Yevheniia, 26 Jahre

Lesbisch. Aus der Stadt Odesa. Anführerin der Menschenrechtsbewegung und Freiwillige der lokalen LGBTQ-Communities. Das Interview fand im September 2023 statt.

Lesedauer: 4 Minuten
Illustration: Person mit lockigem, dunklem Haar vor einfarbigem, rötlichem Hintergrund, Blick nach vorn, trägt helles Oberteil.

Mein Name ist Yevheniia. Ich bin lesbisch. Ich bin 26 Jahre alt und lebe in Odesa. Ein Krieg – habe ich geglaubt, dass er kommen würde? Das ist schwer zu sagen. Als ich 2014 das Geräusch eines Kampfjets über mir hörte, wurde mir klar: Ein richtiger Krieg auf den Straßen von Odesa war nur eine Frage der Zeit. In diesem Moment schien es mir, dass dieser schon so nahe war – fast wie der morgige Tag, bestenfalls wie das Frühjahr. Diese düstere Vorahnung verfolgte mich die ganzen neun Jahre lang. Aber als der Beginn dieses Kriegs immer weiter nach vorne verschoben wurde, kam bei mir das Gefühl auf, dass er nicht mehr zu meinen Lebzeiten stattfinden würde.

Zwischen Ausnahme- und Kriegszustand

Deshalb war ich am 23. Februar mehr oder weniger ruhig. Ich erinnere mich gut daran: Ich stand in der Raucherzone, erklärte meinen Kolleg*innen den Unterschied zwischen einem Ausnahmezustand und einem Kriegszustand und sagte, dass, wenn in unserem Land der Ausnahmezustand ausgerufen würde, dies nicht den Beginn eines Kriegs bedeuten würde. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ich lange Zeit Angst vor einem Krieg hatte, doch erst am 23. Februar war ich sicher, dass nichts passieren würde. 

An diesem Tag habe ich auch für die Streitkräfte gespendet. Ich hatte zusätzlich noch etwas Geld auf meiner eSupport-Karte (Anm.: eine Art staatliche Geldkarte, die zu Covid-Zeiten zur Unterstützung bei Impfungen eingeführt wurde) und überwies es auf das Konto der Hospitaller (Anm.: das ist das ukrainische Äquivalent zum Malteser Hilfsdienst). Ich dachte nur: „Ich mache mir gerade so viele Sorgen. Was kann ich tun? Ich kann spenden.“ Also tat ich es. Warum habe ich mich nicht vorbereitet? Weil ich sicher war, dass ich eine Waffe tragen könnte. Bis jetzt ist das noch nicht passiert, aber ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit. 

Als ich 2014 das Geräusch eines Kampfjets über mir hörte, wurde mir klar: Ein richtiger Krieg auf den Straßen von Odesa war nur eine Frage der Zeit.

Eine Flucht habe ich nicht in Betracht gezogen. Ich dachte, wenn ich Glück habe, werde ich bewaffnet sein. Wenn ich sehr viel Glück habe, werde ich schnell sterben. Ich habe mich nicht überschätzt. Mir war völlig klar, dass ich nicht den ganzen Weg siegreich zurücklegen oder Moskau erreichen würde. Ich dachte, wenn ich in den Kampf ziehen würde, würde ich alles tun, um den Sieg näher zu bringen. Aber ich glaubte nicht, dass ich ihn erleben würde.

Depressionen und Konservensammeln

In diesen eineinhalb Jahren ist viel passiert. Ich habe den größten Teil meiner Energie in die Freiwilligenarbeit gesteckt: Ich habe versucht, Konservendosen aufzutreiben und allen geholfen, die Hilfe brauchten. Aber Ende 2022 war ich am Ende meiner Kräfte. Ich hatte eine starke depressive Phase.

Ist die Ukraine ein tolerantes Land? Darauf habe ich keine eindeutige Antwort. Wir waren jahrelang unter Besatzung (in der UdSSR). Wenn wir uns mit westlichen Ländern vergleichen, müssen wir noch viel erreichen. Aber ich bin mir sicher: Die Ukraine hat ein sehr großes Potenzial für eine starke und bewusste Toleranz. Nun, auf jeden Fall mehr Potenzial als unsere Nachbarländer. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir unseren eigenen Weg gehen, der nicht mit dem eines anderen Lands vergleichbar ist. Ich glaube, dass der Sieg unser sein wird. Und nach dem Sieg wird die Ukraine wunderschön sein. 

Ich glaube, dass die Menschen, die nach dem Krieg in der Ukraine leben, mein Land wirklich lieben werden. Sie werden sich wünschen, dass es hier schön und angenehm für uns ist. Für sie. Friedlich. Ein wunderbarer, gerechter Rechtsstaat.


Aus dem Englischen übersetzt von Christine Wiesmeier.

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