
Prosperierende Landwirtschaftsbetriebe, starke Gemeinschaften, nachhaltige Genossenschaften, Programme für gesunde Ernährung, fachliche Ausbildung und politische Bildung: Agrarökologische Ansätze geben Hoffnung. Sie ermöglichen kleinbäuerlichen, indigenen und afrobrasilianischen Familien, ihre Lebensweise zu bewahren und im ländlichen Raum in Würde zu leben. Agrarökologische Ansätze liefern Antworten auf die aktuellen Ernährungs- und Umweltkrisen.

Während auf den lateinamerikanischen Äckern Lebensmittel für mehr als 800 Millionen Menschen erzeugt werden, hat die Armut in der Region bis 2020 stetig zugenommen: Der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Comisión Económica para América Latina y el Caribe/ CEPAL) zufolge sind dabei Armut und extreme Armut in den ländlichen Regionen doppelt so hoch wie in den Städten. Die Ursachen für die Armut auf dem Land sind komplex. Nach Angaben der CEPAL sind 85,7% der in der Landwirtschaft Beschäftigten informell tätig, betrachtet man nur die Frauen, sind es sogar 91,6%. Sogenannte traditionelle Gemeinschaften in Brasilien verlieren außerdem durch die Ausweitung der industriellen Landwirtschaft immer weiter das bisher von ihnen bewirtschaftete Land. Auch ihr traditionelles Wissen geht verloren oder wird durch vermeintlich moderne Technologien ersetzt. Den Vertreter*innen der traditionellen Gemeinschaften fehlt nicht nur Land für ihre Produktion, auch die Zugänge zu Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten sowie zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung sind prekär. Staatliche Maßnahmen, um ihre Lebensweisen sowie ihre Landrechte zu schützen, gibt es kaum.

Der Zusammenhang zwischen dem Schutz der Menschenrechte und der kleinbäuerlichen Landwirtschaft und ihrer nachhaltigen Erzeugung von Lebensmitteln liegt auf der Hand: das Recht auf angemessene Ernährung, das Recht auf den Zugang zu Land sowie das Recht auf eine gesunde Umwelt greifen ineinander. Die Lebensweisen verschiedener traditioneller Völker kennzeichnet eine besondere Beziehung zwischen Mensch und Natur. Das Konzept „Buen Vivir/Bem Viver“ - das „Gute Leben“ – kommt aus den Anden und wurde aus dem Quechua („sumak kawsay“) übersetzt. In den vielen indigenen Sprachen in Lateinamerika finden sich ähnliche Konzepte: „suma qamaña“ im Aimara, „teko porã“ im Guarani oder „nhanderekó“ im Guarani Mbya. Auch die agrarökologischen Ansätze sind unmittelbar mit diesem Konzept des guten Lebens verbunden, das sowohl kollektiv, gleichberechtigt und nicht ausbeuterische Aspekte beinhaltet.
In Guatemala hat eine Studie jeweils zehn agrarökologisch wirtschaftende und zehn konventionell wirtschaftende Familien verglichen. Das Ergebnis: Die agrarökologische Produktion ist diversifizierter und erwirtschaftet letztendlich ein höheres Einkommen. Das Leben in ländlichen Regionen wird in der Studie als würdevoller und lebenswerter beschrieben: Individuen sind durch eine funktionierende Gemeinschaft besser abgesichert, Bildung und Arbeit sind besser organisiert, Männer und Frauen gleichberechtigter und Kultur wird stärker wertgeschätzt.
Auf Kuba haben staatliche Unterstützung und eine Reihe politischer Maßnahmen zur Förderung des Genossenschaftswesens, der Bereitstellung von Land an (Klein)Bäuer*innen und der Ausbildung von Vermittler*innen („facilitadores“) den Kleinerzeuger*innen die Kontrolle über das Nahrungsmittelsystem zurückgegeben. Heute sind 25% der aktiven Erwerbsbevölkerung Kubas in der Landwirtschaft beschäftigt. Trotz des eingeschränkten Zugangs zu Technologie durch die Wirtschaftsblockade berichten kubanische agrarökologische Betriebe, dass sich die Menschen zunehmend mit Lebensmitteln selbst versorgen können. Außerdem diversifizieren sie den Anbau und sind so unabhängiger von externen Inputs wie Saatgut, Pestiziden und Düngemitteln. Wasser, Boden und Wälder werden besser geschützt. Ebenso konnte durch politische Maßnahmen der Bau von Infrastruktur in den Bereichen Wohnen, Transport, Produktion, Versorgung und Lagerung erfolgen.
