UN-Klimaverhandlungen könnten die in der Biodiversitätskonvention geforderte Vorsorge gegen Geoengineering untergraben

Analyse

Artikel 6 des Pariser Abkommens wird der riskanten großmaßstäblichen Kohlendioxid-Entfernung (CDR) Vorschub leisten und die wichtige Vorsorgearbeit in anderen UN-Foren untergraben, wenn es bei der COP29 grünes Licht gibt.

Zwei Personen stehen vor einer großen, industriellen Anlage mit mehreren Lüftern. Stahlträger und Rohre sind sichtbar.
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Direct Air Capture in Island.

Bei den bevorstehenden COP29-Klimaverhandlungen, die nächste Woche in Aserbaidschan beginnen, wird erneut über die Regeln für die Umsetzung der internationalen Kohlenstoffmärkte diskutiert, die im Artikel 6 des Pariser Abkommens vereinbart wurden. Es gibt viele Bedenken hinsichtlich dieser Kohlenstoffmärkte und ihrer Umsetzung, unter anderem, da sie es möglich machen, Emissionen mit Emissionsreduktionen an anderer Stelle vermeintlich zu kompensieren (auch als „Offsetting“ bekannt). Ein Punkt jedoch, der unter dem Pariser Abkommen neu und besonders besorgniserregend ist, ist die Aufnahme von großmaßstäblicher Kohlendioxid-Entfernung („carbon removal“) in diese Märkte. 

Die Einbeziehung von Kohlendioxid-Entfernung öffnet auch riskanten, weitgehend spekulativen technologischen Geoengineering-Ansätzen Tür und Tor, um im großen Maßstab CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen. Zu diesen Ansätzen könnten Bioenergie mit Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (BECCS), Direct Air Capture mit Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (DACCS) und beschleunigte Verwitterung im industriellen Maßstab gehören. Auch Ansätze des marinen Geoengineering wie Meeresdüngung, Alkalinitätserhöhung der Ozeane (OAE), direkte Ozeanabscheidung und großflächige Algenzucht und Biomasseversenkung könnten hier fürs Offsetting zur Anwendung kommen. 

Die Verhandlungen über Artikel 6.4 – der Abschnitt unter Artikel 6, der sich mit internationalen Kohlenstoffmärkten befasst – waren bei den vergangenen COPs in eine Sackgasse geraten. Um diese Schwierigkeiten zu umgehen, hat das Aufsichtsorgan von Artikel 6.4, das mit der Entwicklung der wichtigsten Regeln und Methoden für die Kohlenstoffmärkte des Pariser Abkommens beauftragt ist, in diesem Jahr einen geschickten, aber kontroversen Schachzug gemacht: Nachdem auf der COP27 und COP28 kein Konsens über seine Empfehlungen erzielt werden konnte, beschloss das Aufsichtsorgan 6.4 auf seiner letzten Sitzung im Oktober 2024 stillschweigend, seine Empfehlungen in „interne Standards“ umzuwandeln, die sofort in Kraft traten und angeblich keiner weiteren Genehmigung durch die Mitgliedsstaaten auf der COP29 bedürfen. 

Kontroverse Dokumente wurden zu "internen" Standards erklärt 

Olga Gassan-Zade, ein Mitglied des Aufsichtsorgans 6.4, machte als erste auf dieses problematische Vorgehen aufmerksam und äußerte ihre Bedenken in einem LinkedIn-Post:

„Die grundlegendste Änderung im Vergleich zum Vorjahr besteht darin, dass die Empfehlungen, die letztes Jahr an das CMA [gemeint ist das Treffen der Vertragsparteien des Pariser Abkommens auf der jährlichen COP] gerichtet wurden, nicht an das CMA zurückgegeben werden. Stattdessen wurden sie in interne SBM-Standards [Artikel 6.4 Aufsichtsorgan] umgewandelt, für die verfahrensrechtlich keine Genehmigung des CMA erforderlich ist. Die Zukunft wird zeigen, ob dies eine gute Idee war oder nicht. Ich persönlich habe große Vorbehalte gegen die Schaffung eines UN-Mechanismus, der sich der UN-Governance effektiv entziehen kann, aber es schien mir nicht so, als dass das SBM als Ganzes bereit wäre zu riskieren, dass die CMA-Empfehlungen ein drittes Jahr in Folge nicht angenommen werden.“ (eigene Übersetzung)

Das Artikel 6.4-Aufsichtsorgan wurde nicht mit dem Mandat gewählt, sich der UN-Kontrolle zu entziehen, und dieses zweifelhafte Vorgehen sollte von den Vertragsparteien des Pariser Abkommens nicht zugelassen werden – gerade weil die Verhandlungen über den Inhalt dieser Dokumente bei den vergangenen beiden COPs so kontrovers waren und zu keinem Abschluss gebracht werden konnten. 

