Ein neuer Wendepunkt für die Republik Moldau?

Analyse

Unter starken russischen Einflussversuchen auf eine zersplitterte politische Landschaft steht das Land vor einer Richtungswahl um die Fortsetzung seines europäischen Kurses.

Vor dem Parlamentsgebäude der Republik Moldau steht in Buchsbaum das Wort „MOLDOVA“. Davor Blumenbeete, zwei Personen auf den Treppen.

Die Parlamentswahlen in der Republik Moldau werden allgemein als ein wichtiger geopolitischer Moment angesehen, in dem der kleine Staat mit 2,6 Millionen Einwohner*innen zwischen Rumänien und der Ukraine entweder seinen EU-Integrationsprozess fortsetzen oder wieder in russische Hände fallen wird. Diese Analyse ist zwar nicht falsch, aber vor Ort ist die Einschätzung dieser Wahl etwas differenzierter.

Laut Meinungsumfragen wird erwartet, dass die pro-europäische Regierungspartei PAS zwar den ersten Platz belegen, aber keine Mehrheit erreichen und zwischen 30 und 40 Prozent der Stimmen erhalten wird. Als die PAS 2021 63 von 101 Sitzen im Parlament gewann, galt die Partei als systemkritische Alternative zur oligarchischen Herrschaft, die das Land in den 2000er- und 2010er-Jahren geprägt hatte. Ihre wichtigsten Versprechen waren die Reform der Justiz und die Bekämpfung der Korruption. Die Ergebnisse sind jedoch gemischt. 

Die gemischten Ergebnisse und das langsame Tempo der Justizreform werden der moldauischen Regierungspartei sogar von einigen ihrer ehemaligen Anhänger*innen vorgeworfen. 

Während Spitzenpolitiker*innen wie die ehemalige Bashkanin (Gouverneurin) von Gagausien, Evgenia Gutsul, wegen illegaler Parteienfinanzierung und Verbindungen zu einer kriminellen Organisation zu sieben Jahren Haft verurteilt wurden, sind andere prominente Politiker, die in hochkarätige Korruptionsfälle verwickelt sind, trotz Ermittlungen oder sogar Verurteilungen wegen schwerer Verbrechen weiterhin auf freiem Fuß, entweder in Moldau oder im Ausland. Vladimir Plahotniuc, ein Oligarch, der zwischen 2016 und 2019 staatliche Institutionen unter seine Kontrolle gebracht und aus dem Hintergrund regiert hat, wird derzeit von den griechischen Behörden wegen gefälschter Dokumente festgehalten. Er soll am 25. September, drei Tage vor den Wahlen, an Moldau ausgeliefert werden. Die Verhaftung dieser einst allmächtigen politischen Persönlichkeit hat im ganzen Land für Aufsehen gesorgt, doch viele befürchten, dass ihn korrupte Richter vor Ort freilassen könnten, wenn er nach Hause zurückkehrt. Die gemischten Ergebnisse und das langsame Tempo der Justizreform werden der moldauischen Regierungspartei sogar von einigen ihrer ehemaligen Anhänger*innen vorgeworfen. 

Ironischerweise musste sich die PAS nach dem Sieg bei den Wahlen 2021 mit dem wenig inspirierenden Slogan „Gute Zeiten” mit einer Pandemie, einem umfassenden Krieg in der benachbarten Ukraine und einer Energie- und Lebenshaltungskostenkrise auseinandersetzen. Viele europäische Länder haben ihre amtierenden Regierungen wegen derselben Probleme abgestraft. Trotz der Herausforderungen gelang es den PAS-Regierungen unter Natalia Gavrilița und Dorin Recean, den Frieden zu wahren, den Zustrom von Flüchtlingen aus der Ukraine zu bewältigen, die Energiequellen zu diversifizieren, und damit die jahrzehntelange Abhängigkeit von russischem Gas zu beenden, hunderte Kilometer Straßen zu bauen und wichtige Schritte in Richtung EU-Integration des Landes zu unternehmen.

Bei diesen Wahlen entschied sich die PAS für einen weniger riskanten, aber auch weniger eingängigen Slogan, der wie eine Reihe von suchmaschinenoptimierten Schlüsselwörtern klingt: „EU, Frieden, Entwicklung”. Die Regierungspartei macht fünf zentrale Versprechen: EU-Integration bis 2028, Verdopplung des Einkommens der erwerbstätigen Bevölkerung, Verdopplung der Exporte, 3000 Kilometer reparierte Straßen und Förderung der „nationalen Kultur und Traditionen“.  Der letzte Punkt wurde wahrscheinlich hinzugefügt, um auf die russische Propaganda zu reagieren und diejenigen zu beruhigen, die befürchten, der EU-Beitritt könnte den Verlust der lokalen Identität oder konservativerer Werte bedeuten. 

