Neben seinem literarischen Schaffen betätigte sich Wasyl Stus auch als Literaturkritiker. So führte er mitteleuropäische Autor*innen und ihre Werke durch Kritiken in den ukrainischen Sprachraum ein, darunter Heinrich Böll.

Neben seinem literarischen Schaffen betätigte sich Wasyl Stus auch als Literaturkritiker. Dabei stellte er ukrainische Literatur auch in den (mittel-)europäischen Kontext und führte mitteleuropäische Autoren und ihre Werke durch Kritiken auch in den ukrainischen Sprachraum ein, darunter Heinrich Böll. Nachdem Stus in Ungnade gefallen und aus der Universität Kyjiw ausgeschlossen wurde, konnte sein Text von 1965 „Mit den Augen eines Humanisten“ über Heinrich Böll aber nirgendwo mehr öffentlich erscheinen. Aus Anlass der ersten internationalen Ausstellung über Wasyl Stus im Pilecki-Institut präsentiert die Heinrich-Böll-Stiftung diesen Text erstmals in deutscher Sprache.
„… der Zug, in den ich hatte einsteigen wollen, stand abfahrbereit, er stand unter Dampf, die Mitreisenden waren schon eingestiegen, das Signal schon hochgezogen, und der Mann mit der roten Mütze hatte die Kelle schon erhoben, alles wartete nur darauf, dass ich, der schon auf dem Trittbrett stand, schnell noch einsteigen würde, aber in diesem Augenblick war ich schon abgesprungen“, so betrachtet sich von der Seite Walter Fendrich, der Protagonist in der Erzählung „Das Brot der frühen Jahre“.
In den Werken von Heinrich Böll, einem talentierten westdeutschen Schriftsteller der Gegenwart, zeigt sich ein solches Verhalten bei allen Figuren. Auch Raimund Bach, Fred Bogner, Lehrer Schrella und Hans Schnier hätten sich ähnlich verhalten können. Diese Charaktere, die Böll besonders am Herzen liegen, teilen viele Gemeinsamkeiten. Die Ähnlichkeiten resultieren aus der Verbindung zwischen den Figuren und dem Autor sowie aus seinem tief menschlichen Weltbild, das selbst auf kleinste Ungerechtigkeiten sensibel reagiert.
Am Kölner Bahnhof, der Stadt, in der der Autor der Romane „Billard um halb zehn“ und „Ansichten eines Clowns“ geboren wurde und lebt, fahren Züge in alle möglichen Richtungen. Doch keine dieser Routen scheint Böll zufrieden zu stellen. In seinen 50 Lebensjahren hat er – ebenso wie seine Figuren – viele Wege beschritten, doch jeder einzelne führte ihn zu einer Enttäuschung. Böll ist fest davon überzeugt, dass der Weg des Humanismus noch nicht eingeschlagen wurde. Diejenigen, die verzweifelt nach diesem Weg suchen, müssen weiterhin auf ihren Zug warten, während sie auf stillen, menschenleeren Gleisen umherirren. Das Weltbild des Schriftstellers ist alles andere als optimistisch, und es wäre unfair, ihm das vorzuwerfen. In seiner Sichtweise zeigt sich Pessimismus nicht nur als Mutlosigkeit; vielmehr rührt er auch von der ernüchternden Erkenntnis her, dass unsere Umgebung oft ziemlich trostlos ist.
Heinrich Böll wurde am 21. Dezember 1917 in Köln als Sohn eines Tischlers geboren. Von Kindheit an galt der zukünftige Schriftsteller als das schwarze Schaf der Familie. Er lebte in einer Zeit, in der jeder Mensch einem Härtetest gegen die ansteckende Ideologie des wahnsinnigen Führers ausgesetzt war. Böll erinnert sich, dass es an dem Gymnasium, in dem klassische Philologie unterrichtet wurde (man beachte: klassische Philologie in Deutschland zur Zeit der Ausrufung einer neuen Ära!), nur sehr wenige Schüler gab, die der Hitlerjugend fernblieben. Einer von ihnen war Böll. Möglicherweise entwickelte sich dieser „Immer-der-Fremdling-Komplex“ zusätzlich unter dem Einfluss der familiären Atmosphäre, in der der katholische Glaube gewissenhaft praktiziert wurde.
