Pansexuelle Frau aus Odesa. Das Interview fand im Juni 2023 statt.

Ich lebe in Odesa und ziehe zwei Teenager groß. Die letzten Tage vor der großen Invasion gab es nichts Ungewöhnliches. Es war mein erster Monat in meinem neuen Job. Natürlich schmiedete ich Zukunftspläne, glaubte, dass alles gut werden würde und wies all die schlechten Nachrichten und Spekulationen zurück. Ehrlich gesagt konnte ich mir nicht vorstellen, dass es im 21. Jahrhundert überhaupt möglich sein würde, dass ein anderer Staat mein Land angreift.
Am 23. Februar ging ich mit einem Freund aus. Wir aßen lecker zu Abend, tranken Wein und sahen uns „The Hunger Games“ an. Am Morgen aber wachten wir auf und hörten Explosionen. Und alles begann auseinanderzubrechen. Es gab keine Panik, nur die Erkenntnis, dass es tatsächlich passiert war. Fast unmittelbar nach den ersten Explosionen erhielt ich einen Anruf von einer Freundin, die mir sagte, dass der Krieg begonnen hatte. Ich zweifelte nicht daran – die Explosionen ließen keinen Zweifel. Ich nahm ihr Angebot an, die Stadt zu verlassen. Ich war überzeugt davon, dass die Stadt in kürzester Zeit von den russischen Streitkräften besetzt sein und dass es gefährlich sein würde, dort zu bleiben.
Wir tranken Kaffee, packten ein paar Sachen. Papiere, Geld. Wir beluden das Auto und fuhren nach Ismajil – drei Erwachsene, zwei Teenager und ein Hund. Da ich mir dieses Szenario nicht hatte vorstellen können, war mein Tank halb leer. Die Tankstellen waren überfüllt, also hatte ich nicht genug Benzin, um nach Ismajil zu kommen. Wir blieben irgendwo in der Nähe von Saraty liegen. Irgendwann aber kamen wir an. Wir lebten fast einen Monat lang in Ismajil. In den ersten Tagen kochte ich, machte Frühstück, Mittag- und Abendessen. Das war eine Möglichkeit, die Kontrolle über mein Leben wiederzuerlangen. Routine hilft dabei, sich zu fokussieren. So versuchte ich, zumindest eine Illusion von Kontrolle wiederzuerlangen.
Das Geräusch eines Einschlags ist sehr laut.
Auch wenn Rumänien oder Moldau quasi um die Ecke waren, wollte ich nie ins Ausland gehen. Ich wusste, dass die ganze Welt uns helfen wollte. Das war toll. Und alles war nicht so beängstigend, wie es anfangs schien. Aber dann folgten Butscha, Irpin und Mariupol. Es brach mir das Herz. Obwohl ich immer noch nicht wusste, wie es ist, im Krieg zu leben, konnte ich mir nicht vorstellen, von jemandem abhängig zu sein, mich den Herausforderungen einer erzwungenen Emigration zu stellen und mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wie ich meine Kinder in einem fremden Land ernähren sollte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass in Odesa alles in Ordnung sein würde. Schließlich kehrte ich in meine Heimatstadt zurück.
Ja, nach meiner Rückkehr aus Ismajil hatte ich oft Angst. Wir haben die „Regel der zwei Wände" nicht ignoriert. (Anm: Das bedeutet, dass zum Schutz vor Glassplittern immer zwei Wände Abstand zu einem Fenster sein sollten). Fast ein Jahr später, als eine Rakete in die Verklärungskathedrale in Odesa einschlug, ging ich zum ersten Mal in einen Luftschutzkeller. Wir gehen auch heute noch hin. In letzter Zeit ist es mit all den Raketen und Drohnen gefährlicher geworden. Ich spüre mehr als je zuvor, dass mein Leben in Gefahr ist. Jeden Tag gehe ich an dem Gebäude in der Schewtschenko-Allee vorbei, in dem die Rakete eingeschlagen ist. Es war nicht weit von meinem Haus. Dort gab es das Restaurant „Tscherdak“ und das „Museum für Interessante Wissenschaft“. Ich habe dieses Museum oft mit meinen Kindern besucht. Das Geräusch eines Einschlags ist sehr laut. Ich finde es lächerlich, das zu ignorieren und zu denken, dass der Krieg irgendwo da draußen ist und einen nichts angeht. Natürlich macht er mir Angst. Mein Leben, wie auch das der anderen Menschen in der Ukraine, ist in Gefahr.
Aus dem Englischen übersetzt von Christine Wiesmeier.