Die Debatte in Deutschland über die Eskalation der Gewalt in Israel, im Gaza-Streifen und in den angrenzenden Gebieten der Region nach dem 7. Oktober 2023 folgt der Dynamik von Kriegsdiskursen.
7. Oktober 2023
Wie über die Gewalteskalation in Israel, dem Gazastreifen und angrenzenden Gebieten der Region in Deutschland gesprochen wird, ist in vielerlei Hinsicht nicht überraschend, sondern folgt der strukturellen Dynamik von Kriegsdiskursen: die Polarisierung in ein Freund-Feind-Schema; das Negieren moralischer Ambivalenz; das Rechtfertigungsmuster, wonach die Akte der einen Seite durch vorherige Akte der anderen Seite mehr als gedeckt seien; der Zwang der Bedrohungslage, die Reflexion und Distanzierung als unangemessen diskreditiert; die Konstruktion beispielloser Amoralität; die Aushebelung humaner Standards durch Entmenschlichung des Feindes; die Vereindeutigung einer unauflösbar komplexen Lage.
Der Kriegsdiskurs folgt derlei Präferenzstrukturen und markiert und missbilligt Abweichungen als Verrat und nimmt sie zum Anlass für ein grundsätzliches Misstrauen. Die Präferenzstrukturen verengen stark, was sagbar, was analysierbar ist. Die vorstrukturierte Dynamik des Kriegsdiskurses wirkt ansteckend und zieht auch vormals indirekt Beteiligte in das ‚schwarzweiße‘ Diskursgeschehen.
Dieser Beitrag beleuchtet den deutschen Diskurs über den laufenden Krieg Israels im Gazastreifen in Antwort auf den Überfall der Hamas auf israelische Zivilist:innen und Militärs am 7.10.2023, der selbst Teil eines langen Konfliktes in der Region ist. Schon die vorstehende Formulierung ist einerseits Ausdruck eines besonderen Genauigkeitsgebotes im laufenden Diskurs und mag von unterschiedlichen Seiten angefochten werden – andererseits ist auch dies bereits eine Manifestation der benannten dominierenden Diskursdynamiken.
Wir konzentrieren uns im Weiteren auf drei Mechanismen, die für Kriege im Allgemeinen typisch sind. Sie tragen aber eine für den deutschen Diskurs spezifische Signatur, die wiederum besonders prononciert im laufenden Gewaltkonflikt in Israel, den Palästinensergebieten und angrenzenden Regionen zu Tage tritt: eine Reduktion der sozialen Wirklichkeit auf zwei Kollektive („Kollektivierung“), ein Drängen darauf, sich ausschließlich zu einer Seite zugehörig zu erklären („Bekenntniszwang“), und ein Mangel an Explikation, was dieses Bekenntnis konkret bedeutet, bei gleichzeitiger Behauptung, eine Erläuterung sei auch überflüssig („Erklärungsverweigerung“).
Kollektivierung durch Parolen
Die zentralen Parolen, die im Umlauf sind, sind vieldeutig: Solidarität mit Israel, Free Palestine. Sie sind einerseits „empty signifier“, auf die – von innen wie außen – (fast) alle möglichen Deutungen projiziert werden können. Sie fungieren andererseits als Identitätsstempel, die nach innen wie außen markieren sollen, „auf welcher Seite“ man steht. Damit dienen sie weder als inhaltliche Grundlage für konkrete Policies noch als ausreichender Anfangsverdacht für moralische oder gar rechtliche Verurteilungen. Um für das eine oder andere nutzbar zu sein, müssen Parolen konkretisiert werden, muss gesagt werden, was tatsächlich gemeint ist.
Was bedeutet Solidarität mit Israel? Mit wem ist man solidarisch – der Regierung, dem Staat, dem Volk – und mit welchen Teilen eines Volkes, das doch viele Fraktionen wie Stimmen hat, genau? Hat die Solidarität jenseits des Eintretens für das Existenzrecht Israels Grenzen oder ist sie in der Tat „bedingungslos“, also unabhängig vom konkreten Verhalten der staatlichen Gewalten und unter Einsatz aller verfügbaren Mittel? Wie verhielte sich eine solche bedingungslose Solidarität zur Selbstverschreibung auf ein universelles Völker- und Menschenrecht? Ist andersherum mit „Free Palestine“ das Ende von Besatzung und Blockade und die Möglichkeit einer gleichberechtigten Ko-Existenz von Palästinenser:innen und Israel:innen in einem Staat oder in zwei Staaten gemeint? Oder bezeichnet „Free Palestine“ dasselbe wie „from the river to the sea“, der Parole, deren öffentliches Skandieren seit Kurzem in Deutschland verboten ist – und was ist dieses Bezeichnete?