Bald erkennt der junge Böll, dass die ihm durch die alten Klassiker vermittelte humanistische Überzeugung von der geistigen Anständigkeit der Menschheit im krassen Widerspruch zur Realität der täglichen faschistischen Willkür steht. Es zeigt sich, dass das Wissen über Lucretius und Thukydides in der Lebenspraxis wenig nützt, wenn es darum geht, sich im Alltag zurechtzufinden und sich an die Gegebenheiten anzupassen. Die Welt beginnt, nach anderen Gesetzen zu funktionieren, die jeglicher Menschlichkeit entbehren.
Der junge Böll beginnt eine Lehre bei einem Altbuchhändler, was eine der wenigen Optionen für ihn darstellt. Doch lange kann er sich nicht dem Sortieren der alten Bücher widmen: Im Jahr 1939 wird ihm ein Gewehr in die Hand gedrückt, und gegen seinen Willen geht er in Polen, Frankreich, auf der Krim und bei Jassy in den Krieg. An der Front reift er, und mit dieser Reife kehrt er später in die zerstörten Städte des Nachkriegsdeutschlands zurück und trifft auf seine Mitmenschen. Diese Reife war jedoch von besonderer Art: In den prägenden Jahren seiner Persönlichkeit wurde er zum Soldaten gemacht und gezwungen, Dinge zu tun, gegen die seine Seele sich am stärksten widersetzte. Er wurde daran gehindert, sein wahres Ich zu leben. Gemeinsam mit dieser Reife kamen Hass und Schmerz – möglicherweise manifestierte sich die Reife sogar in Form von Hass und Schmerz.
Später arbeitet Böll als Gehilfe bei einem Tischler und studiert gleichzeitig an der Universität zu Köln Deutsche Philologie. In diesen Jahren nimmt er seine durch den Krieg unterbrochene literarische Tätigkeit wieder auf. Seine ersten schriftstellerischen Vorkriegsversuche sind leider nicht erhalten geblieben, was eine symbolische Bedeutung hat. Die Städte in Trümmern spiegelten sein inneres Empfinden wider: Die ruinierte Umgebung stellte eine Parallele zu den beschädigten Seelen dar. Zu dieser Zeit formierte sich eine Gruppe unabhängiger westdeutscher Literaten mit dem Ziel, die Zeitschrift „Der Ruf“ zu gründen. Obwohl die Zeitschrift nur von kurzer Dauer war, bildeten die um sie versammelten Schriftsteller ein Jahr später die berühmte Gruppe 47. In demselben Jahr erschien Bölls erste Erzählung „Die Botschaft“ in der Zeitschrift „Karussell“.
Zu Beginn der 1950er Jahre intensiviert sich Bölls Kontakt zur Gruppe 47. Er engagiert sich aktiv in der Arbeit der Zeitschrift „Die Literatur“, dem literarischen Organ der Gruppe.
Als Böll einige Jahre später die Literatur dieser Epoche reflektiert, schreibt er, dass die Menschen, die von der Schriftstellergeneration jener Zeit portraitiert werden, in den Ruinen ihrer Existenz leben. Sie kehrten aus einem verheerenden Krieg zurück, und auch ihre Frauen und Kinder waren gezeichnet von den traumatischen Erlebnissen. Es scheint, als währte der Krieg unvermindert fort, und nichts in oder um diese Menschen herum ließ an ein Idyll denken. Böll beschreibt diese Literatur als einen Spiegel des Krieges, eine Auseinandersetzung mit den Schicksalen jener, die einst Soldaten waren, eine Erzählung über das Elend der Trümmer. Die Autoren dieser Werke hatten das Schicksal der Opfer des vergangenen Krieges so tief verinnerlicht, dass sie sich in vielerlei Hinsicht mit ihnen identifizierten.
Bölls zentrales Anliegen ist das Schicksal des sogenannten kleinen Mannes.
An dieser Stelle sei an die Prosa von Wolfgang Borchert erinnert, einem Schriftsteller, zu dem Heinrich Böll aufblickte. In vielerlei Hinsicht war Bölls Prosa derjenigen Borcherts ähnlich. Eine zentrale Gemeinsamkeit bildeten dabei die Lebenserfahrung sowie das Erleben von Schmerz und Hass. In jenen Jahren schien eine solche Gemütsverfassung in der Luft zu liegen. Es ist daher nicht überraschend, dass sich das Interesse auf Namen wie Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Georg Trakl und Gottfried Benn sowie auf die Werke der Expressionisten und den Existentialismus richtete.
Bereits die ersten Werke von Böll – die Erzählung „Der Zug war pünktlich“, die Kurzgeschichtensammlung „Wanderer, kommst du nach Spa…“ und der Roman „Wo warst du, Adam?“ – bewiesen, dass ein begnadeter Prosaiker in die Literatur eintrat. Dies war für alle offensichtlich. Ein Jahr nach der Veröffentlichung seiner Kurzgeschichtensammlung erhielt Böll für seine Erzählung „Die schwarzen Schafe“1 den Literaturpreis der Gruppe 47.
