Julia Mickiewicz: "Ich weiß, was Neid und Klatsch sind" 

Porträt

Julia Mickiewicz wechselte vom Journalismus in die Politik und von dort zu NGOs und ist Mitbegründerin der feministischen Organisation FemGroup Belarus. Inzwischen lebt sie im Exil – doch ihren Kampf für Geschlechtergleichheit, Vielfalt und soziale Gerechtigkeit setzt sie unbeirrt fort.

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Foto: Person mit kinnlangem, rötlichem Haar vor dunklem Hintergrund, trägt roten Lippenstift und ein Oberteil mit Spitzenbesatz.
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Julia Mickiewicz.

Während dieses Gesprächs erhielt ich die scherzhafte Einladung, in Zukunft Julias persönliche Biografin zu werden. Während ihrer Karriere gehörte sie verschiedenen Kreisen an und konnte viele Geschichten über die "Hinterbühne" der belarussischen Demokratiebewegung erzählen. Heute haben wir uns auf ein kurzes Interview beschränkt, aber schon daraus wird deutlich: Diese Frau ist energisch, zielstrebig, beharrlich - und glücklich.

Der Weg zur Gründung einer eigenen feministischen Organisation 

Julia zog von Novopolotsk, einer kleinen belarussischen Stadt, nach Minsk, um an der Fakultät für Journalismus zu studieren. Ihre Mutter unterstützte ihre Entscheidung nicht, in die Hauptstadt zu ziehen. Ihre Familie gehörte zur Arbeiterklasse und war nicht wohlhabend: "Sie sagte damals, warum solltest du dorthin gehen, wenn es nur zwei Möglichkeiten gibt, hineinzukommen – entweder du hast einen starken Willen oder du bist sehr klug – und du hast nichts von beidem.“ Julia war anderer Meinung als ihre Mutter und beschloss, ihr und sich selbst zu beweisen, dass sie ihre Ziele erreichen kann. Von nun an wird sie immer so handeln, und Misserfolge zu Beginn ihrer Reise werden ihren Ehrgeiz nur noch mehr anheizen. 

In Minsk schloss sich Julia der schwulen Gemeinschaft an, wo sie einige enge Freunde fand und mit ihnen sogar eine Aktivistenorganisation gründete. Die Organisation bestand jedoch nicht lange – jeder hatte seine eigenen Dinge zu tun, seine eigenen Sorgen. "Wie meine lesbische Freundin mir sagte, hatte ich Glück, dass ich in die schwule Gemeinschaft kam. In der lesbischen Gemeinschaft wäre ich damals nicht akzeptiert worden, weil ich nicht aus ihr stammte. Aber alle meine schwulen Freunde wussten, dass ich hetero bin – ich habe es nicht versteckt", erzählt Julia, und ich teile die Meinung ihrer Freundin. 

Die lesbische Gemeinschaft war damals weniger offen für Verbündete, während Schwule bereit waren, mit jedem zusammenzuarbeiten, der sie bei der Förderung einer inklusiven Agenda unterstützte. Gemeinsam mit den bekannten belarussischen Aktivisten Slava Bortnik, Eduard Tarletsky, Alexander Poluyan und anderen organisierte Julia damals Veranstaltungen und nahm an Diskussionen teil. Die Erfahrungen mit dem Schwulenaktivismus ermöglichten es Julia, über Feminismus nachzudenken. 

An der Fakultät für Journalismus belegte Julia einen Kurs über Gender in den Medien und stellte fest, dass sie sich eingehender mit Genderfragen befassen wollte. An der Fakultät für Journalismus der Staatlichen Universität von Belarus gab es jedoch keine weiteren Kurse zu solchen Themen, aber hier kam Natalia Kulinka, Julias Lehrerin, zur Hilfe. Natalia erzählte ihr, dass die European Humanities University (EHU) einen Gender-Masterstudiengang eröffnete und dass es für Julia interessant sein könnte, ihr Studium dort fortzusetzen (Anm. d. Red.: Die EHU ist eine private, gemeinnützige Universität für freie Künste, die 1992 in Minsk, Belarus, gegründet wurde. Nach ihrer erzwungenen Schließung durch die belarusischen Behörden im Jahr 2004 zog die EHU nach Vilnius um.).

So wurde Julia Mickiewicz 2005 eine der ersten Student*innen des Gender-Masterprogramms an der EHU. Das Wissen, das sie dort von Olga Shparaga, Olga Gapova und anderen Theoretikerinnen erlangte, sowie die Diskussionen mit anderen Studentinnen halfen Julia, kritisches Denken und eine feministische Sichtweise zu entwickeln, die sie später in journalistischen und politischen Aktivitäten anwenden sollte. 

