Die Macht der Kamera

Interview

Filme prägen das historische Bewusstsein über die NS-Zeit. Clara Frysztacka im Gespräch mit Lea van Acken, Laila Stieler und Irmgard Zündorf. Ein Beitrag zum „Augen auf- Kinotag" am 27. Januar in Berlin, Frankfurt am Main und Rostock.

Lesedauer: 10 Minuten
Kinofilmstreifen mit drei Porträts - Layla Stieler, Lea van Acken, Irmgard Zündorf

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Augen auf - Kinotag zum 27. Januar

Ein Projekt der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft und der Agentur Jetzt & Morgen

Erster „Augen auf“ - Kinotag anlässlich des jährlichen Gedenktags an die Opfer des Nationalsozialismus am 27.01.25 | 1 TAG – 3 Städte | Im Programm: A real pain (Regie: Jesse Eisenberg), Das Kostbarste aller Güter (Regie: Michel Hazanavicius) und ein Schulkinoprogramm | mit Podiumsdiskussionen in Berlin, Frankfurt am Main und Rostock | einer Online-Fortbildung für Lehrer*innen & Begleitmaterial für den Unterricht

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Clara Frysztacka im Gespräch mit Lea van Acken, Schauspielerin in „Das Tagebuch der Anne Frank“ (2016), Laila Stieler, Drehbuchautorin für „In Liebe, Eure Hilde“ und Irmgard Zündorf, Leiterin des Bereiches „Public History“ des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam.

Spielfilme spielen eine zentrale Rolle bei der Verankerung der NS-Verbrechen im kollektiven Gedächtnis der deutschen Gesellschaft, wie die US-amerikanische Serie Holocaust (1979) oder Filme wie Schindlers Liste (1993) zeigen. Wie bewerten Sie aus Ihrer unterschiedlichen Perspektive als Schauspielerin, Drehbuchautorin und Historikerin die Bedeutung von Filmen für die kollektive Erinnerung an die NS-Zeit heute?

Lea van Acken: Als Schauspielerin erlebe, erinnere und verarbeite ich vieles durch meine Darstellung von Figuren. Filme haben mich schon immer tief berührt und mir Geschichte so nah und erlebbar gemacht wie kein anderes Medium. Egal ob ich selbst spiele oder den Film als Zuschauerin erlebe.

Filme können uns meiner Meinung nach Zeiten, Menschen und eben auch Verbrechen so nahebringen, dass wir plötzlich spüren: Das, was dort passiert ist, hat etwas mit mir hier und heute zu tun. Bezogen auf die NS-Zeit und den aktuell wieder wachsenden Rechtsruck glaube ich, dass Filme über die damalige NS-Zeit wieder in Erinnerung rufen können, wie es auch damals schleichend angefangen hat, wie unvorstellbar grausam diese Zeit und diese Verbrechen waren und dass so etwas nie wieder passieren darf. Ich habe die Hoffnung, dass Menschen aus den Kinos gehen, berührt sind und sagen: „Jetzt kämpfe ich für eine gerechte und friedliche Welt“.

Laila Stieler: Ich bin in der DDR geboren und aufgewachsen mit Filmen über die Zeit des Faschismus. Im Vordergrund stand der kommunistische Widerstand gegen Hitler, dem in Filmen wie „Ernst Thälmann − Sohn seiner Klasse“ gehuldigt wurde. Aber es gab von Anfang an auch die anderen Töne, die leisen, nachdenklichen, klagenden z.B. in Filmen wie „Die Mörder sind unter uns“, „Ich war 19“ oder „Die Verlobte“. Auch dank der Vielzahl von Filmen, die sich mit diesem Thema beschäftigen durften, hat sich in mir ein Bewusstsein von dieser Zeit und den Menschen in ihr gebildet. Und dadurch haben es auch etliche gute Filme geschafft, überhaupt gedreht zu werden.

