Mit uns sind zentrale gesellschaftliche Diskurse verknüpft

Interview

Imme Scholz und Jan Philipp Albrecht bilden seit dem Frühsommer 2022 den neuen Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Im gemeinsamen Gespräch geht es um die Rolle der Heinrich-Böll-Stiftung in Zeiten von grüner Regierungsbeteiligung, Krieg und Klimakrise. Und um Heinrich Böll. Das Gespräch führte Vera Lorenz.

Imme Scholz und Jan Philipp Albrecht stehen nebeneinander.
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Der Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung: Imme Scholz und Jan Philipp Albrecht

Die Heinrich-Böll-Stiftung ist ja eine im Vergleich zu anderen politischen Stiftungen eher kleine politische Stiftung. Was ist ihre Rolle?

Imme Scholz: Gerade der Angriff Russlands auf die Ukraine hat sehr viele grundsätzliche Gewissheiten in Frage gestellt. In so einer Situation braucht es Orte, wo die Auswirkungen diskutiert werden können, um sie einzuordnen und zu verstehen, welche Korrekturen erforderlich sind in der Politik, aber auch in der Analyse. Das sind Verständigungsprozesse, die über die „grüne Familie“ hinausgehen: Wir müssen uns in solchen großen Krisensituationen gesellschaftlich und politisch breit verständigen, um uns auf einen angemessenen Umgang damit zu einigen. Dazu kommt: Wie schaffen wir es, den Transformationswillen und die Energie dafür aufrechtzuerhalten, diese nicht aus dem Blick zu verlieren? Auch da müssen wir Diskussionsräume schaffen, um für kritische Rückfragen Raum zu geben.

Jan Philipp Albrecht: Die großen Erwartungen an uns sind nicht nur in der Regierungsverantwortung der Grünen begründet, sondern auch weil zentrale gesellschaftliche Diskurse mit uns sehr stark verknüpft werden. Da geht es um die Transformation hin zur dekarbonisierten Gesellschaft, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, um Fragen von Demokratie und internationaler Governance. In dem Sinne sollten wir uns auch nicht kleiner machen, als wir sind. Nicht nur, weil viele von uns viel erwarten, sondern auch, weil wir mittlerweile einfach eine viel größere Rolle spielen, als das vielleicht anfänglich – wir sind ja noch eine junge Stiftung – von uns gesehen wurde, so dass es heute in vielen Ländern der Welt gar nicht mehr wegzudenken ist, was die Heinrich-Böll-Stiftung leistet.

Last but not least aber auch, weil es einfach nicht mehr der Realität entspricht. Nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die Realität hat sich geändert. Wir sind keine kleine Stiftung mehr. Wir sind in den letzten Jahren gewachsen und wir wachsen auch gerade aktuell mit einem enormen Schub. Das ist für uns auch eine Herausforderung als Stiftung. Die uns nahestehende Partei hat doppelt so viele Mitglieder wie noch vor wenigen Jahren. Da ist insgesamt etwas gewachsen. Wir schauen mit unserer Arbeit nicht nur auf einen Ausschnitt dieser Gesellschaft, sondern teilweise auf die Mehrheit, die wir durchaus widerspiegeln mit dem, was wir an Themen bearbeiten.

Imme Scholz: Ich möchte noch eine Ergänzung machen zur internationalen Dimension der gegenwärtigen Lage. Es ist wichtig, in diesen Krisenzeiten auch die Perspektiven unserer Partner*innen aus den Ländern, in denen wir arbeiten, einzubringen, und zwar nicht nur aus den Ländern, die unmittelbar betroffen sind vom Krieg in der Ukraine. Der Krieg in der Ukraine setzt ja auch die Vereinten Nationen unter Druck und das Völkerrecht – dieses zu verteidigen ist ein international breit geteiltes Interesse, dazu haben auch unsere Partner*innen weltweit viel zu sagen.

Stichwort Netzwerke. Wie soll die Heinrich-Böll-Stiftung künftig netzwerken?

Jan Philipp Albrecht: Wir sind schon mal ein großes Netzwerk: Mit den Landesstiftungen im Inland, dann in Europa und weltweit – da binden wir so viele Akteur*innen zusammen, dass wir ein ganz wichtiger Ansprechpartner für viele sind, die zu diesen Partner*innen Kontakt suchen und die wissen wollen: Wo kann ich was tun? Im transformativen Zusammenhang sind wir da einfach ganz wichtig. Nichtsdestotrotz haben wir noch ein Riesenpotenzial, das Netzwerk auch für uns noch besser zu nutzen und die Menschen zusammenzubringen, die jetzt miteinander reden sollten. Wenn wir zum Beispiel über das Thema industrielle Wende, Energiewende reden, gibt es einfach noch zu viele Lücken zwischen der innenpolitischen Auseinandersetzung über industriepolitische oder unternehmens- und wirtschaftspolitische Fragen auf der einen Seite und auf der anderen Seite den Handelsdiskussionen, den Fragen von Rohstoffversorgung, den Fragen von zukünftigen internationalen Energienetzen. Das sind alles Fragen, die zusammengebunden werden müssen. Wir wollen die Netzwerke in eine neue Resonanz zueinander bringen.