Auch der Inhalt des veröffentlichten Standards zu „carbon removals“, die vom Aufsichtsorgan nun angenommen wurden, ist problematisch. Er stellt eine sehr weit gefasste Definition des Begriffs „Kohlenstoffentfernung“ auf: „Entfernungen sind das Ergebnis von Prozessen, bei denen Treibhausgase durch absichtliche menschliche Aktivitäten aus der Atmosphäre entfernt und durch anthropogene Aktivitäten entweder zerstört oder dauerhaft gespeichert werden.“ (A6.4-SBM014-A06, at 9 (a), S. 4, eigene Übersetzung) 

Artikel 6 könnte riskanten Geoengineering-Technologien Vorschub leisten

Eine derart weit gefasste Definition würde die Kommerzialisierung verschiedener Formen riskanter und unerprobter Geoengineering-Technologien an Land und in den Meeren ermöglichen. Damit würden ernsthafte und großmaßstäbliche Risiken für Ökosysteme und Menschen entstehen, insbesondere für diejenigen, die in der Nähe von CO2-Abscheidungsanlagen leben oder deren Lebensunterhalt auf Fischerei und anderen maritimen Tätigkeiten basiert. 

Es gibt auch große wissenschaftliche Unsicherheiten rund um die Behauptung, dass diese Großtechnologien CO2 zuverlässig und dauerhaft aus der Atmosphäre entfernen können. Tatsächlich könnten diese Geoengineering-Projekte in vielen Fällen sogar eine Nettoquelle für CO2-Emissionen sein, wenn alle Emissionen über den gesamten Lebenszyklus hinweg berücksichtigt werden. Dies gilt insbesondere für zahlreiche BECCS- und industrielle Algenprojekte sowie für die Kohlenstoffabscheidung, -nutzung und -speicherung (CCUS), die, anstatt eine „dauerhafte“ CO2-Speicherung zu erreichen, in den meisten Fällen die Emissionen lediglich für einen kurzen Zeitraum aufschieben. Gleichzeitig verursachen sie durch alle anfallenden Prozesse erhebliche zusätzliche Emissionen. 

Geoengineering gefährdet Biodiversität

Die Schwesterkonvention der UNFCCC, die UN-Konvention über die biologische Vielfalt (UN CBD) hat viele der ökologischen und sozialen Risiken und Auswirkungen, die durch Geoengineering entstehen, bereits vor Jahren thematisiert und schon in 2010 ein de facto Moratorium zu klimabezogenem Geoengineering erlassen. Erst letzte Woche haben die Vertragsparteien auf der COP16 der CBD in Cali, Kolumbien, vor dem Hintergrund, dass die Risiken und Unsicherheiten im Zusammenhang mit Geoengineering-Vorschlägen nur noch größer geworden sind, das de facto Moratorium zu klimabezogenem Geoengineering bekräftigt und die Vertragsparteien aufgefordert, dessen Umsetzung sicherzustellen:

6. bekräftigt die Entscheidung IX/16 C zur Ozeandüngung, Absatz 8 (w) der Entscheidung X/33 und die Entscheidungen XI/20 und XIII/14 vom 9. Dezember 2016 zum klimabezogenen Geoengineering und fordert die Vertragsparteien nachdrücklich auf und ermutigt andere Regierungen, ihre Umsetzung sicherzustellen; (Entscheidung CBD/COP/16/L.24, Cali, Kolumbien, 1. November 2024, eigene Übersetzung)

Gleichzeitig arbeitet das Londoner Übereinkommen/Londoner Protokoll – ein UN-Mechanismus zum Schutz der Meeresumwelt vor Verschmutzung und Abfallentsorgung – an der Regulierung von marinem Geoengineering. Sein Regulierungsrahmen verbietet bereits die Meeresdüngung, mit Ausnahme legitimer wissenschaftlicher Forschung ohne kommerzielle Zwecke. Derzeit werden weitere Geoengineering-Techniken, die Auswirkungen auf die Meeresökosysteme haben, geprüft und Schritte zur weiteren Regulierung erwogen. 

Vor dem Hintergrund der jüngsten Entscheidung der CBD und der Arbeit des Londoner Übereinkommens/Londoner Protokolls besteht die Gefahr, dass die UNFCCC die wichtige, dem Vorsorgeprinzip folgende Arbeit, die in diesen anderen UN-Foren geleistet wird, direkt untergräbt. Durch die Legitimierung der großflächigen Entfernung von Kohlendioxid zu Kompensationszwecken gerät die Klimakonvention in Konflikt mit ihrem Pendant im Bereich der Biodiversität und riskiert, dass sich sowohl die Klima- als auch die Biodiversitätskrise verschärfen.