Irina Alkhovka: "Ich bin eine Brückenfrau"

Porträt

Für Irina Alkhovka ist Geschlechtergleichheit eine persönliche und berufliche Leidenschaft. Die Menschenrechtsverteidigerin aus Belarus musste ihre Heimat 2021 verlassen, weil sie wegen ihrer politischen Arbeit strafrechtlich verfolgt wurde. 

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GPT Icon  Foto: Person mit grauem Haar und Brille vor neutralem Hintergrund, trägt ein gestreiftes Oberteil.
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Irina Alkhovka.

Unser Gespräch mit Irina fällt zufällig auf den Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen: "Dies ist ein Tag, an dem ich darüber nachdenke, warum ich mich seit über 25 Jahren mit diesem Thema beschäftige, wohin ich gehe und ob sich meine Ziele verändert haben", sagt sie – und ich bin froh, die Zeugin dieser Reflexion zu sein. Irina berichtet, dass dieser 25.11. für sie in Belarus intensiver war als heute, wo sie im Exil lebt. Ständig waren Journalist*innen auf der Suche nach Held*innen, Statistiken, Daten, um Veröffentlichungen zum Thema vorzubereiten – ein Thema, das noch jung ist: Die Vereinten Nationen starteten die globale Kampagne "16 Aktionstage zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt" erst im Jahr 2008. 

Das große Ziel: Geschlechteregalität

In Belarus arbeitete Irina in Führungspositionen bei Organisationen wie der Young Women’s Christian Association (YWCA) und dem Programm La Strada Belarus zur Prävention von Men-schenhandel. Anschließend gründete sie ihre eigene Nichtregierungsorganisation (NRO), Gender Perspectives. Nach massiven staatlichen Angriffen auf die Zivilgesellschaft wurde ihre Organisation 2021 von den Behörden nach 11 Jahren herausragender Arbeit ge-schlossen. Aufgrund der strafrechtlichen Verfolgung ihrer Frauenrechtsarbeit musste Irina das Land verlassen und lebt nun im Exil. Sie zieht es vor, nicht über ihre aktuelle Tätigkeit zu sprechen.

Die erzwungene Emigration gab Irina die Möglichkeit, sich zu distanzieren, sich zu erden und ihre Leistungen zu würdigen: "In unserer täglichen Arbeit rennen wir oft weiter und bemerken dabei manche Dinge nicht. Je älter ich werde, desto wichtiger ist es für mich, zu sehen, was bereits geschehen ist, welchen Weg ich, meine Kolleginnen und die gesamte Frauenbewegung in Belarus zurückgelegt haben". Ihr Ziel, für Geschlechteregalität einzutreten, habe sich nicht geändert. Aber ihre Herangehensweise sei eine andere - neue Blickwinkel sind hinzugekommen, und Selbstliebe ist ihr wichtiger geworden. Jetzt erinnert sie sich häufiger daran, dass sie "genug" tut. 

Von der Soziologie zum Feminismus

1996 verteidigte Irina ihr Diplom in Soziologie an der Staatlichen Universität von Belarus. Das Thema ihrer Abschlussarbeit war den geschlechtsspezifischen Aspekten der Geschichte gewidmet und beinhaltete auch das Wort "Gender", was zu jener Zeit ein Skandal war. Irina erinnert sich, dass sie bei der Vorbereitung ihrer Arbeit in der Bibliothek nur eine einzige Quelle fand, in der dieses Wort erwähnt wurde. "Gender" war etwas Neues und wenig Vertrautes – sowohl für Irina selbst als auch für ihren Gutachter, sodass Irina damals beschloss, vorrangig ein gängigeres Vokabular zu verwenden und von der "Frauenbewegung" oder den "Frauenrechten" zu sprechen. Dies half ihrem Werk jedoch nicht, im Mainstream anzukommen – Irina erinnert sich, dass sie in der Rezension Rückmeldungen über den "hohen Anspruch und die Überambitioniertheit" ihres Werks erhielt. 

Irina bezeichnete sich damals nicht als Feministin. Es gab keine anderen Frauen in ihrem Umfeld, die sich so identifizierten, und sie wollte nicht zu einem "leichten Ziel" für Kritik werden. Sie erzählt mir von einer großen Frauenkonferenz in den 2000er Jahren, an der Menschen aus der Ukraine, Moldawien, Belarus und Russland teilnahmen. Dann kam eine der Rednerinnen auf das Podium und sagte, sie sei "keine Feministin", weil sie "einen Mann und Kinder habe". Irina konnte nicht verstehen, warum eine Frau, die verheiratet ist und Kinder hat, keine Feministin sein kann. Sie beschreibt ihren Weg zur feministischen Selbstidentifikation folgendermaßen:

 "Es kam, als ich erkannte, dass ich Frauen gegen Diskriminierung verteidigte und dafür kämpfte, dass sie als menschliche Wesen betrachtet werden. Also bin ich natürlich eine Feministin!"  