Imme Scholz: Die Transformation hin zu Klimaneutralität, zu Produktion und Konsum ohne Raubbau an der Natur braucht lokale Lösungen – global betrachtet muss das Ergebnis aber positiv sein; die reichen Länder müssen aufhören auf Kosten anderer Länder oder zukünftiger Generationen zu leben. Uns interessiert beides. Wo wir mit Auslandsbüros vertreten sind, unterstützen wir entsprechende transformationsorientierte Netzwerke, einzelne Organisationen. Länder im globalen Süden, in denen wir arbeiten, sind sehr selbstbewusst, weil sie wissen, dass es ohne sie nicht geht. Dieses Herangehen teilen wir.

Geht es beim Arbeiten in Netzwerken auch um neue Zielgruppen? Um Menschen, die die grüne Stiftung bis jetzt eher noch nicht erreicht oder repräsentiert?

Jan Philipp Albrecht: Schon auch! Aber es geht nicht nur einfach darum, neue Leute zu erreichen, sondern immer dabei im Kopf zu haben: Was kann daraus entstehen, was wollen wir dadurch erreichen? Wenn wir uns zum Beispiel austauschen mit den Akteur*innen der Klima-Bewegung, dann ist es von großem Interesse für uns und birgt große Potenziale, wenn wir diese mit jenen zusammenbringen, die die Transformation tatsächlich konkret umsetzen, also zum Beispiel mit Handwerksverbänden und Akteur*innen mittelständischer Unternehmerschaft. Diese wiederum können durch den Kontakt zu jungen, engagierten Menschen etwas gegen den Fachkräftemangel unternehmen. Ein solches Vorgehen birgt extrem viele Chancen, sich neuen Bündnissen zuzuwenden, die etwas quer laufen zu bestimmten bisherigen Gruppen oder Milieus, die wir bereits kennen. Das heißt für uns natürlich, neue Leute anzusprechen und in neue Milieus vorzustoßen.

Imme Scholz: Wir sind mit unseren Auslandsbüros in vielen Ländern unterwegs, wo der Anteil der jungen Bevölkerung wesentlich größer ist als bei uns. Junge Leute sehen, dass ihre Zukunft gefährdet ist und sind daher wagemutig und innovativ, auch bei den sozialen Bewegungen. Was wir sehen, ist, dass gerade im Bereich Feminismus und Queerness soziale Bewegungen in einigen unserer Partnerländer weiter sind als bei uns, beispielsweise in Südamerika, in Argentinien. Veränderungen werden da mit großer Selbstverständlichkeit eingefordert, weil sie wissen: Wir sind die künftige Generation. Das ist dann auch bereichernd für unsere Arbeit, die wir hier machen in Deutschland. Da will ich das Gunda-Werner-Institut nennen, das als Avantgarde-Institut unter anderem zu sexualisierter Gewalt im Netz und zu Antifeminismus arbeitet. Die Bundesregierung hat jetzt einen Queer-Beauftragten eingesetzt und ist gegen Diskriminierungen verschiedenster Art aktiv. Das ist sehr ermutigend. Das wird unsere Arbeit noch auf Jahre prägen.

Sie sind in der Heinrich-Böll-Stiftung angetreten mit einer „Veränderungsagenda 360 Grad“. Was bedeutet das?

Jan Philipp Albrecht: Wir wissen einfach, dass es im Zuge dieser ganzen globalen Herausforderungen, die sich uns jetzt gerade stellen – Pandemie, Klimakrise, Krieg –, keine Lösungen mehr entlang der Linien von einerseits Innen- und anderseits Außenpolitik oder einerseits Umweltpolitik und andererseits Wirtschaftspolitik geben kann. Oder auf der einen Seite der Blick auf Feminismus und auf der anderen Seite der Blick auf die Außen- und Sicherheitspolitik. Die Dinge gehören zusammen. Dafür braucht es zunächst erst einmal Räume, in denen wir uns treffen, in denen wir gemeinsam ins Gespräch kommen, weil diese Perspektiven so lange getrennt voneinander bearbeitet wurden. Wir müssen alle neu drauf blicken. Tun wir das doch gemeinsam! Das ist der Grundgedanke hinter dem 360-Grad-Blick, den wir entwickelt haben, den wir zunächst erstmal an uns beiden verankert haben, weil wir der Auffassung waren, dass das Ausdruck dieser Erneuerung sein musste, dass gerade der Vorstand das lebt und nicht mehr die Dinge sozusagen in zwei Welten aufteilt. Es ist aber auch wichtig, dass das als Haltung in unserer gesamten Institution gemeinsam gelebt werden kann. Dafür braucht es gewisse Strukturen, und die wollen wir entwickeln.