Auf den Seiten seiner frühen Werke werden wir mit erschreckenden Bildern der Kriegsjahre konfrontiert. Doch Böll begnügt sich nicht mit der bloßen Darstellung dessen, was er erlebt hat. Er analysiert und transformiert das Gesehene, führt es zusammen mit den apokalyptischen Schrecken des Krieges; sein Schmerz verwandelt sich in Hass und hinterlässt auf seiner schriftstellerischen Leinwand den Eindruck phantasmagorischer, grotesker Visionen.
Die Kritiker weisen darauf hin, dass beim Lesen von Bölls Werken unweigerlich die Namen von Fjodor Dostojewski, Ernest Hemingway und Erich Maria Remarque in den Sinn kommen. Dieses Assoziieren ist jedoch nicht zufällig, sondern resultiert aus der gemeinsamen thematischen Grundlage. Bölls zentrales Anliegen ist das Schicksal des sogenannten kleinen Mannes, der insbesondere aufgrund der widrigen Umstände, in denen er lebt, nur begrenzte Optionen für sein Dasein hat.
Um es präzise zu formulieren: Es geht hier um den Menschen, dem Respekt gebührt und der hohe moralische Werte besitzt, der jedoch in den engen Rahmen einer vom totalitären Regime erlaubten Existenz gepfercht wurde. Sobald Bölls Protagonisten sich in diesem Rahmen befinden, stellen sie unzählige Fragen nach dem „Warum“. Diese Fragen der „Zwangspassagiere“ sind keineswegs rhetorisch, und dennoch erhalten die Figuren nirgendwo Antworten darauf. Auch der Autor gibt keine Antwort, abgesehen von seinen früheren Versuchen, auf die Kreuzigung Jesu zu verweisen. Dieser bedrückende Zustand wird von heftigen Anfällen der Verzweiflung geprägt: „Ich verstand, dass ich nicht vorwärts wollte, ich wollte umkehren, wohin genau, wusste ich selbst nicht, ich wusste nur Eins: Ich muss umkehren“. Die Wirklichkeit der Nachkriegszeit wird von Bölls Protagonisten vor allem als Hiersein in der Situation X wahrgenommen. So ist es nicht verwunderlich, dass sich manche Figuren in seinen Erzählungen bis an ihr Lebensende gefangen fühlen.
Die Dokumentation des tragischen Lebens des Einzelnen und die Erkenntnis der Tragik der Gesellschaft als Ganzes bilden die Parameter von Bölls Geschichtsphilosophie seiner Zeit. Zumindest ist sein Frühwerk davon geprägt. Der Zug als Inbegriff einer blinden, seelenlosen Bewegung wird zu einem der am häufigsten verwendeten Bilder, das ein eisernes, augenloses Fatum symbolisiert.
Andreas, die zentrale Figur in einer früheren Erzählung von Böll, teilt eine ähnliche Einstellung zu den Zügen. Er empfindet Angst vor der Eisenbahn, die ihn dem Tod näherbringt, irgendwo zwischen Lemberg und Czernowitz. Obwohl er die Eisenbahn verabscheut, kann er nichts dagegen unternehmen. „Ich war wie versteinert; dieser Zug ist Teil von mir geworden und ich von ihm.“ Eine blinde Macht verschlingt ihn, und nur gelegentlich dringt die Angst an die Oberfläche, auf fremdem Boden im reifen Korn eines Heldentodes zu sterben. Ein bedeutendes Detail ist, dass Andreas sich seiner eigenen Mission bewusst ist, die ihm gegen seinen Willen auferlegt wurde: die eines Täters. Er fürchtet, dass der Tod ihn ereilen wird, wenn dieses Gefühl besonders stark zum Vorschein kommt. Doch dem Tod konnten nicht einmal jene entkommen, die gegen ihren Willen unter die faschistischen, verbrecherischen Banner traten. Der Tod holte sie mehrfach ein, nahm ihnen immer wieder das Leben. Feinhals, der Protagonist des Romans „Wo warst du, Adam?“, stirbt, und seine Leiche wird von der weißen Fahne bedeckt, die auf dem Dach seines Elternhauses wehte.
