Wie vernünftig es doch zugehen könnte: „Wenn wir alle zusammenarbeiten – Afghanistan, Pakistan, Indien, die Vereinigten Staaten und unsere Verbündeten – sehe ich Möglichkeiten, die Tage hinter uns zu lassen, in denen eine Regierung meint, sie brauche den Extremismus als ein Instrument der Politik. Wenn alle Regierungen der Region den Extremismus zurückweisen, wird es hier keinen Platz mehr für ihn geben. Es wird dem Extremismus der Boden entzogen.“ Das ließ Hamid Karzai am 19. November, genau eine Woche vor den Terrorangriffen in Mumbai, über die pakistanische Daily Times von sich hören. Dabei bezog er sich positiv auf Pakistans neuen Präsidenten Asif Ali Zardari, bei dessen Amtseinführung er zum ersten Mal einen Hoffnungsschimmer gesehen habe.
Präsident Zardari, dessen Frau Benazir Bhutto ihrerseits Opfer eines Mordanschlages geworden war, bot Indien nach dem Überfall auf Mumbai mehrfach Zusammenarbeit und die Fortsetzung des Friedensprozesses an. Die Terroristen wollten auch Pakistan zerstören, schrieb er am 9. Dezember in der New York Times: „Die Angriffe auf Mumbai waren nicht nur gegen Indien, sondern auch gegen Pakistan und den Friedensprozess gerichtet, den wir gegenüber Indien initiiert haben. Verfechter des Autoritarismus in Pakistan und nicht-staatliche Akteure, die ein Interesse haben, den Konflikt zu verewigen, wollen nicht, dass der Wechsel in Pakistan Fuß fasst. Um die Absichten der Terroristen zu durchkreuzen, müssen die zwei großen Nationen Pakistan und Indien, die 1947 aus der gleichen Revolution hervorgingen und durch sie legitimiert sind, den Friedenprozess fortführen. Pakistan ist über die terroristischen Angriffe auf Mumbai erschüttert. Wir können uns mit Indiens Schmerz identifizieren. Ich kann ihn besonders gut mitfühlen. Ich empfinde diesen Schmerz jedes Mal, wenn ich in die Augen meiner Kinder schaue.“
„Wir können uns mit Indiens Schmerz identifizieren”
In einem Interview mit Le Figaro mahnte er am 15. Dezember, sich nicht zu emotionalen Reaktionen hinreißen zu lassen. Die Angst auf der einen Seite nähre die Angst auf der anderen Seite. Es gelte den regionalen Dialog zu führen. Sein Ehrgeiz sei es, dass alle Nationen Südasiens politisch, ökonomisch und kulturell gemeinsam voranschreiten könnten. „Das ist meine Botschaft an Indien und an das pakistanische Volk.“ Sein Ziel sei ein gemeinsamer Markt, wie er seit 1957 in Europa geschaffen worden ist.
Karzai und Zardari haben natürlich Recht, und man kann ihre Wünsche nach regionaler Kooperation nur teilen. Aber Karzai ist ein schwacher Präsident, der sein Land nicht kontrolliert, und Zardari hat gegenüber Militär und Geheimdienst nicht viel in der Hand. Indien steht vor Wahlen. Im Wahlkampf könnte die Versuchung immer größer werden, den Frust über die Angriffe auf Mumbai, über die politischen Schwierigkeiten im Inneren und die angespannte wirtschaftliche Lage durch eine verschärfte Konfrontation mit Pakistan zu kompensieren. Die jetzige Regierung freilich hat keinerlei Interesse, die neue Zivilregierung in Pakistan zu schwächen.
Es gibt ein gemeinsames Interesse der Regierungen in Indien, Pakistan und Afghanistan, die Stabilität des jeweils eigenen Staates durch Zusammenarbeit bei einer Stabilisierung der Region zu stärken. Doch gibt es auch Gegenkräfte, die entweder an regionaler Zusammenarbeit keinerlei Interesse haben oder jede Staatenbildung überhaupt zu sabotieren versuchen. Das pakistanische Militär verdankt seine starke und lukrative Stellung vor allem dem Konflikt mit Indien und speziell der Konfrontation in Kaschmir. Es hatte den Krieg gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan und den folgenden Bürgerkrieg genutzt, um mit Hilfe der Taliban dort dauerhaft Einfluss zu gewinnen und zugleich terroristische Kapazitäten für die Auseinandersetzung um Kaschmir aufzubauen. Im pakistanischen Militär und Geheimdienst gibt es Kräfte genug, denen ein Vorwand, um Truppen aus den Stammesgebieten abzuziehen und an die indische Grenze zu verlegen, gerade recht käme. Eine dauerhafte Verständigung mit Indien würde die beherrschende Stellung des Militärs in Pakistan gefährden. Solche Kräfte könnten die Vorbereitungen für die Angriffe auf Mumbai wissentlich geduldet oder sogar gefördert haben. Sie haben Grund und Interesse, sich der Überzeugung zu verschließen, „dass der Kampf gegen den Extremismus in den Stammesgebieten Pakistans höchste Priorität ist und sein sollte, wenn es als moderner, toleranter Staat überleben will, in dem überall die gleichen Gesetze herrschen.“ (Daily Times, 12.12.) Wo bliebe in einem solchen Staat, wie ihn der frühere pakistanische Außenminister Najmuddin A Shaikh verficht, der Vorrang des Militärs?