In Brasilien wurden ab den 2000ern staatliche Politiken zur Förderung der kleinbäuerlichen Produktion umgesetzt. Zu nennen sind hier das Nahrungsmittelbeschaffungsprogramm (Programa de Aquisição Alimentar/ PAA) und das Nationale Schulspeisungsprogramm (Programa Nacional de Alimentação Escolar / PNAE). In den ersten acht Jahren seiner Existenz hat das Nahrungsmittelbeschaffungsprogramm (PAA) mehr als 700.000 (Klein)Bäuer*innen-Familien unterstützt, mehr als 20 Millionen Menschen ernährt und in Gemüsegärten und Betriebe investiert, in denen vor allem Frauen agrarökologisch anbauen. Die agrarökologischen Bewegungen in Lateinamerika sind inzwischen länderübergreifend vernetzt und im Austausch, um gemeinsam die agrarökologische Transformation der Region voranzutreiben. Bei zahlreichen Konferenzen und Treffen tauschen sich die (Klein)Bäuer*innen-Familien über ihre Geschichte und ihre Vorfahren aus, diskutieren Bedürfnisse und zeigen Interessierten, Studierenden und Wissenschaftler*innen, wie sie ihr Land nutzen: Es geht um Arbeitsweisen und Anbaumethoden, aber auch um das Wissen rund um Flora und Fauna oder die Beschaffenheit der Böden.
In Mexiko produzieren (Klein)Bäuer*innen in agrarökologisch bewirtschafteten Gemüsegärten in insgesamt 14 Gemeinden im Norden des Bundesstaates Puebla fast 900 Kilo Lebensmittel pro Jahr. Diese Gärten werden vom Studienzentrum für ländliche Entwicklung (Centro de Estudio para el Desarrollo Rural/ Cesder) gefördert. Durch diese Arbeit sind mehr Lebensmittel für die lokale Bevölkerung zugänglich und die (Klein)Bäuer*innen – besonders die Frauen - verbessern ihre wirtschaftliche Situation und sind wirtschaftlich unabhängiger. Die Organisation Brücke zur Gemeindegesundheit (Puente a la Salud Comunitaria) unterstützt Bäuer*innen, die Nutzpflanze Amaranth agrarökologisch anzubauen und dieses im Anschluss zu vermarkten. Die Organisation unterstützt auch, dass die Bauernfamilien in Oaxaca selbst mehr Amaranth konsumieren, denn der hohe Nährwert dieses uralten Pseudogetreides trägt zur Ernährungssouveränität bei und ist gut für die Gesundheit der Menschen in dieser Region, in der schätzungsweise 61% der Bevölkerung von Ernährungsunsicherheit betroffen sind.
In Kolumbien trotzen indigene Gemeinschaften im Süden des Verwaltungsbezirks Tolima und afro-kolumbianische Gemeinschaften im Norden des Verwaltungsbezirks Cauca mit ihren agrarökologischen Anbaumethoden der fehlenden Unterstützung durch den Staat. In Tolima produzieren über 2.000 Frauen der Vereinigung für eine Zukunft in Frauenhänden (Asociación para el futuro con manos de mujer/ Asfumujer) in Gemüsegärten Lebensmittel und Heilpflanzen, züchten Tiere und sind Expertinnen für einheimisches Saatgut, Wasser und Böden. In Kolumbien ist das agrarökologische Konzept ein wichtiger Baustein im Friedensprozess. Agrarökologie kann überall betrieben werden und verleiht den Gemeinschaften eine gewisse Autonomie. In den sogenannten Ausbildungs- und Wiedereingliederungsgebieten (Espacios Territoriales de Capacitación y Reincorporación/ ETCR) verwirklichen beispielsweise einige ehemalige Guerilla-Kämpfer*innen Projekte für agrarökologischen Anbau und Tourismus mit dem Ziel, u. a. die Geschichte ihrer Gemeinden und Gebiete zu bewahren.
Das Konzept der Agrarökologie bietet der Landbevölkerung Lateinamerikas viele Möglichkeiten. Es gibt viele Beispiele, die unsere Aufmerksamkeit verdienen: die Frauen der Calmañana-Kooperative in Uruguay; die Initiativen für eine agrarökologische Transformation im Kaffeeanbau von San Ramón in Nicaragua oder Veracruz in Mexiko; die biodiversen Agrarökosysteme, die von der Erzeugergemeinschaft Ciénaga Grande del Bajo Sinú (Asprocig) in Kolumbien unterstützt werden. Es braucht politische Maßnahmen und Anreize, um diese kleinbäuerlichen Projekte in ländlichen Regionen zu unterstützen und auszuweiten.
Übersetzung aus dem Portugiesischen: Barbara Leß-Correia Mesquita
Redaktion: Lateinamerika-Referat und Lena Luig
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Portugiesisch im Agrarökologie-Dossier des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro.