Der Zug als Inbegriff einer blinden, seelenlosen Bewegung wird zu einem der am häufigsten verwendeten Bilder
Zu dieser Zeit, als die Nazis von gestern in der Bundesrepublik Deutschland nach der jüngsten Entstehung der beiden deutschen Staaten ihre Köpfe zu erheben begannen, begann das so genannte „Wirtschaftswunder“. Was früher Situation X genannt wurde, konnte nun klar definiert werden. Aus dem jüngeren Nebel tauchten neue Brontosaurier auf, die den Bressens und Filskeits von gestern zum Verwechseln ähnlich waren – "Aristokraten" nach der Art der Nettlingers und Geselers. Erst vor kurzem rezitierten sie Rilkes Gedichte und erschossen mit eigenen Händen Unschuldige und heute geben sie vor, Christus liebende Prediger zu sein oder machen ohne jegliche Scham Geschäfte mit allem, was ihnen Gewinne einbringt: mit Religion, Kunst und Kinderspielzeug, was an die schrecklichen "Spielzeuge" der Hitlerwehr erinnert. Böll erkennt, dass die Realität um ihn herum der Welt in Los Caprichos von Goya ähnelt. Es bedarf keiner übermäßigen Phantasie, um sich eine ähnlich gruselige Szenerie vorzustellen.
Der Autor wendet sich zunehmend der Satire zu. Bereits 1952 wird seine satirische Erzählung „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ veröffentlicht, in der er einen Schlag gegen jene führt, die sich erneut Gedanken über die Erneuerung des Reichgeistes im Reichskörper machen.
Die Stimme des Autors beginnt, sich zu wandeln. In diesen Jahren entstehen die Romane „Und sagte kein einziges Wort“, „Haus ohne Hüter“ und die Erzählung „Das Brot der frühen Jahre“, die man mit Vorbehalt als Werke einer Übergangszeit betrachten kann. Darauf folgen die Romane „Billard um halb zehn“ und „Ansichten eines Clowns“, in denen der Autor zur Interpretation eines ganzen Jahrhunderts und zur scharfen Kritik an der degradierten modernen Gesellschaft übergeht.
In der zweiten Hälfte der 50er Jahre veröffentlicht der Autor mehrere Kurzgeschichtensammlungen, darunter den Band „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen und andere Satiren“, dem besonderes Augenmerk gilt.
Neben den bereits erwähnten Werken sind dem Leser auch Bölls künstlerische Gemälde wie „Irisches Tagebuch“ und die jüngste, 1964 verfasste Erzählung „Entfernung von der Truppe“ bekannt. Es sei angemerkt, dass der Leser mit jedem neuen Werk des Schriftstellers immer wieder neue Facetten seiner einzigartigen Gabe entdeckt: Der Autor gewinnt an Tiefe und Umfang, sein Sinn für Humanismus wird konkreter, und seine Konflikte mit der düsteren Realität Westdeutschlands verschärfen sich.
Über Bölls Erzählungen könnte man sagen, dass sie aus der Feder eines Romanschriftstellers stammen. Der Sinn dieser Erzählungen erschließt sich erst, wenn jede einzelne im Kontext der anderen betrachtet wird. Nur das Wissen um den allgemeinen Hintergrund ermöglicht es, das dem Schriftsteller innewohnende Konzept des Menschen vollständig zu begreifen.
Bölls Protagonisten bekleiden in der Regel keine hohen Ämter. Die Fragen nach dem Leben stehen für sie im Mittelpunkt: Fast immer dreht sich alles um das Thema Überleben. Mit Bölls bekannten Worten über Borchert, in leicht abgewandelter Form, lässt sich dem Leser dieses schmalen Buches verdeutlichen, wie schwierig es manchmal oder gar unmöglich ist, in dieser ausbeuterischen Welt man selbst zu bleiben, als wäre diese Welt gezielt so gestaltet, dass jede menschliche Individualität entpersonalisiert wird.