Welche Kräfte sind im Spiel?

Die Bilanz der abgelaufenen Regierungsjahre und die neuen Versprechen der Regierung werden von den Menschen unterschiedlich bewertet. Das hängt zum Teil davon ab, welche Medien sie konsumieren. Pro-europäische Wähler*innen, darunter sowohl PAS-Anhänger*innen als auch PAS-Kritiker*innen, verfolgen die nationale Rundfunkgesellschaft, lokale unabhängige Quellen, die europäische Werte teilen, und – wenn sie Englisch oder andere europäische Sprachen sprechen – westliche Medien. Die Skeptiker*innen würden Mängel wie Arroganz, Inkompetenz und einige eher politisierte als leistungsorientierte Entscheidungen gegen die Regierungspartei anführen. 

Russische Staatsmedien und TikTok-Inhalte, die von der Kreml-Agenda dominiert werden, würden ähnliche Argumente vorbringen und eine Reihe offensichtlicher Lügen und Manipulationen verbreiten, um die EU, die moldauische Präsidentin Maia Sandu und die PAS mit Krieg, Massenauswanderung, Korruption oder einer Art Dominanz der queeren Community („Gayropa” ist ein feststehender Begriff) in Verbindung zu bringen und so Misstrauen, Spaltung und Verwirrung zu säen.

In Teilen des Landes, die von russischen Medien dominiert werden, wie der südlichen autonomen Region Gagausien oder dem abtrünnigen Transnistrien, aber auch in einigen nördlichen Gebieten, werden die Menschen wahrscheinlich überwiegend für den offen mit dem Kreml verbündeten Patriotischen Block unter der Führung des ehemaligen Präsidenten Igor Dodon oder eine der kleineren Parteien stimmen, die mit dem flüchtigen Oligarchen Ilan Shor verbunden sind, der derzeit in Moskau lebt. In Umfragen liegt der Block mit rund 20 Prozent der Stimmen an zweiter Stelle hinter der PAS. Die externen Versprechen der Patrioten sind vage und stimmen mit den russischen Narrativen überein: Souveränität (d. h. kein „Kopfnicken“ gegenüber Brüssel), Neutralität (d. h. kein NATO-Beitritt und keine Sorge um die 1500 russischen Soldaten und 20.000 Tonnen Munition aus der Sowjetzeit, die in Transnistrien stationiert sind), moldauische Identität (die als Gegenpol zur europäischen Identität dargestellt wird, anstatt diese zu ergänzen), Rechtsstaatlichkeit, Wiedereingliederung des Landes (mit Transnistrien). Intern versprechen die Patrioten, der russischen Sprache einen offiziellen Status als interethnische Sprache zu verleihen, anstatt Minderheiten zu ermutigen, die offizielle Staatssprache Rumänisch zu lernen. Sie behaupten auch, dass sie Familien durch Zahlungen und flexible Arbeitsregelungen stärker unterstützen werden.

Allerdings ist der Block bereits durch Spaltungen erschüttert, nachdem einer seiner Führer, der ehemalige Präsident Vladimir Voronin, im Fernsehen behauptete, Dodon habe 2019 vom flüchtigen Oligarchen Plahotniuc eine Bestechungssumme in Höhe von 860.000 Euro in einer Plastiktüte erhalten. Einen Tag später zog Voronin seine Erklärung als „Scherz” zurück.

Neben der PAS und dem Patriotischen Block werden wahrscheinlich zwei weitere Parteien in das Parlament einziehen. 

Anti-System-Wähler könnten sich von der direkten und farbenfrohen Sprache des Populisten Renato Usatîi angezogen fühlen, dem ehemaligen Bürgermeister der nordmoldawischen Stadt Bălți, der sein Geld in Russland mit den staatlichen Eisenbahnen verdient hat und oft dank geheimer Informationen, die er an die Öffentlichkeit weitergibt – und die manchmal, aber nicht immer bestätigt werden –, Schlagzeilen macht. Usatîis Partei „Unsere Partei“, die laut Umfragen zwischen 4 und 10 Prozent erreichen könnte, macht eine eklektische Reihe von Versprechungen, die von der Verringerung der Zahl der Parlamentsabgeordneten von 101 auf 51 über die Aufhebung ihrer gesetzlichen Immunität bis hin zur Bildung einer Regierung aus Mitgliedern aller politischen Parteien (einschließlich außerparlamentarischer) reichen. Die Zahlung von 10.000 Euro für jedes geborene Kind, die Anhebung der Mindestrente auf 250 Euro pro Monat (ohne Erläuterungen zur finanziellen Absicherung dieser Maßnahmen), die Auflösung der nationalen Geheimdienste und Antikorruptionszentren sowie die Einführung der Neutralität (ein seit langem von Russland vertretenes Narrativ, um Moldau vom NATO-Beitritt abzuhalten) und das Verbot von „LGBT-Propaganda“ in Schulen.