Schon als Kind fragte ich mich immer wieder, wie ich damals reagiert, wie ich gehandelt, auf welcher Seite ich gestanden hätte. Die Helden-Filme machten mich eher verzagt. Filme, in denen die Frauen und Männer des Widerstands unbeugsam, ideologisch gefestigt und mutig waren. Das schien mir unerreichbar. Filme, in denen die Schwächen und das Unheroische thematisiert wurden, dagegen machten mir Mut. Ich konnte mich in die Figuren hineinversetzen, während die anderen, die Starken, immer ein Stück von mir wegrückten. Ich denke heute mit dem immer größeren zeitlichen Abstand kommt es darauf an, dass wir eine Brücke schlagen, um diese Zeit und ihre Menschen so erlebbar wie möglich zu machen. Damit sie uns nahekommen, damit wir spüren, dass das nicht so fern ist, wie es scheint.

So ist die Hauptfigur in unserem Film „In Liebe eure Hilde“ keine Kämpferin, sondern eine einfache Frau mit Wünschen, Träumen, Ängsten und sehr viel Anstand. Aber auch auf der Gegenseite stehen Menschen − die Wärterin, die Hebamme, der Arzt, der Kommissar. Sie wollen das Richtige tun, haben andere Überzeugungen, Angst, manchmal aber auch Mitgefühl. Es ist nicht so leicht zu entscheiden, was das Richtige ist.

Irmgard Zündorf: Spielfilme arbeiten mit Bildern und produzieren Bilder, und diese haben eine enorme Prägekraft. Wir Historiker*innen können noch so gute Texte schreiben, in Erinnerung bleiben trotzdem meistens eher gezeigte Bilder. Spielfilme haben zudem den Vorteil, eine eindringliche Geschichte zu erzählen. Sie können somit ein Bedürfnis nach guter Unterhaltung erfüllen und tragen damit zum Geschichtsbewusstsein bei. Im schlechtesten Fall entsteht dadurch das Bewusstsein, dass der Film zeigt, wie es „wirklich“ war und es findet keine weitere Auseinandersetzung mit dem Gezeigten, mit der tatsächlichen historischen Komplexität statt. Im besten Fall weckt der Film Interesse und Neugier, mehr über die Hintergründe und Zusammenhänge zu erfahren. Ich betrachte Spielfilme als ein wichtiges Medium, mit dem wir Historiker*innen uns auseinandersetzen sollten, um zu sehen, was gerade in der Öffentlichkeit thematisiert wird, wie es präsentiert wird und auch, wie die Geschichte benutzt wird, um ganz andere Themen zu verhandeln. Denn jeder Spielfilm sagt mehr über die Zeit aus, in der er gedreht wurde, als über die Zeit, die er präsentiert.

Lea Van Acken, wie war für Sie als Schauspielerin eine Rolle wie jene von Anne Frank zu spielen?

Lea van Acken: Anne Frank zu spielen war eine unglaubliche Ehre für mich, ich war schon vor dem Casting so fasziniert von ihren Gedanken und den Texten aus dem Tagebuch.

Als ich dann die Rolle bekam, kam plötzlich die Angst und die Ehrfurcht, sie mit ihrer Geschichte zu verkörpern. Ich dachte, wer bin ich, dass ich mir anmaße, Anne Frank zu spielen. Dann habe ich angefangen, Anne auch Briefe zu schreiben, so wie sie Kitty geschrieben hat, und dadurch hatte ich das Gefühl, es ist okay, dass ich sie jetzt spiele. So haben wir irgendwie unsere intimsten Gedanken miteinander geteilt. Natürlich habe ich mich in der Vorbereitung auch noch einmal sehr intensiv mit der NS-Zeit auseinandergesetzt. Unser Film hat mir noch mal gezeigt, wie wichtig es ist, immer wieder gegen rechtes Gedankengut, Hetze und Lügen vorzugehen. Das mache ich seitdem.

Was hat Sie während der Dreharbeiten zu Das Tagebuch der Anne Frank besonders berührt? Können Spielfilme die emotionale Ebene der NS-Verbrechen besser als andere Medien vermitteln?

