Oleksandr, 25 Jahre

Schwul. Aus Cherson. Er ist derzeit Flüchtling und lebt in der Tschechischen Republik. Das Interview fand im Oktober 2022 statt.

Lesedauer: 4 Minuten
Illustration: Person mit kurzem, dunklem Haar, ernstem Blick, schmalem Gesicht und olivfarbenem Oberteil vor braunem Hintergrund.

Hallo! Mein Name ist Oleksandr. Ich habe in Cherson gelebt, jetzt arbeite ich in Europa. Insgesamt liebe ich meine Stadt sehr und vermisse sie, vor allem den Park in der Nähe der Universität. Es ist gut, dass das Zentrum von Cherson intakt geblieben ist, was man von der Umgebung nicht behaupten kann.

Wir erfuhren am ersten Tag, dass die Besatzung begonnen hatte: Um fünf Uhr morgens hörten wir eine gewaltige Explosion, und wir konnten zunächst nicht verstehen, was geschah. Ich war auf dem Weg zur Arbeit, als mir ein Bekannter schrieb, dass SIE in der Stadt seien. Ich verstand es nicht und fragte ihn, wer das sein sollte? „Die Russen! Sie haben uns angegriffen!“

Ich war Verkaufsberater. Das erste Mal, als ich die Besatzer sah, war übrigens in der Arbeit. Sie kamen herein und beschwerten sich, dass sie mit Rubeln nichts kaufen konnten. In diesem Moment wurde mein Selbsterhaltungstrieb geweckt: Sag nichts, wenn du überleben willst. Also habe ich geschwiegen.

Aber das hat mich nicht gerettet. Zu dieser Zeit funktionierten weder Banken noch Geldautomaten, so dass das Geld bei Händler*innen umgetauscht werden musste. Ich erhielt an diesem Tag mein Gehalt und ging auf den Markt, um jemanden zu suchen, der Geld tauschen konnte. Ich fand einen Händler, und während des Umtauschs bemerkte ich, dass er einen russischen Pass hatte. Klar wurde ich da ein wenig misstrauisch. Er tauschte das Geld für mich, und gleich nachdem ich weggegangen war, hielt ein Auto mit dem „Z“ neben mir. „Wer sind Sie? Wohin wollen Sie? Zeigen Sie uns Ihren Ausweis! Ziehen Sie sich aus! Zeigen Sie Ihre Tätowierungen.“

Nein, es war nicht Angst, es war der blanke Horror.

Sie zwangen mich, mich auszuziehen. Sie durchforsteten mein Handy und sahen meine Nachrichten. „Ich gehöre zur LGBTQ-Community, wie ihr wisst...“Was bist du, eine Schw*el?“ - fragten sie. Ich sagte nichts. Sie klatschten mir auf den nackten Hintern und ließen mich gehen. Vielleicht hatte ich einfach Glück, weil es helllichter Tag war und viele Leute unterwegs waren. Sie nahmen mir auch kein Geld ab.

Die ganze Zeit über lebten wir in ständiger Angst. Ich hörte, dass die Besatzer Wohnungen kontrollierten und nach denjenigen suchten, die in der Armee gedient hatten. Es gab Fälle, in denen jemand aus dem Bus geholt und weggebracht worden war. Und dann hat man nichts mehr von dieser Person gesehen oder gehört. Nein, es war nicht Angst, es war der blanke Horror: Man konnte die Straße entlanggehen, und plötzlich explodierte irgendwo etwas, Leichen lagen am Straßenrand... Und später gab es auch Kollaborateur*innen. Wissen Sie, wenn ein oder zwei Monate lang nichts passiert, wenn sich nichts ändert, fangen die Leute normalerweise an, die Situation zu akzeptieren. Also fingen einige an, russische Flaggen an ihre Balkone zu hängen.

Als es unmöglich wurde, in Cherson zu leben, entschied ich mich dafür, wegzugehen.

Wir waren drei Tage lang mit dem Auto unterwegs. An den Kontrollpunkten gab es lange Schlangen. Wir passierten 40 Straßensperren, und an jeder wurden wir aus dem Auto geholt, unsere Taschen und Handys kontrolliert. Wir mussten uns ausziehen und wurden durchsucht. Ich habe gehört, dass es sogar Fälle von Vergewaltigung an den Kontrollpunkten gab. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, für sie war jede*r gut genug. An jedem Kontrollpunkt bezahlte der Fahrer für die Leute, die er fuhr. Ich weiß nicht, wie viel, und ich war in einem solchen Zustand, dass ich nicht einmal mehr daran glaubte, dass ich überleben würde.


Aus dem Englischen übersetzt von Christine Wiesmeier.

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