Lob für die mutigen Vorreiterinnen

Für Irina ist es wichtig, die Arbeit früherer Generationen von sowjetischen Aktivist*innen wertzuschätzen – diejenigen, die sich selbst nicht als Feminist*innen bezeichneten, die aber von ihren Werten her Feminist*innen waren. 

Diese Frauen, manchmal im Rentenalter, fanden den Mut, sich der Frauenbewegung anzuschließen. Sie lernten Englisch, reisten zu Konferenzen und suchten nach Informationsquellen zu einer Zeit, als es noch kein Internet, keine Abschlüsse in Gender Studies und keine Übersetzungen feministischer Klassiker gab. Irina betont, dass es damals viel mehr Mut erforderte, Feministin zu sein - und sie bedauert, dass es keine Chronik der belarussischen Frauenbewegung gibt. 

Arbeit an einem Gesetzesentwurf zur Bekämpfung häuslicher Gewalt

Heute erscheint es im belarussischen Aktivismus befremdlich, Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Vertreter*innen der Behörden zu loben, haben diese staatlichen Strukturen doch im Jahr 2020 eine neue Welle brutaler Repressionen gegen alle, die ihr kritisch gegenüberstehen, eingeleitet. Man kann nicht nur wegen sozialer und politischer Aktivitäten inhaftiert und gefoltert werden, sondern auch wegen der "falschen" Farbe der Socken oder eines Likes in den sozialen Medien. Irina selbst ist wie durch ein Wunder einem solchen Schicksal entgangen. Daher überrascht ihre positive Einschätzung der Arbeit staatlicher Akteur*innen besonders. 

Auf Initiative des Innenministeriums entwickelte Irina zusammen mit anderen Vertreter*innen der Zivilgesellschaft (YWCA, Radislava und andere) im Jahr 2018 eine Strategie für einen Gesetzesentwurf zur Bekämpfung häuslicher Gewalt. Diese Strategie umfasste die obligatorische Teilnahme von Gewalttäter*innen an Strafvollzugsprogrammen, die Unterstützung der Opfer sowie die Regelung der verwaltungs- und strafrechtlichen Haftung für entsprechende Straftaten. Es war ein seltener Fall, dass Kommentare von Vertretern von Nichtregierungsorganisationen in den staatlichen Zeitungen veröffentlicht wurden.

Aus heutiger Sicht wirkt das völlig unrealistisch: Wurde das fortschrittliche Gesetz wirklich vom Staat initiiert? Verfolgte der Entwurf tatsächlich eine juristische Veränderung unter Berücksichtigung der Perspektive von Überlebenden von Gewalt? Unglaublich, aber wahr. Die Initiative sei das Ergebnis einer gemeinsamen Anstrengung von Aktivist*innen und Organisationen gewesen, gibt Irina zu. Sie betont aber auch die Schlüsselrolle des Staates dabei:

 Ich bin zum Ministerium gegangen, habe mit den Beamten gesprochen und bereue das nicht. 

Irina erzählt mit echter Begeisterung von dieser Erfahrung. Für sie hatte das nichts mit der Unterstützung des Staatsapparats zu tun, sondern war eine Gelegenheit, die Interessen der Frauen – zum Beispiel die Nutzerinnen der Notrufnummer ihrer Organisation – auf realer und höchster Ebene zu vertreten. Allerdings, fügt sie später mit einem Hauch von Traurigkeit hinzu:

Jetzt sagen viele, der Staat sei undankbar zu uns, er habe uns rausgeschmissen, unterdrückt. Das ist wahr. Aber auf der anderen Seite haben wir viel dafür getan, dass der Staat uns gehörte. Und darauf bin ich auch stolz. 

Leider hatte die Geschichte kein Happy End – der Gesetzesentwurf wurde nicht angenommen. Einerseits aufgrund des Einflusses pro-russischer patriarchaler Kräfte, andererseits aufgrund der öffentlichen Kritik des nicht rechtmäßigen Präsidenten von Belarus Alexander Lukaschenko. 

Sind Frauenrechte Menschenrechte? 