Bölls Protagonisten leben in ständiger Unsicherheit. Sie erinnern an einen Quecksilbertropfen aus dem Rohr eines Thermometers. Fast jeder von ihnen geht Wege, die ihrem eigenen Willen zuwiderlaufen; sie bewegen sich unter Zwang, ohne die Möglichkeit, diesem sich verändernden Zustand zu entkommen. Walter Fendrich in der Erzählung „Das Brot der frühen Jahre“ war Banklehrling, Verkäuferlehrling, Tischlerlehrling und Elektriker. Er reparierte Waschmaschinen, und es schien, als hätte er eine gewisse Ruhe erreicht, doch im Grunde tat er das, wozu er am wenigsten Lust verspürte. Bölls Protagonist in der Erzählung „Die schwarzen Schafe“ ist ähnlich. „Wenn ich bedenke, daß ich mich immerhin drei Monate der Physiognomik gewidmet hatte, bis ich mich zuletzt innerhalb eines einzigen Nachmittags entschloß, Maler, Gärtner, Mechaniker und Matrose zu werden, und daß ich mit dem Gedanken einschlief, ich sei zum Lehrer geboren, und aufwachte in der felsenfesten Überzeugung, die Zollkarriere sei das, wozu ich bestimmt sei…!“
Jeder von Bölls Protagonisten ist ein schwarzes Schaf
Die Auswahl der natürlichen Bestimmungen ist aussagekräftig. Der Mensch, der in dieser Welt völlig verzweifelt ist, beginnt, die Mängel des Weltgefüges als seine eigene Sünde wahrzunehmen. Nicht von ungefähr fühlt sich der wunderbare Clown Schnier gelegentlich als „Mensch, der der Bezeichnung ‚Mensch‘ nicht würdig ist“. Eine seit langem bestehende, erstarrte Verzweiflung wird zur normalen Stimmung. Diese Menschen, die längst aus ihrer Bahn geworfen wurden, haben jeglichen Glauben daran verloren, dass es diese Bahn jemals wieder geben wird. Sie ergeben sich ihrem vom Schicksal vorgezeichneten Unglück. „Hier ist Tibten, Sie sind in Tibten“, wiederholt der Bahnhofsansager monoton – ein Mensch, der seinerzeit fünf Universitäten besucht und zwei Doktorgrade erworben hat.
Jeder von Bölls Protagonisten ist ein schwarzes Schaf; jeder scheint ein gestörtes biologisches System von Reaktionen auf die Welt zu haben, und der Selbsterhaltungstrieb scheint bei ihnen verkümmert zu sein.
Beinahe die einzige Situation, die von diesen Menschen als normal wahrgenommen wird, ist die der Kindergesellschaft – das Umfeld kleiner Menschen, die die Weisheit der von Erwachsenen „geordneten“ Welt noch nicht begriffen haben. Selbst Onkel Ottos Neffe weiß: Nur mit Kindern kam er gut zurecht. Sie waren die Einzigen, die für Innigkeit mit Innigkeit zurückzahlten. „Säuglinge werden ruhig, sobald sie auf meinen Armen liegen, und wenn sie mich ansehen, lächeln sie, … obwohl man sagt, daß mein Gesicht die Leute erschreckt“.
Eine andere Figur von Böll merkt an, dass im Leben eines Kindes selbst das Banalste an Gewicht gewinnt: Das Kind sei einsam, wolle mit nichts fertig werden und trage etwas Tragisches in sich. Das Kindliche ist das, was jede der Figuren Bölls versteht und schätzt: „In den Augen dieser beiden Kinder, die im Spiegel hinter meinem Gesicht stehen und mir zunicken, liegt eine Weisheit, die ich erkenne.“ Nicht umsonst übersetzte Böll Werke von Salinger. Das Thema des Kindlichen als letzter Zufluchtsort der menschlichen Tugend ist beiden Autoren gleichermaßen eigen.
Diese schriftstellerische „Camera obscura“ der kindlichen Perspektive wirft ein Licht auf die Absurdität vieler Lebenssituationen. In der Erzählung „Eine Kiste für Kop“ stellt ein altes Großmütterchen zwei Stühle nebeneinander neben ein Kinderkarussell, legt darauf Matratzen, auf denen noch „Magasin du Louvre“ zu lesen ist, ein zerlesenes Buch mit dem Titel „Links und rechts der Eisenbahn, Gelsenkirchen bis Essen“, eine englische Illustrierte aus dem Jahr 1938 sowie eine kleine Blechdose für Farbbänder. Ist es etwa nicht absurd, diese Gegenstände zum Verkauf anzubieten? Und wie bitter ist der Schmerz, wenn der Schwarzmarkthändler Lasnow in einem absurden Zwiegespräch mit seiner Frau darüber spricht, wofür man eine Zuckerzange verwenden kann, wenn es keinen Zucker gibt? Irgendein unglückseliger Junge kommt auf die Idee, diese Zuckerzange zum Herausziehen von Zigarettenstummeln aus den engen Ritzen der Fußbodenbretter zu verwenden.