Autor*innenkollektiv des lateinamerikanischen Agrarökologie Dossiers
Mitarbeiter*innen der Heinrich-Böll-Stiftung: Ingrid Hausinger (Büro San Salvador, Zentralamerika), Marcelo Montenegro (Büro Rio de Janeiro), Emilia Jomalinis, Joana Simoni, Maureen Santos (zuvor Büro Rio de Janeiro), Dolores Rojas und Jenny Zapata (Büro Mexiko-Stadt); Natalia Orduz Salinas (zuvor Büro Bogotá), Gloria Lilo (zuvor Büro Santiago de Chile), Pablo Arístide (Büro Buenos Aires)
Wissenschaftliche Mitarbeit: Rodica Weitzman, Marcus Vinicius Branco de Assis Vaz, Dulce Espinosa und Luis Bracamontes, Julián Ariza, Irene Mamani Velazco, Henry Picado Cerdas, Corporación Ecológica y Cultural Penca de Sábila
Gastautor*innen: Giuseppe Bandeira, Júlia Dolce, Nemo Augusto Moés Côrtes
Quellen und weiterführende Literatur auf Spanisch bzw. Portugiesisch
BBC Mundo (2021). “Covid-19 en América Latina: los países donde más aumentó la pobreza extrema durante la pandemia (y los dos donde insolitamente bajó)”.
https://www.bbc.com/mundo/noticias-57165791
CEPAL, FAO e IICA (2021). Perspectivas de la agricultura y del desarrollo rural en las Américas. Una mirada hacia América Latina y el Caribe 2021-2022.
https://repositorio.cepal.org/server/api/core/bitstreams/ec3e9a9f-593e-4c55-85a3-b5eefbeca839/content
Alexandra Praun et al. (2017). “Algunas evidencias de la perspectiva agroecológica como base para unos medios de vida resilientes en la sociedad campesina del occidente de Guatemala”. Coloquio Internacional Elikadura 21: El futuro de la alimentación y retos de la agricultura para el siglo XXI. País Vasco, abril 24 al 26.
https://www.trocaire.org/sites/default/files/resources/policy/future-food-challenges-21st-century.pdf
Jesús M. Rey-Novoa y Fernando R. Funes-Monzote (2014). “La familia campesina Rey-Novoa: una transición agroecológica. Leisa vol. 29, n.° 4 [pp. 12-14].
https://www.leisa-al.org/web/images/stories/revistapdf/vol29n4.pdf
Ángel Calle Collado et al. (2013). “Agroecología política: La transición social hacia sistemas agroalimentarios sustentables”. Revista de Economía Crítica n.° 16.
https://core.ac.uk/download/pdf/51383182.pdf
Regina Helena Rosa Sambuichi et al. (2020). Nota Técnica n.° 17. O Programa de Aquisição de Alimentos (PAA): instrumento de dinamismo econômico, combate à pobreza e promoção da Segurança Alimentar e Nutricional (SAN) em tempos de Covid-19. IPEA.
https://www.ipea.gov.br/portal/images/stories/PDFs/nota_tecnica/200518_nota_tecnica_dirur_n_17.pdf
Juan Martínez Lobato (2017). Manual para la construcción de una unidad de producción orgánica biointensa. Puebla: Cesder y Merendero de Papel.
https://docs.wixstatic.com/ugd/b052e1_d53a20872fc042178960d88db9f5701b.pdf
Puente a la Salud Comunitaria.
https://www.puentemexico.org/trabajo/
Álvaro Acevedo y Nathaly Jiménez (comps.) (2019). La agroecología. Experiencias comunitarias para la agricultura familiar en Colombia. Bogotá D. C.: Uniminuto y Universidad del Rosario.
https://repository.urosario.edu.co/server/api/core/bitstreams/f1feab76-6e7f-45fa-b6c4-2d42329f20d2/content
Laura Mateus Moreno (2016). “La agroecología como opción política para la paz en Colombia”. Ciencia Política, UNAL, vol. 11, n.° 21 [p. 57-91].
https://revistas.unal.edu.co/index.php/cienciapol/article/view/60291/57777
Defensoría del Pueblo de Colombia [s. f.]. Informe Espacios Territoriales de Capacitación y Reincorporación.
https://www.defensoria.gov.co/-/informe-defensorial-espacios-territoriales-de-capacitaci%C3%B3n-y-reincorporaci%C3%B3n-etcr-
CEPAL (2021). Panorama Social de América Latina 2020.
https://repositorio.cepal.org/server/api/core/bitstreams/500c9ce1-b11e-49d9-99a3-b3f371332f70/content