Über die Schwierigkeiten, in Männerteams zu arbeiten

2007 bekam Julia eine Stelle bei BelaPAN, der größten nichtstaatlichen Nachrichtenagentur in Belarus (Anm. d. Red.: Nach den Protesten 2020 wurde diese von den Behörden zwangsweise geschlossen. Im Jahr 2023 wurde sie unter dem Namen Pozirk wiedereröffnet). Als Journalistin interessierte sie sich für die Arbeit mit Gender- und LGBTQ+ Themen, was bei ihren Kollegen oft negative Reaktionen hervorrief. 

An einen Fall von Sexismus am Arbeitsplatz erinnert sich Julia besonders. Einer ihrer männlichen Kollegen stellte einen schmutzigen Becher in die Spüle und bat Julia, ihn abzuwaschen, weil "Frauen das besser können". Julia ließ sich nicht beirren und antwortete, dass sie Tassen mit ihren Händen und nicht mit ihren Genitalien abwasche, es also keinen Unterschied in der Qualität der Arbeit gebe und ihr Kollege die Aufgabe auch allein gut bewältigen könne. Überraschenderweise wurden die beiden Freunde und unterstützten sich noch mehrere Jahre gegenseitig im beruflichen und privaten Bereich. Neben dieser sexistischen Geschichte erinnert sich Julia aber auch an andere Momente ihrer journalistischen Arbeit – wenn Redakteure sie bei der Wahl ihrer Themen unterstützten, sie bestärkten und ihr vertrauten.  

Julia engagierte sich in der Jugendorganisation der belarusischen sozialdemokratischen Partei Hramada und leitete sie mehrere Jahre lang. Sie beschreibt den politischen Aktivismus als männlich geprägt und patriarchalisch. Bei einer der Parteiversammlungen, an denen Julia teilnahm, schrie einer der Männer sie an: "Er sagte: Du Schlampe, was kannst du uns sagen, Männer mit Erfahrung in der politischen Arbeit, was kannst du uns sagen?" Kein Wunder, dass sich Julia heute nicht mehr mit Begeisterung an diese Zeit erinnert.

Ich bin nur für die Dinge verantwortlich, die in meiner Macht stehen.

Trotz aller Schwierigkeiten arbeitet Julia weiterhin im politischen Bereich, insbesondere in der Förderung der Geschlechtergleichstellung. Geführt werden diese von Swetlana Tichanowskaja, die seit mehreren Jahren versucht, als Kopf der belarussischen Exil-Regierung in Vilnius einen demokratischen Wandel in ihrer Heimat herbeizuführen. 

Diese Arbeit ist oft unbezahlt und kostet viel Energie, aber Julia ist sie wichtig, weil sie auf diese Weise die Frauenagenda auf politischer Ebene fördern kann. Im Jahr 2024 schlugen sie und ihre Kollegen eine Frauenquote von 40 % für die Wahlen zum Koordinierungsrat (Anm. d. Red.: ein Nichtregierungsgremium, das von der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin und Anführerin der belarusischen demokratischen Bewegung Svetlana Tichanowskaja geschaffen wurde, um einen demokratischen Machtwechsel in Belarus zu erleichtern) vor, die trotz heftigen Widerstands schließlich angenommen wurde.

Kürzlich übernahm Julia den Posten der Ersten Stellvertreterin von Olga Zazulinskaya, einer Vertreterin des Vereinigten Übergangskabinetts von Belarus (Anm. d. Red.: einer im August 2022 gebildeten belarussischen Exilregierung), im Bereich Sozialpolitik. Diese Entscheidung fiel ihr nicht leicht, doch nach einiger Überlegung nahm sie sie an -  allerdings unter einer selbstgestellten Bedingung: "Wenn ich es nicht schaffe, wird es nicht meine Geschichte des Scheiterns sein, sondern die Tatsache, dass ich nur für die Dinge verantwortlich bin, die in meiner Macht stehen."

Für viele Politiker sind Geschlechterquoten völlig inakzeptabel

Das Risiko, dass ihr derzeitiger mentaler Zustand und ihre Arbeitsbelastung es ihr nicht erlauben, sich voll und ganz auf ihre neue Rolle einzulassen und die gewünschten Ergebnisse zu erzielen, nimmt Julia in Kauf; in diesem Fall wird sie die Rolle gerne an jemand anderen abgeben. Teamarbeit ist für Julia sehr wichtig – sie ist keine Einzelkämpferin und hofft, dass sie in ihrer neuen Rolle von anderen Frauen unterstützt und ermutigt wird. 