Die Absurdität des Schicksals der Gegenstände spiegelt die Absurdität sozialer Beziehungen wider. Diese Absurdität wird von Bölls Figuren selbst dann wahrgenommen, wenn das Leben für sie als das große Unbekannte erscheint. Ein unerfahrener Gymnasiast wird eingezogen und an die Front geschickt. Erst drei Monate zuvor hatte er an die Tafel seines Gymnasiums eine berühmte Inschrift geschrieben, die an die dreihundert Spartaner erinnert, die den Überfall der Perser abwehrten und den Heldentod bei den Thermopylen starben. Doch die Inschrift wollte ihm nicht gelingen; er konnte sie nicht auf der schwarzen Tafel unterbringen. Nun kehrt er, verstümmelt, ohne Arme und mit nur einem Bein, in sein Gymnasium zurück, das mittlerweile als Notlazarett dient. Auf einer Trage wird er durch das Gebäude getragen. Aus den bekannten Bilderrahmen blicken ihm Gaius Iulius Caesar und Marcus Aurelius entgegen. Er sieht Friedrich Wilhelm Nietzsche mit seiner markanten Spitznase und den wachsgelben Parthenonfries. Doch was ihn am meisten trifft, ist die unvollendete Inschrift, die seine eigene, unsichere Hand nicht zu Ende bringen konnte. Dies ist ein Beispiel für Bölls Satire, die sich in Tränen auflöst.
Die Absurdität des Schicksals der Gegenstände spiegelt die Absurdität sozialer Beziehungen wider.
Manchmal weckt die Absurdität einer scheinbar geordneten Welt entfernte Assoziationen zu Kafka. Ist es nicht geradezu kafkaesk, wenn eine Person zunächst verurteilt wird, weil sie ein heiteres Aussehen hat, und später, weil sie traurig wirkt? Ein zufälliger Polizist, der als Sprachrohr des Gesetzes agiert, erinnert einen Gefangenen daran, dass es „ein Gesetz gibt, das vorschreibt, dass alle glücklich sein müssen“. Verstößt jemand mit seinem Gesichtsausdruck gegen dieses Gesetz, drohen ihm zehn Jahre Haft. Bölls Figur beschließt schließlich, gesichtslos zu sein, denn dies ist die einzige Form der Existenz, die unter den Bedingungen des faschistischen Totalitarismus erlaubt ist.
Böll gelingt es überzeugend, dem Leser nahezubringen, dass die Nivellierung der menschlichen Persönlichkeit aus sozialer Sicht äußerst gefährlich ist. Sie führt zu einem radioaktiven Zerfall der Seele und einem moralischen Niedergang der Menschheit. Dies wird besonders deutlich in der Figur des Vorgängers von Hans Schnier aus der Erzählung „Der Mann mit den Messern“. Ebenso wird die erschreckende Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden anderer in der Erzählung „Der Tod der Elsa Baskoleit“ spürbar. Ein weiteres Produkt dieses Zerfalls ist Bur-Malottke, ein Autor, der Bücher zu philosophischen, religiösen, kulturellen und historischen Themen verfasst. Er manipuliert die Inhalte herzlos und präsentiert sie als Grundlage seines eigenen Glaubens. Dabei führt er eine „äußerst grundlegende“ Korrektur an seinem eigenen Werk durch: In einem seiner Beiträge streicht er das Wort „Gott“ und ersetzt es durch ein anderes, während er in einem anderen Beitrag genau das Gegenteil tut.
Das Ganze bildet vielleicht die größte Grundlage für Bölls sozialen Pessimismus, denn er ist sich der Tatsache bewusst, dass die Zerstörung der Seelen irreparabel ist. 1964 äußerte Böll vor Studierenden der Universität Frankfurt: „Wir helfen einander nicht, wir halten nicht zusammen, wir sind nicht miteinander verbunden… Zu viele Nachbarschaften wurden zerstört, nicht unbedingt aus Hass oder Fanatismus, sondern auf Befehl, einfach auf Befehl: enttäuschte Nachbarschaft, enttäuschtes Vertrauen, enttäuschter Glaube. Jeder Mord, jeder Schlag, jeder Hieb – auf Befehl ausgeführt – schuf ganze Areale zerstörter Nachbarschaften und des mit Füßen getretenen Vertrauens.“ Es ist kein Zufall, dass von einigen schriftstellerischen Leinwänden Bölls die Unabwendbarkeit einer gemeinsamen Katastrophe ausgeht. In der Erzählung „Über die Brücke“ fährt ein Zug Menschen über einen Abgrund. Von der Brücke blieb nur ein schmales Doppelgleis, die Brückenträger waren vollständig zerstört: „Und plötzlich war es, als werde mit kleinen Hämmern unter den Boden unseres Wagens geklopft, und auch wir verstummten und sahen es: nichts, nichts, nichts...; links und rechts von uns war nichts, eine gräßliche Leere“.