Die Wählerschaft der Mitte könnte sich dem Block „Nationale Alternative” unter der Führung des Bürgermeisters von Chișinău, Ion Ceban, zuwenden. Ceban bezeichnet sich selbst als pro-europäisch, obwohl er 2014 in Brüssel gegen das Assoziierungsabkommen Moldaus mit der EU protestierte. Damals war er ein führendes Mitglied der Sozialistischen Partei von Dodon. Das Programm der “Alternative” ist ebenfalls vage und plädiert für Frieden, mehr Arbeitsplätze, Gerechtigkeit und die Eindämmung der Abwanderung. Der letzte Punkt ist für Moldau besonders schmerzhaft. Praktisch jede Familie hat ein Mitglied im Ausland, in der großen Diaspora von einer Million Menschen (die ebenfalls wahlberechtigt sind). Ein Großteil des Programms der “Alternative” versucht, auf Cebans Erfolgen bei der Sanierung der Gehwege in Chișinău aufzubauen. 

Doch Cebans Popularität ist gesunken, seit ihm im Juli aufgrund nicht näher bezeichneter nationaler Sicherheitsbedenken die Einreise nach Rumänien (und damit auch in den Schengen-Raum) verboten wurde. Das Verbot hat einige seiner Anhänger verprellt, sodass unklar ist, ob die Partei überhaupt ins Parlament einziehen wird.

Umfragen zufolge dürfte außer der PAS keine (eindeutig) pro-europäische Partei bzw. kein Parteienbündnis die für den Einzug ins Parlament erforderliche Hürde – 5 bzw. 7 Prozent – nehmen. Sie haben sich in den letzten vier Jahren darauf konzentriert, die Regierung in Talkshows und sozialen Medien zu kritisieren, den Aufbau eigener nationaler Netzwerke und die Etablierung einer parlamentstauglichen politischen Kraft aber versäumt. Stattdessen hat die PAS Dinu Plângău, einen ihrer Hauptkritiker und ehemaligen Vorsitzenden der Platforma DA – einer Partei, mit der die PAS 2019 kurzzeitig regierte – eingeladen, sich ihrer Parlamentsliste anzuschließen. Plângău steht jedoch nur auf Platz 42 der Liste.

Hybride Kriegsführung

Der große Kampf um die unentschlossenen Wähler*innen – laut einigen Umfragen etwa ein Drittel der Wählerschaft – ist noch nicht entschieden. Unter ihnen sind Gemäßigte und pro-europäische Menschen, die von der Führung der PAS enttäuscht sind. Besonders auf diese Gruppe zielt der Informationskrieg zwischen dem Kreml-nahen und dem pro-europäischen Moldau.

Der große Kampf um die unentschlossenen Wähler*innen – laut einigen Umfragen etwa ein Drittel der Wählerschaft – ist noch nicht entschieden. 

Für Außenstehende irritieren v.a. die oftmals widersprüchlichen Überzeugungen dieser Menschen. Einige sagen, sie seien für die EU, aber Moldau könne kein Mitglied werden, weil die Union innerhalb von drei Jahren aufgelöst würde – eine Erzählung des Kremls. Andere betonen, dass sie nicht sehen können, wohin all die EU-Gelder fließen, obwohl sie die kürzlich in ihrem Dorf gebauten Straßen oder Wasserleitungssysteme anerkennen. Wieder andere haben Partner, Verwandte oder Kinder, die ihren Lebensunterhalt in Westeuropa verdienen, während sie selbst gegen die EU sind. Diese Fälle zeigen, wie mächtig russische Narrative im moldauischen Informationsraum sind. Aber sie werden in Frage gestellt.

In einer verdeckten Untersuchung gelangte die moldauische Zeitung Ziarul de Gardă in eine russische Trollfabrik, die die Wahlen beeinflussen und damit den EU-Integrationsprozess des Landes untergraben möchte. Die Journalistin Natalia Zaharescu, Gewinnerin des diesjährigen European Press Prize für ihre Enthüllungen darüber, wie Shor im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen und des Referendums über die europäische Integration im vergangenen Herbst Demonstranten bezahlt hat, schloss sich unter dem Decknamen Irina Zahar den Kommunikationsbemühungen des Oligarchen für die bevorstehenden Parlamentswahlen an. 