Wir wissen, dass „vom Fluss bis zum Meer“ in der Hamas-Charta steht und genutzt wird, um dem Staat Israel das Existenzrecht abzusprechen. Wir sehen gleichzeitig, dass die Parole von Kräften innerhalb Israels verwendet wird, um ein maximalistisches Staatsprojekt auf dem Gebiet des historischen Palästinas zu bezeichnen. Wir sehen schließlich Aneignungen und Modifikationen („from the river to the sea, we demand equality“) durch Teilnehmer:innen an Massenprotesten in westlichen Großstädten, die die Unterstellung einer genozidalen Absicht kränkt und die in ihr einen Ausdruck von Rassismus und Islamophobie sehen. Und in akademischen Publikationen wird der Satz verwendet, um die Lebensverhältnisse von Menschen in einem geographischen Raum zu bezeichnen, auf dem eine Zweistaatenlösung als immer unrealistischer erscheint. Diese Vieldeutigkeit ist in den Parolen versteckt, aber nach ihr wird selten gefragt.
Bekenntniszwang durch Kollektivierung
Stattdessen kursieren allerlei Äquivalenzbehauptungen. Eine Gleichsetzung von Jüd:innen mit Israel ist – zwar kriegsdiskurstypisch, aber zugleich doch – demagogisch. Nicht selten steckt dahinter eine eigene Form des Antisemitismus. Antisemitismus ist nie und in keiner Form gerechtfertigt. Das bedeutet aber nicht, dass Israels Politik, israelische Politiker:innen, die israelische Regierung von berechtigter Kritik auszunehmen wären. Auch hier verbieten sich falsche Kollektivierungen: Es gibt nicht das homogene israelische Volk, schon gar nicht das jüdische Volk. Bester Ausweis für die gebotene Differenzierung sind die laufenden Proteste in Israel selbst, die sich gegen die Politik der Netanjahu-Regierung wenden und am Rande derer eine Minderheit explizit nach einer Waffenruhe rief.
Eine Gleichsetzung von Palästinenser:innen mit der Hamas sowie von Demonstrierenden, Migrant:innen, Muslim:innen in Deutschland mit Hamas-Unterstützer:innen ist ebenso demagogisch und nicht selten Vehikel rassistischer und islamophober Agenden. Es ist selbstverständlich möglich, für die Einwanderung muslimischer Männer und gegen Antisemitismus zu sein, so sehr uns die Entweder-Oder-Logik mancher medialer Beiträge auch das Gegenteil weismachen will und so verbittert diskursive Trittbrettfahrer:innen und Kriegsgewinnler:innen sich bemühen, den Antisemitismus als Importproblem auszuweisen.
Statt Differenzierungsbemühungen hören wir jedoch vielfach Forderungen nach eindeutigen Bekenntnissen, die sich ebenfalls formelhaft artikulieren. Dieser Bekenntniszwang ist auch Grundlage für die Begrenzung des legitimen Diskursraumes und für das Markieren von Tabus, wo die Argumentation „der Gegenseite“ von vornherein als irrig und empörend ausgemacht ist.
Ein Diskurs, der auf Bekenntnissen baut, ist aus Sicht der Friedensforschung normativ abzulehnen, weil er zum entweder/oder zwingt, wo doch ein sowohl/als auch möglich wäre. Wer etwa auf der Verhältnismäßigkeit von militärischen Antworten des Staates Israel auf terroristische Angriffe beharrt, negiert nicht automatisch die Grausamkeit der Verbrechen an Zivilist:innen durch die Hamas. Wer außerdem einen Waffenstillstand fordert, kann dies angesichts wachsender Todeszahlen und anhaltenden menschlichen Leids in Gaza sehr wohl tun, ohne Israel das Recht auf Selbstverteidigung prinzipiell abzusprechen.