Die Menschheit über dem Abgrund – das ist das bitterliche Fazit, das Heinrich Böll in seiner Verzweiflung zu ziehen wagt. Dies führt Walter Fendrich zu der ernüchternden Erkenntnis seiner Einsamkeit in einer Welt, die von Menschenfeindlichkeit geprägt ist. Bei Begegnungen mit Menschen aus seinem Umfeld schien er bewusst deren Charme abzulehnen, als wolle er sich von dem ersten Eindruck des „Geruchs, der von diesen Menschen ausgeht“, befreien: „…ich nahm die Gerüche von ihnen weg, diese ganze Grandezza, die so preiswert ist… und ich weckte den Wolf, der immer noch in mir schlief.“
Angesichts dieser brutalen Welt gewinnen Bölls kleine Leute, die das Sakrament des Lammes empfangen haben, eine individuelle Gestaltlosigkeit. Sie werden zwischen dem stolzen Geist eines Humanisten und dem tristen Alltag, der auf das Überleben fokussiert ist, hin und hergerissen. In jedem von ihnen scheinen zwei leidende Wesen zu leben: Das eine fristet sein Dasein und verdient seinen Lebensunterhalt auf die am wenigsten abscheuliche Weise, während das andere ein entblößter und kranker Geist ist, der wie aus einem gequälten Körper gerissen erscheint. Dieses andere Wesen erhebt sich über den unerträglich engen Flur des erlaubten Lebensraums, indem es in der Wahrnehmung seines eigenen Schmerzes eine Art Rettung findet. Während das erste Wesen in der erstickenden und tristen Atmosphäre des westdeutschen Nachkriegsrevanchismus existiert, flüchtet das andere ins Träumen.
Die Kinder des Stationsvorstehers haben Malbücher geschenkt bekommen. Auf der einen Seite konnte man fertige bunte Bilder sehen, auf der anderen die Umrisse, in die man Farben hineinmalen musste. Allerdings haben sie nur einen Bleistift. Deswegen ist auch ihr ausgemaltes Bild schwarz. „Es war wohl keine Farbe mehr da, nur Bleistift – grau, dreckig, dunkel…“ Das Schlimme ist, dass Bölls Menschen im Zustand der echten Abgeschlagenheit das Schwarze für die natürliche Farbe halten und sie sogar wertschätzen, weil es die Farbe der echten Wirklichkeit ist. Eine der Böll Figuren bringt es so zum Ausdruck: „Ich wollte nur die Negative sehen“.
Bölls Figur Fendrich hegt einen tiefen Hass gegen den niederträchtigen Heuchler Wickweber: "…und für diesen Augenblick blieb da, wo mein Haß gewesen war, eine leere Stelle, ein sehr leichtes Nichts, das mich zu tragen schien wie die Schwimmblase den Fisch, nur für einen Augenblick, dann spürte ich, wie diese Stelle sich füllte mit etwas, das schwer war wie Blei: mit Gleichgültigkeit tödlichen Gewichts.“ Fendrich ist sich der Doppelexistenz des in dieser Welt gefangenen Individuums bewusst. Mit seinem eigenen Auto fährt er zum Bahnhof und hat das Gefühl, es sei nicht er selbst, sondern sein Zwillingsbruder, der ihm aufs Haar gleicht.
Vielleicht sprechen viele von Bölls Figuren – insbesondere jene, die als „Lämmer Gottes“ dargestellt werden – aus diesem Grund mit unterschiedlichen Stimmen. Der Ich-Erzähler in der Erzählung „An der Brücke“ wird als nicht besonders gebildet beschrieben. Dennoch erzählt er seine Geschichte so gekonnt, dass die Narration seiner „Bildungsferne“ an das Beste von Böll erinnert: den musikalisch komponierten Satz, den ruhigen und gemächlichen Fluss der Intonation sowie die hohe Kultur des Denkens, die es den Kritikern ermöglicht, über die dem Schriftsteller innewohnende exklusive Beschaffenheit seines Denkens zu urteilen. Ein ähnliches Gefühl stellt sich beim Lesen der Erzählungen „Wanderer, kommst du nach Spa…“ und „Lohengrins Tod“ sowie bei vielen anderen Werken ein.
Diese stilistische Abfolge der Sprache bei Bölls Figuren resultiert daraus, dass der Autor als Schriftsteller und Dichter den Versuch unternimmt, seine Charaktere selbst zu synchronisieren. Tatsächlich scheint es ihm weniger um die soziale Konformität seiner Figuren zu gehen als vielmehr um das komplexe Thema ihrer Wahrnehmung der tristen Wirklichkeit. Denn diejenigen, die das Sakrament des Lammes empfangen haben, tragen ebenfalls eine schwere Last.