„Derzeit findet ein Krieg statt, buchstäblich ein Krieg zwischen Globalisten und Realpolitikern“, erklärte einer der Koordinatoren der Trollfabrik Zahar/Zaharescu und ihren „Kollegen“. „Trump steht für Realpolitik, und diese Leute, Sandu, Zelensky, sind Vertreter der Globalisten, diejenigen, die diese Projekte zur Demokratisierung der Macht hatten ...“. Der leitende Mitarbeiter gibt zu, dass die Wirkung ihrer „Bot-Armee“ auf „Geld und Angst“ beruht. Sie sei auch gut darin, die Schwächen Moldaus auszunutzen, sei es die wirtschaftliche Instabilität oder die gemischten politischen Identitäten.

Zaharescu und die anderen 300 Beschäftigten ihrer Einheit im russischen Informationskrieg in Moldau hatten eine Reihe von Aufgaben zu erfüllen, wie zum Beispiel den russischen Dichter Alexander Puschkin – der drei Jahre im Exil in Chișinău verbrachte – zu preisen, um die Verbindungen zwischen der moldauischen und der russischen Kultur zu betonen, oder TikTok-Tanzvideos mit politischen Untertiteln wie „Gas für einen Leu“ und „LGBT verbieten“ zu produzieren. Die Anweisungen und das Geld kamen aus Moskau, in russischer Sprache, wie Zaharescus Aufzeichnungen belegen.

Wie schon im letzten Jahr strahlten mehrere Fernsehsender, darunter auch der nationale Sender, die Untersuchung erneut aus. Die Influencerin und Schauspielerin Cătălin Zerodoi startete auf TikTok einen Gegentrend, bei dem Pro-Europäer*innen tanzten und ihre eigenen Slogans „for free” hinzufügten. Zu den Untertiteln gehörten „Energieunabhängigkeit”, „Reformen nach europäischen Standards” und „moderne Schulen und Kindergärten”. 

Interessanterweise wurde Russlands Trollfabrik in Moldau auch beauftragt, Beiträge zur Unterstützung des rumänischen Präsidentschaftskandidaten Călin Georgescu zu verfassen, gegen den wegen Untergrabung der verfassungsmäßigen Ordnung und Verbreitung rechtsextremer Ideen ermittelt wird.

In der journalistischen Untersuchung vom letzten Jahr schienen die Rentner*innen, die an den pro-Kreml-Protesten beteiligt waren, neben der Bezahlung auch durch das Gemeinschaftsgefühl und die Sinnhaftigkeit motiviert zu sein, die ihnen das Netzwerk bot. Die darauf folgenden polizeilichen Ermittlungen schreckten einige von ihnen ab. Neuere Aufzeichnungen der moldauischen Strafverfolgungsbehörden zeigen weniger engagierte Personen, die eine fünfminütige Show abziehen und schnell ein Video drehen, um an das Geld zu kommen. Ein durchgesickertes Kreml-Dokument, das vom Portal deschide.md veröffentlicht wurde, berichtet, wie Shor-Leute Gelder für bezahlte Demonstranten und Kommunikatoren gestohlen hätten. Bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Herbst wurde das Shor-Netzwerk gegen das Referendum über den Beitritt Moldaus zur EU und für genehme Kandidat*innen wie Victoria Furtună, Vorsitzende der Partei „Großmoldau“, und Alexandr Stoianoglo von der Partei „Alternative“ genutzt – beide streben nun einen Sitz im Parlament an.

Alternative Wege

Am 28. September wird sich zeigen, welches Lager stärker ist. Realistisch scheint eine knappe Mehrheit der PAS oder eine Koalitionsregierung aus PAS, „Unsere Partei“ und/oder „Alternative“, die im besten Fall die Reformen fortsetzen und der EU beitreten würde, im schlimmsten Fall jedoch in korrupte Herrschaft und interne Machtkämpfe ausarten könnte. Wenn die Patrioten, die Alternative und Unsere Partei eine mit Russland verbündete Koalition bilden, könnte Moldau in die unglücklichen Fußstapfen Georgiens treten, russische Gesetze kopieren und den EU-Integrationsprozess stoppen. Wenn keine Regierung gebildet wird, könnten vorgezogene Neuwahlen eine Veränderung in beide Richtungen bewirken. 


Dieser Text wurde zuerst in englischer Sprache im Green European Journal veröffentlicht. 

Redigierte maschinelle Übersetzung.

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