Lebensmittel für die Schulspeisen aus kleinbäuerlichen Betrieben zu kaufen. Die Lebensmittel, die an die Schulen geliefert werden, sollen auch einen kulturellen Bezug zur Region haben, so die Rechtsvorschriften des Programms. Was die Kinder und Jugendlichen zu essen bekommen, entscheiden Fachkräfte. Die Milchlobby möchte beispielsweise mitmischen - das ist für die Regionen mit vielen Milchrindern sinnvoll, nicht aber für die Amazonasregion, denn wie soll hier in großen Mengen Milch geliefert werden? Man kann doch nicht einfach Lebensmittel aus dem Süden Brasiliens nehmen, die keinerlei Verbindung zu einer indigenen Gemeinde im Amazonasgebiet haben.

Die Zeiten haben sich in den letzten Jahren, besonders unter der Regierung Bolsonaro auch geändert:  Brasilien leidet derzeit unter einer hohen Inflation. Ernährungsunsicherheit ist ein großes Problem.  Schon vor dem Krieg in der Ukraine und vor der Pandemie waren gute, biologische und qualitativ hochwertige Lebensmittel aus dem agrarökologischen Familienanbau teuer. Es fehlte zuletzt an Geld und politischem Willen für die Umsetzung dieses gigantischen Schulspeiseprogramms. Die regionalen, gesunden Lebensmittel wurden dann ausgetauscht, sodass unsere Kinder und Jugendlichen heute teils hoch verarbeitete Lebensmittel oder lediglich Kekse essen, die unter anderem chronische Krankheiten verursachen können.

Wie siehst du den EU-Mercosul Deal?

Für uns ist es Priorität den EU-Mercosul Deal von einer Menschenrechtsperspektive anzugehen. Soweit wir wissen, gibt es im internationalen Recht einen Grundsatz der besagt, dass die Menschenrechte Vorrang vor anderen Arten von Verträgen haben. Wenn diese Art von bilateralen und multilateralen Verträgen vorgeschlagen werden, besteht die Gefahr, dass der damit verbundene Ehrgeiz dazu führt, dass dieser Grundsatz in Vergessenheit gerät. Wir haben es also im EU-Mercosur mit sehr niedrigen Menschenrechts- und Umweltstandards zu tun. So haben wir beispielsweise die Frage des Verbots der Ausfuhr von in der Europäischen Union verbotenen Pestiziden als wichtige Bedingung für den Fortgang dieses Vertrages genannt. Die Tendenz des Abkommens bisher geht dahin, den Export von Pestiziden von Europa nach Lateinamerika weiter zu steigern, einschließlich derer, die hier verboten sind. Dieser Vertrag wurde im Rahmen des derzeitigen dominanten Modells der industriellen Landwirtschaft und der Rohstoffproduktion geschlossen. Der Vertrag senkt die Anforderungen auf ein Minimum. Es besteht eine große Chance, dass dieser Vertrag durch Brasiliens neue Regierung ratifiziert wird - eine Regierung, die ein größeres Interesse an einer privilegierten internationalen Position hat.

Neue Regierung Lula da Silva

In den vorherigen Regierungen Lula da Silvas (2003-2011) gab es ein Maßnahmenpaket mit ökonomischen und steuerrechtlichen Vorschlägen, die auch die Ernährungssicherheit sowie den Mindestlohn enthielten. Unter Bolsonaro war das einzige Paket eine Gassubvention, diese läuft Ende des Jahres aus.

Unter Lula da Silva gab es ein Ministerium für Export-Landwirtschaft (Ministério da Agricultura) und ein Ministerium für landwirtschaftliche Entwicklung (Ministério de Desenvolvimento Agrário) – in dem auch die Agrarökologie gefördert wurde. Dieses Ministerium wurde bereits unter Temer aufgelöst. Im Transitionsprozess hat Lula da Silva drei Arbeitsgruppen eingerichtet: eine zu indigenen und traditionellen Völkern, eine zu Landwirtschaft (Teilnehmende: Vertreter*innen des Agrobusiness) und die dritte zu landwirtschaftlicher Entwicklung (Teilnehmende: Gewerkschafter*innen, Landlosenbewegungen).

 


Das Interview wurde am 20. Oktober 2022 in Berlin geführt.