Die Welt ist so unbegreiflich, so unlogisch und so unnatürlich geworden, dass nur Verrückte ihre Gesetze verstehen können.
Bölls Darstellung der gegenwärtigen westdeutschen Realität wird nicht heller; vielmehr verdichtet sich ihre Dunkelheit wie verschütteter Teer. In dieser Welt kommen nur die zurecht, die in der Dämmerung auf die Jagd gehen – Nettlinger, Vacano und ähnliche Gestalten.
Bölls gutherzige „kleine“ Leute betrachten die Besitzer großer Bankkonten und leerer Seelen als ihre persönlichen Feinde. Walter Fendrich hegt einen tiefen Hass gegen die wohlhabende Frau Joos, ebenso gegen den Inhaber der Werkstatt, in der Waschmaschinen repariert werden. An die prüde Tochter des Besitzers wendet er sich mit den Worten: „Studiere die Lohnlisten noch einmal durch. Listen, die du geführt hast, lies die Namen noch einmal – laut und andächtig, wie man eine Litanei liest -, rufe sie aus und sage hinter jedem Namen: Verzeih uns – dann addiere die Namen, multipliziere die Zahl der Namen mit tausend Broten – dieses Ergebnis wieder mit tausend: Dann hast du die Anzahl der Flüche, die auf dem Bankkonto deines Vaters ruhen“. Das Brot der frühen Jahre wurde den Armen – Böll zieht in diesem Zusammenhang den Begriff „Unglückselige“ vor – von den Ausbeutern weggenommen. Zusammen mit dem Brot wurde auch der Glaube an die Gerechtigkeit dieser Welt geraubt. Alois Fruklahr starb bei vergeblichen Versuchen, der Armut zu entkommen. Selbst im Tod bewahrte er den Ausdruck eines Leidenden: „… sein Mund war so bitter, wie er immer gewesen war: der Mund eines Hungrigen, der nicht an die Gerechtigkeit dieser Welt glaubte“.
Bölls Figuren glauben auch nicht an das „Wirtschaftswunder“, von dem in Westdeutschland so viel geredet wurde. Zimpren ist nicht zu der Stadt geworden, in der Arbeitslose ihre freudlosen Tage gegen Brot eintauschen können; vielmehr steht es als Symbol für die Vergänglichkeit wirtschaftlicher Erfolge. Die Ölquellen versiegen, und anstatt vom Hype ergriffen zu werden, wird Zimpren von bitterer Hoffnungslosigkeit überschattet. Das Unternehmen Sub Terra Spes sucht nach anderen lukrativen Standorten, während die Menschen, enttäuscht vom Mythos des Wirtschaftsaufschwungs, ihrem Schicksal überlassen bleiben. Nur der verrückte Goswin verfolgt sie mit seinen wiederholten Rufen: „Nun seht ihr's ja, seht ihr's nun?“
Wie überall bei Böll ist auch in dieser Szene viel Symbolik enthalten: Die Welt ist so unbegreiflich, so unlogisch und so unnatürlich geworden, dass nur Verrückte ihre Gesetze verstehen können. Böll verwendet diese Symbole, um die Absurdität der im Land etablierten „Ordnung“ noch deutlicher zu zeigen. Oft sind diese Symbole schwer zu entschlüsseln, da sie Ausdruck eines Alogismus sind.
Beim Lesen von Bölls Werken kann man mit vielem nicht einverstanden sein. Vieles lässt sich auf seine fehlerhafte Philosophie zurückführen, doch gleichzeitig bleibt man nicht unberührt von seiner vernichtenden Kritik am modernen westdeutschen Regime. Man kann sich dem abgrundtiefen Hass, den er gegen diejenigen hegt, die Krieg, Ausbeutung und Verbrechen zu ihrem täglichen und nächtlichen Geschäft machen, nicht entziehen.
Diese Ansichten sind durchweg die eines gutherzigen und ehrlichen Humanisten.
[Mitte der 1960er Jahre]
Zitate nach „Heinrich Böll. Werke. Romane und Erzählungen“. Verlag Kiepenheuer&Wiltsch
Quelle: Stus Center
Übersetzung aus dem Ukrainischen: ask@co Sprachendienst GmbH
Fußnoten
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In der ukrainischen Übersetzung trägt die Kurzgeschichte den Titel „Der weiße Rabe“ – Anmerkung des Übersetzers.