Erklärungsverweigerung durch Bekenntniszwang
Das Reden in Parolen und Kollektivierungen und die Priorisierung von Bekenntnissen sind auch analytisch zurückzuweisen, verhindern sie doch die Auseinandersetzung mit den Ursachen, dem Ablauf und den Folgewirkungen des Hamas-Überfalls vom 7. Oktober. So beinhaltete er neben brutalster, transgressiver und propagandistischer terroristischer Gewalt gegen Zivilist:innen auch Formen der Guerilla-Gewalt gegen Sicherheitskräfte. Noch nicht geklärt ist, wer den Überfall innerhalb der Hamas geplant und angeordnet, wer zu welchem Zeitpunkt in der Organisation darüber informiert wurde und wer jenseits der Hamas am Gewaltexzess beteiligt war.
Es bleibt auch nach wie vor unklar, wie das Verhältnis zwischen Hamas-Agency und Akteuren der selbsternannten „Achse des Widerstandes“ bei den Terrorangriffen zum Tragen kam. Die Achse besteht aus dem iranischen und syrischen Regime, der libanesischen Hezbollah sowie im weiteren Sinne aus den jemenitischen Houthis und mehreren irakischen Milizen – und eben der Hamas, die hier eine wechselhafte jüngere Geschichte durchlebte. So kam es in jüngerer Vergangenheit zu einem mehrjährigen Bruch (2012-2017) zwischen Hamas und dem syrischen Regime, weil sich die Hamas auf Seiten der syrischen Protestbewegung und insbesondere der oppositionellen Muslimbruderschaft stellte. In der Folge war auch die Allianz der Hamas mit dem Iran und der Hezbollah zeitweise suspendiert.
Die Anschläge der Hamas in analytischer Absicht in die Geschichte des Konflikts und der regionalen Politik einzubetten, bedeutet nicht, sie zu relativieren oder rechtfertigen zu wollen. Die normative Frage nach der Legitimität und Illegitimität von Gewaltanwendung ist zentral, aber von einer Perspektive zu unterscheiden, die der Wahl terroristischer Mittel durch Akteure in einem laufenden Konflikt analytisch auf den Grund geht. Im Sinne des richtigen Schließens für künftige Konflikte und deren Bearbeitung sind beide Perspektiven relevant.
Lautsprecher für die Zwischentöne – verstehen, was auf dem Spiel steht
Parolen, Kollektivierungen und Bekenntniszwang beeinträchtigen auch die Strategiefähigkeit. Sie verunmöglichen das Nachdenken über nächste Schritte, über Optionen, über realistische Utopien jenseits der Antagonismen. Wir müssen die Zwischentöne aus Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft vernehmen und verstärken. Derart die Zwischenräume zu vergrößern, sollte Ziel einer differenzierten, empathischen und demokratisch verfassten Diskurskultur gerade angesichts einer allzu schmerzhaften, allzu bedrängenden und überaus verstörenden Konfliktrealität und Gewalteskalation sein.
Es steht viel auf dem Spiel: Jeden Tag das Leben von palästinensischen Zivilist:innen, die durch israelische Militärschläge getötet werden, die auf der Flucht hungern, verdursten und keine ausreichende Gesundheitsversorgung erhalten; jeden Tag das Leben von israelischen und internationalen Geiseln, die bisher nicht gerettet und nicht freigelassen wurden; jeden Tag die Unversehrtheit von israelischen Zivilist:innen, die durch Raketenbeschuss der Hamas bedroht und verletzt werden; jeden Tag die Sicherheit von Palästinenser:innen im Westjordanland, die durch militante Siedler:innen angegriffen werden; jeden Tag die Sicherheit von Jüd:innen in Deutschland, die durch antisemitische Übergriffe verängstigt werden, sich ausgeliefert sehen; jeden Tag die Sicherheit von als Muslim:innen, Araber:innen oder Migrant:innen gelesenen Personen, die sich als Deutsche wie Nicht-Deutsche in unserer Mitte nicht mehr gehört und zugehörig fühlen, denen Teile des Staates und der Gesellschaft offen drohen, sie verwirkten ihre Schutzrechte und ihre Mitgliedschaft stehe unter Vorbehalt.
Und schließlich geht es um das friedliche und respektvolle Miteinander in unserer Gesellschaft, das schon länger unter Beschuss steht und das es dringend zu verteidigen, ja zu reparieren gilt. Radikalen Universalismus von Menschenrechten, von Empathie angesichts menschlichen Leids und von menschlicher Sicherheit zu behaupten und einzufordern, war lange nicht en vogue und ist jetzt dringlicher denn je.
Der Beitrag wurde zuerst im prif-Blog veröffentlicht.