Lea van Acken: Ich glaube fest an das Medium Film und daran, was es in Menschen verändern und bewegen kann. Filme haben mir damals die Gräueltaten der NS-Zeit viel nähergebracht als jedes Geschichtsbuch in der Schule. Gerade jetzt, wo es kaum noch Zeitzeugen gibt, können uns Filme und ihre Figuren immer wieder erinnern und berühren.

Bei den Dreharbeiten zu „Das Tagebuch der Anne Frank“ hat mich vieles sehr berührt. Die Darstellung des äußeren Grauens, dem die Bewohner*innen des Hinterhauses ausgesetzt waren, die ständige Todesangst und gleichzeitig die alltäglichen Banalitäten waren für mich teilweise unvorstellbar und haben mich durch die Darstellung für immer verändert. Jede Rolle lehrt mich etwas anderes und Anne Frank zu spielen hat mich so viel emotionale Tiefe, Mitgefühl und Dankbarkeit gelehrt.

Laila Stieler, was unterscheidet die Arbeit an einem Drehbuch über ein Thema wie den Nationalsozialismus von anderen Projekten und wie haben Sie sich dafür vorbereitet?

Laila Stieler: In Vorbereitung des Drehbuchs „In Liebe, eure Hilde“ war ich oft in Bibliotheken und Archiven, ich musste mir viel anlesen. Da war die Herausforderung, etwas lebendig werden zu lassen, dass ich aus eigener Anschauung nicht kenne, eine Welt zu kreieren, in der ich mich bewege wie in meiner eigenen.

Ein besonderer Moment bei der Recherche für dieses Drehbuch war für mich die Begegnung mit Hans Coppi jun., Hildes Sohn. Ich war sehr aufgeregt beim ersten Treffen, wollte nichts falsch machen. Hans musste ja schon sehr früh die Verantwortung übernehmen, Kind dieser Eltern und Heldenkind, zu sein. Schon als Schüler musste er ertragen, wie der Abschiedsbrief seiner Mutter in seiner Anwesenheit öffentlich verlesen wurde. Und so waren wir uns erfreulich schnell einig, dass ein Film über seine Mutter kein Heldenepos werden sollte. Er stand mir nicht nur als Betroffener, sondern auch als Wissenschaftler, als Historiker zur Seite, ebnete mir Wege in die Archive, vermittelte Kontakte und zeigte mir neue Perspektiven auf. Klischees von Widerstandskämpfern und Nazi-Schergen ließ er nicht gelten. Verrat? Passiert. Feigheit? Keine Schande. Es war Krieg. Allmählich traten die Fakten für mich in den Hintergrund. Mehr und mehr begann ich, seine Mutter in ihm zu sehen. Ihre Stille, ihre Klugheit, ihre feine Verschmitztheit. Als ich mir dessen bewusstwurde, wurde Hilde für mich lebendig.

Wie gelingt es Ihnen, komplexe historische Ereignisse in einer Erzählung zu verdichten? Gab es Momente, in denen Sie künstlerische Freiheit über historische Genauigkeit gestellt haben?

Laila Stieler: „In Liebe, eure Hilde“ ist mein erster historischer Film, also in dem Sinne, dass ich über eine Zeit erzähle, die ich selbst nicht erlebt habe. Da war der Umgang mit den bekannten historischen Fakten eine besondere Herausforderung. Es gibt Eckdaten, die müssen einfach stimmen. Aber nicht jedes Detail lässt sich recherchieren. Eigentlich habe ich den Anspruch, genau zu sein. Es gibt Zeitzeugen, die sich erinnern, dass die Verhafteten sich beim Transport umarmen durften, dass die Kommissare Leberwurstbrote verteilten. Ob das stimmt? Im Spielfilm zählt für mich mehr der emotionale Gehalt einer Szene. Und ähnlich verhält es sich mit dem gesamten Erzählbogen. Diesen zu finden, ist ein mehrstufiger Vorgang. Zunächst schreibe ich die Geschichte meiner Hauptfiguren. Dann, wie eine Art Timecode, lege ich die historischen Daten an. Private Geschichte und historische Fakten stehen dann oft erst einmal nebeneinander. Nicht jedes Ereignis ist wichtig für die Geschichte, da erlaube ich mir Sprünge und Auslassungen. Gerade wenn es um die NS-Zeit geht, setze ich voraus, dass vieles bekannt ist. In einem weiteren Arbeitsgang versuche ich, Fakten und Fabel ineinanderzuschieben, aufeinander zu beziehen, zu verdichten. Hierbei half mir unser Konzept, das Private politisch und das Politische privat werden zu lassen. Liebe, Alltag, Widerstand fließen so ineinander. Was die emotionale Wahrheit der Figuren betrifft, erlaube ich mir die größten Freiheiten. Hier bin ich auf mich selbst angewiesen. Und das ist auch der schönste Teil der Arbeit. Der Teil, in dem ich mir meine Figuren erschaffe, so wie sie gewesen sein können, und so wie sie mir gefallen.