Ein weiterer Kontext, in dem Irina intensive Aufklärungsarbeit leisten musste, waren die Menschenrechtsorganisationen, die in Belarus traditionell meist von Männern vertreten werden. Das Thema hitziger Debatten war (und ist es teilweise immer noch), ob die Frauenagenda Teil der Menschenrechtsagenda sei – oder nicht. Trotz ihrer Zuversicht in diesen Debatten und ihren überzeugenden Argumenten bezeichnet Irina diese Gespräche als unangenehm. Schließlich erwartete sie Verständnis und die Unterstützung ihrer Kollegen aus dem Menschenrechtsbereich, musste sich aber stattdessen "auch bei diesem Thema einen Platz an der Sonne erkämpfen" und ihre Mitstreiter davon überzeugen, dass eine Frau ein menschliches Wesen mit eigenen Rechten ist. 

Trotz allem setzte Irina ihre Arbeit fort. Für sie ist es eine Frage der Allianzen – sie ist davon überzeugt, dass Menschenrechtsverteidiger*innen nicht gespalten werden dürfen, da dies gegen die Philosophie der universellen Menschenrechte selbst verstößt, die uns lehrt, dass verschiedene Gruppen unterschiedlich diskriminiert werden und daher ihre spezifischen Rechte brauchen. Mut schöpft Irina jedoch aus dem langsamen, aber stetigen Wandel im Menschenrechtsdiskurs: "Als ich der Bewegung beitrat, hieß sie nicht Feminismus oder Menschenrechte – es war eine soziale Arbeit.” 

Wie wichtig es ist, Veränderungen zu sehen

Irina sieht die Geschichte wie eine Spirale, die sich wiederholt, und jetzt "dreht" sie sich wieder in Richtung Rückschritt, Rollback. Einerseits ist sie sich sicher, dass es der belarussischen Zivilgesellschaft gelungen ist, "eine Generation von Menschen heranzuziehen, die anders denken, die Freiheit als einen großen Wert ansehen und die wollen, dass Belarus in die europäische und weltweite Gemeinschaft integriert wird". Ihrer Meinung nach empfinden diese Menschen Diskriminierung oder mangelnde Toleranz per se als "eine Art Unsinn". Sie stellt fest, dass es auch andere Menschen aus Belarus gibt, die die sogenannte "Gender-Ideologie" kritisieren und behaupten, sie zerstöre Familien, traditionelle Werte und die Moral.

Für Irina ist es wichtig, Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre Sichtweise zu ändern. Sie bezeichnet sich selbst als "Brückenfrau", weil sie auch in offenen Gegner*innen des Feminismus keine Feind*innen sieht und bereit ist, mit ihnen in den Dialog zu treten. Allerdings habe auch sie Grenzen und akzeptiere es beispielsweise nicht zu, in ihrer beruflichen Tätigkeit "mit den Füßen getreten” und beleidigt zu werden: "Ich erinnere mich selbst immer wieder daran und verteidige mich. Aber im Allgemeinen glaube ich nicht, dass die Welt grausam ist. Wir verändern sie durch unser Beispiel, durch uns als Vorbilder, indem wir anderen zeigen, wie man in ihr lebt.”

Etwas zurückgeben

Eine ihrer letzten Initiativen vor der erzwungenen Schließung der Organisation in Belarus waren die sogenannten "Daddy Schools" – ein Projekt, das sich an Cisgender Männer richtete. Trotz der offensichtlichen Schwierigkeiten, das männliche Publikum für Gleichstellungsthemen zu begeistern, und der weit verbreiteten männlichen Gewalt in den Familien, fand Irina auch hier Inspiration: "Es gibt Männer, die bereit sind, sich zu ändern. Sie denken nach und erkennen schließlich, dass sie in einem Umfeld aufgewachsen sind, in dem Gewalt normalisiert wurde, nämlich in ihrer eigenen Familie.” 

Irina wird in letzter Zeit immer häufiger gefragt, wie sie zum Feminismus gekommen sei, was sie beobachtet habe, woran sie teilgenommen habe. Sie glaubt, dass viele in der Bewegung inzwischen die Hoffnung auf Veränderung verloren haben. Deshalb ist es für sie wichtiger denn je, Frauen zu motivieren, den Glauben an sich selbst, an die Sache und an die Menschheit allgemein nicht zu verlieren. Kürzlich hörte sie den Satz: "Den ersten Teil deines Lebens lernst du, den zweiten Teil verdienst du, den dritten Teil gibst du zurück". Darin erkennt sie sich wieder und glaubt, dass sie den Punkt erreicht hat, an dem es an der Zeit ist, etwas zurückzugeben.