Sie bezeichnet ihre Arbeit, den Einsatz für die Rechte und Interessen der Frauen, als Kampf: "Selbst, wenn wir die Geschlechterquoten nehmen, für die wir uns eingesetzt haben. Für viele Politiker ist das völlig inakzeptabel, und sie beginnen, uns unter Druck zu setzen und suchen nach verschiedenen Erklärungen, warum unsere Idee nicht umsetzungswürdig ist." Diese Art der Kommunikation bringt ihr je nach Situation Freude, Frustration und Unterstützung. Seit 20 Jahren muss sich Julia die gleichen Gegenargumente anhören – erst im Journalismus, dann in der Politik. Und doch hat sie nicht vor, aufzugeben. 

Wo man Kraft schöpfen kann 

Julia erzählt, dass sie oft idealistisch über die feministische Gemeinschaft und die Idee der Schwesternschaft denkt, aber manchmal die Atmosphäre innerhalb des Sektors "frustrierend und nicht immer freundlich" findet. Ihre Erfahrung mit politischem Aktivismus hat sie gelehrt, sich Neid, Klatsch und Konkurrenz nicht zu Herzen zu nehmen. Julia sagt, dass sie vor allem von ihrem engsten Umfeld unterstützt wird, insbesondere von ihrem Mann. 

Julia und ihr Mann sind seit fast fünf Jahren gezwungen, in zwei Ländern zu leben. Sie sagt, dass es in ihrer Beziehung nie einen Wettbewerb gegeben habe und dass sie sich immer gegenseitig unterstützt und belebt hätten. Ihr gemeinsamer Sinn für Humor spielt ebenfalls eine wichtige Rolle in ihrer Beziehung – Julia sagt, sie und ihr Mann würden auch beim Sex lachen.  

Das innere feministische Auge schulen

Wie für ihre Femme-Kollegin Irina Alkhovka ist es auch für Julia wichtig, kleine, aber dennoch positive Veränderungen um sich herum wahrzunehmen. Zu diesem Zweck hat sie ihr sogenanntes "inneres feministisches Auge" geschult:

 Es gibt Ergebnisse, die nicht sofort sichtbar sind, und vielleicht sogar erst nach 50 Jahren. Aber ich weiß, dass ich dafür verantwortlich bin, auch wenn es nur eine kleine Sache ist, und das ist meine Motivation.

Feminismus zu praktizieren, ist für sie nicht nur auf ernsthaften politischen Plattformen wichtig, sondern auch im Alltag. Sie sagt, sie sympathisiere mit der Idee des Mikrofeminismus und überlege nicht zweimal, bevor sie sich entscheide, einem Mann die Tür zu öffnen oder ihm zuerst die Hand zu geben: "Es ist ein kleiner Schritt, aber er ist wichtig.“

Julia hat eine große Affinität zur schwedischen Kultur und hat sogar Schwedisch gelernt. Von dort hat sie das Prinzip "lagom" übernommen, was auf Schwedisch "genug / genau richtig" bedeutet. Für sie ist es wichtig, ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Privatleben zu halten. Wenn sie das Gefühl hat, dass ihre Energie zur Neige geht, schiebt sie ihre Arbeit beiseite und entspannt sich. Am liebsten bei Büchern, Fernsehserien, insbesondere schwedischen Krimis, Spaziergängen an der frischen Luft und Musik. Auch bestimmte Routinen halten sie in Schwung: "Ich glaube, Rituale sind sehr wichtig. Sie geben ein Gefühl von Stabilität, Ausgeglichenheit und Einfallsreichtum." 

Julia ist neugierig, wissbegierig. Ihre Interessen beschränken sich nicht auf einen Bereich, sie verlässt gerne ihre "Blase", weil sie sicher ist, dass die wirkliche Veränderung jenseits davon liegt. Sie hat sich bewusst gegen Kinder entschieden, weil ihr das viel Freiheit und Flexibilität in dem gibt, was sie tut und wie sie es tut. Sie malt sich die Lippen rot und lackiert die Nägel korallenrot -  und scheut sich nicht, über guten Sex zu sprechen oder Fotos von ihrem Urlaub am Meer zu zeigen. Es gibt immer viele Hindernisse auf ihrem Weg, aber sie lässt sich ihr Recht auf Glück nicht nehmen.