Historiker*innen kritisieren historische Spielfilme häufig dafür, die Geschichte zu vereinfachen, zu dramatisieren oder gar zu verzerren. Welche Kriterien sollte ein Film für Sie, Irmgard Zündorf, erfüllen, um das Bewusstsein für Geschichte des Nationalsozialismus nachhaltig zu fördern?

Irmgard Zündorf: Spielfilme prägen das Geschichtsbewusstsein, daran kommen wir als Historiker*innen gar nicht mehr vorbei. Wir sollten sie daher nicht ignorieren, sondern für die historische Bildung nutzen. Wenn wir sie bewerten, stehen aus meiner Sicht folgende Kriterien im Fokus: die geschichtswissenschaftliche Faktengrundlage bzw. die Triftigkeit der präsentierten Geschichte, aber auch des Kontextes, sei es der thematisierten Ereignisse oder der Filmkulisse. Daran knüpft die Narrativität an, die aus der Geschichte eine Geschichte herauszieht, konstruiert. Diese wiederum sollte Raum für Imaginationen lassen bzw. die historische Imagination fördern. Hilfreich dafür ist Emotionalität, wobei ich hier vor Kitsch auf der einen Seite und Überwältigung auf der anderen warnen möchte. Zudem sollte der Film Gegenwartsbezüge zulassen, damit verständlich wird, was die Geschichte auch mit den heutigen Betrachter*innen zu tun hat. Dazu dient auch Multiperspektivität, ein wichtiges Kriterium für die Bildung des Geschichtsbewusstseins: Dadurch kann verdeutlicht werden, dass es nicht „die eine wahre Geschichte“ gibt, sondern sich diese je nach Blickwinkel unterschiedlich darstellt und auf Interpretation beruht.

Gibt es Themen oder Perspektiven, die für den deutschen Film über den Nationalsozialismus spezifisch sind?

Irmgard Zündorf: Meiner Einschätzung nach stehen zwei Themen im Vordergrund: der Holocaust mit dem Fokus auf der Verfolgung der Juden und Jüdinnen und der Widerstand mit dem Fokus auf den militärischen Widerstand. In beide Themen hinein ragen Filme über den vermeintlichen Alltag im Nationalsozialismus, das Leben als Teil der „Volksgemeinschaft“, die Beteiligung an den verschiedenen Massenorganisationen, damit verbunden das Erleben der Ausgrenzung anderer sowie der Not im Krieg, sei es als Soldat an der Front oder als Teil der Zivilbevölkerung in der Heimat. Die Herangehensweise ist dabei meist die Begleitung von erfundenen Charakteren, die bestimmte historische Ereignisse erleben und mit denen wir Zuschauer*innen uns gut identifizieren können, bei denen wir uns fragen können, wie wir reagiert hätten. Natürlich gibt es auch Filme, die sich mit berühmten Persönlichkeiten befassen, aber meist nehmen auch sie die Perspektive einer dritten, weniger zentralen Person ein, die die „große“ Geschichte begleitet. Solche Perspektiven ermöglichen es idealer Weise auch, individuelle Entscheidungsmöglichkeiten und Zwänge unter den Bedingungen der NS-Diktatur zu verdeutlichen.