Al Qaida sind stabile Staaten ein Gräuel
Den Strategen des islamistischen Terrors à la Al Qaida sind stabile Staaten selbst ein Gräuel, weil sie ihre Handlungsfähigkeit einschränken und zerstören könnten. Zudem sind die existierenden Staaten das Hindernis für ihr Ziel, eine islamistische Herrschaft auf solchen Gebieten zu errichten, die sie als Erbe der islamischen Expansion betrachten und beanspruchen. Dem Konzept, Staatenbildung durch Kooperation und Integration voranzubringen, wie es Karzai und Zardari zumindest in Worten vertreten, stehen also sowohl Teile des pakistanischen Militärs gegenüber, die ihre Stärke mit Pakistans Existenz gleichsetzen und Staatsbildung als einen Prozess der Konfrontation verstehen, wie die islamistischen Kräfte, die die bestehenden Staaten grundsätzlich negieren. Dazu kommen all jene Kräfte in der Region, die als Kriegsherren, Schmuggler und Provinzdiktatoren Staatenbildung als Angriff auf ihre kriminelle Existenz begreifen müssen.
Bei solchen Gegnern ist es einleuchtend, dass weder der afghanische noch der pakistanische Präsident auf äußere Unterstützung verzichten können. Doch gerade, weil sie schwache Präsidenten sind, ist die Gefahr groß, dass sie diese äußere Unterstützung nutzen, um ihre schwache Stellung durch Umleitung der Mittel und korrupte Netze zu stärken.
Das Dilemma in der Region bleibt, dass die bestehenden Staaten sich nicht nur kaum auf eigene staatliche Traditionen stützen können, sondern dass solche Traditionen, sofern vorhanden, eher quer zur einer modernen Staatsbildung in den bestehenden Grenzen stehen. Afghanistan verdankt seine Grenzen der Tatsache, dass keiner der imperialen Rivalen, Großbritannien oder Russland, es sich allein einzuverleiben vermochten und sich beide auch nicht über eine Aufteilung einigen konnten. Afghanistan ist die Restgröße fremder Expansionen. Indien und Pakistan hätten 1947 so nie aufgeteilt werden können, wenn sie zuvor nicht unter eine einheitliche britische Herrschaft gezwungen worden wären.
Religion kein Fundament eines modernen Staates
Die Religion eignete sich weder als Fundament eines modernen Staates, wie Pakistan zeigt, noch als Scheidungskriterium, wie Indiens große und benachteiligte islamische Minderheit beweist. Als erstes brachen West- und Ostpakistan (das heutige Bangladesch) auseinander. Kaschmir wurde zum Dauerzankapfel. Im Inneren Pakistans wie Indiens lauern Sezessionsprojekte. Sie stemmen sich gegen staatliche Regulierung. Ihr Widerstand flammt immer dann von Neuem auf, wenn die Regierung versucht, staatliche Regeln verbindlich zu etablieren. Auch wenn die Religion nicht als Fundament von modernen Staaten taugt, taugt sie doch als Resonanzboden für die Emotionalisierung und Radikalisierung gesellschaftlicher Konflikte.
Der indische Schriftsteller Amitav Gosh fragte in der New York Times vom 3. Dezember, ob der Terrorangriff auf Mumbai Indiens „9/11“ sei. Nicht genau, so meinte er. Unter anderem deshalb, weil Indien schon einige terroristische Angriffe ähnlichen Ausmaßes erlebt habe. Wenn Kommentatoren die Metapher „9/11“ aufgriffen, wollten sie tatsächlich die indische Regierung antreiben, eine vergleichbare Antwort zu geben. Doch ein Aufmarsch gegen Pakistan ist keine angemessene Antwort. „Die indische Regierung täte besser daran, sich auf internationale Anstrengungen zu konzentrieren, die Rückzugslager und Schlupfwinkel der Terroristen auszuschalten, von denen manche tief in Pakistan liegen. Außerdem wird Indien mit denen in der pakistanischen Regierung zusammen arbeiten müssen, die sich schließlich dazu durchgerungen haben, die Gefahren des Terrorismus anzuerkennen.“ Die Ziele in Mumbai glichen dem Angriff auf das Marriott in Islamabad letzten September, bei dem es ebenfalls unter Ausländern Tote gegeben hatte. „Hier gibt es bereits eine gemeinsame Erfahrung der beiden Länder – denn wenn dies in Hinsicht auf den Terrorismus ein schlechtes Jahr für Indien war, dann war es für Pakistan noch schlimmer.“
Der Hauptunterschied zum 11. September 2001 dürfte sein, dass der Angriff auf Mumbai in dem Sinn kein Angriff von außen war, als er direkt einer regionalen Konfliktlage und regionalstrategischen Konzeption entsprang und mit regionalen Kräften durchgeführt wurde. Damit sticht in die Augen, dass die regionale Zusammenarbeit auch die vordringlichste Aufgabe für eine wirksame Bekämpfung des Terrorismus ist. Den Worten müssen freilich Taten folgen und sie müssen internationale Unterstützung finden. Um noch einmal Amitav Gosh zu zitieren: „Wenn es irgendeine Lehre gibt, die aus der Welle von terroristischen Attacken zu ziehen ist, durch die der Globus im letzten Jahrzehnt erschüttert wurde, dann ist es diese: Über Sieg und Niederlage wird nicht durch den Erfolg des Anschlages selbst entschieden. Entscheidend ist die Antwort, die er findet.“