Imme Scholz: Aus der Perspektive der Zusammenarbeit mit dem globalen Süden ist es immer wieder frappierend zu sehen, wie ungewohnt es für uns hier ist, die Perspektive der Mehrheit der Menschen, die auf diesem Planeten leben, einzunehmen. Das ist schon eine Provokation. Diese Menschen leben meist unter schlechteren Bedingungen als wir, aber sie warten nicht darauf, dass ihnen geholfen wird, sondern sie leben in ihrem Alltag und bewältigen ihn. Viele wollen ihn auch verändern. Gleichzeitig ist dieser Alltag doch sehr stark auch von ungleichen Machtverhältnissen geprägt. Sie nehmen immer wieder wahr, wo der ‚Westen‘ es unterlässt, seine Mittel zu nutzen, um etwas zum Positiven zu verändern, bei der Lösung oder Vorbeugung von Konflikten, dem Schutz der Menschen- und Frauenrechte.

Als Stiftung arbeiten wir daran, in unserer Gesellschaft die Wahrnehmung dafür zu schärfen, dass ein Weiter-so große und anhaltende Zerstörung anrichtet. Das ist diese Spur der Verwüstung, von der Robert Habeck einmal sprach, die wir mit unserem Lebensstil hinterlassen. In anderen Erdteilen wird dies stark wahrgenommen. Entwicklungszusammenarbeit kann in Teilen dagegenhalten, aber das reicht nicht.

Kommen wir zum Schluss noch auf den Namensgeber. Die Grünen-nahe Stiftung hat im letzten Dezember daran erinnert, dass Heinrich Böll vor fünfzig Jahren den Literaturnobelpreis bekommen hat. Was verbinden Sie mit dem Autor von Katharina Blum? Was macht ihn für Sie aktuell?

Imme Scholz: Ich verbinde mit ihm jemanden, der unheimlich aufmerksam und wach die politischen Vorgänge beobachtet hat und sie dann mit den ethischen Ansprüchen an politisches, aber auch menschliches Handeln kontrastiert hat. Oft ist es ja eher ein Kontrast. Dafür war er auch bereit, einen Preis zu zahlen – in der Friedensbewegung oder als er daran erinnert hat, dass auch Mitglieder der RAF einen Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren haben. Unser Einsatz für Menschenrechte, für Rechtsstaatlichkeit, für Demokratie leitet sich auch von unserem Namensgeber ab. Aus meiner Sicht ist politische Bildung da ganz zentral, die Arbeit mit jungen Menschen, auf dem Land, überall dort, wo wir die Demokratie stärken und antidemokratischen Kräfte zurückdrängen wollen. Beispiel Antifeminismus und hier nenne ich noch einmal das Gunda-Werner-Institut. Wir investieren auch in die Analyse, etwa mit der Leipziger Autoritarismusstudie. – Darüber würde sich Heinrich Böll wahrscheinlich freuen.

Jan Philipp Albrecht: Die Katharina Blum ist natürlich jetzt auch aktuell, gerade wegen dieser Fragen: Wie gehen wir eigentlich mit unterschiedlichen Perspektiven und Meinungen um? Wie leben wir Demokratie und Rechtsstaat? Was sind dabei die Auseinandersetzungen, die wir führen? Mit welcher Sprache reden wir miteinander? Das ist ein Thema, das Heinrich Böll immer adressiert hat und damit changiert hat zwischen dem Politischen und dem Kulturellen, dem Schreiben, der Sprache, die wir sprechen.

Er war ja nicht nur jemand, der sich in der Friedensbewegung engagiert hat, sondern auch jemand, der sich ganz viel für die Demokratie und Freiheitsbewegungen in Osteuropa interessiert hat, selbst dort auch mit dem PEN aktiv war.

Am Ende ist es ein Statement, dass wir als politische Stiftung, anders als die anderen politischen Stiftungen, nicht eine gediente Politiker*in als Namensgeber haben, sondern einen politischen Menschen, der gleichzeitig sein Brot mit dem Schreiben verdient und es damit in mein Regal geschafft hat so wie bei vielen anderen Menschen auch. Sein Werk ist ein ganz wichtiges Kulturgut deutscher Debatte und deutschen Erinnerns. Und das pflegen wir eben auch.

Vielen Dank für das Gespräch.