Lesbisch, 42 Jahre. Aus Odesa. Ging Mitte März 2022 mit ihrer Partnerin nach Europa. Lebt derzeit in Spanien. Das Interview fand im Juli 2023 statt.

Am letzten Tag vor der Invasion hatten wir richtig Spaß. Wir waren auf einem Junggesellinnenabschied: Unsere Freundinnen hatten in Dänemark geheiratet, und wir haben das gefeiert. Die Party fand in einer Weinhandlung statt. Wir haben getrunken, gelacht und getanzt. Als meine Freundin Tanya mich um fünf Uhr morgens anrief und rief: „Der Krieg hat begonnen!“, waren wir absolut entgeistert.
Alles in allem hatte ich nicht mit einer so schnellen und heftigen Entwicklung der Ereignisse gerechnet. Ich kann ehrlich sagen: In den zwei oder drei Jahren der ATO (Anti-Terror-Operation) im Donbas (Anm.: gemeint ist das militärische Vorgehen gegen die von Russland gesteuerten „Autonomist*innen“ in den sogenannten “Volksrepubliken Donezk und Luhansk”) hatte ich nichts von dem, was seit 2014 dort passiert, als real wahrgenommen. Manchmal hatte ich es sogar vergessen. Doch die persönlichen Geschichten meiner vertriebenen Freund*innen aus dem Donbas machten mir bewusst, dass diese Region gar nicht so weit weg ist.
Als der erste Schock überwunden war, begannen wir eine Tradition: Jeden Morgen gingen wir in die Oleksandrivskyi Avenue, um Kaffee zu trinken und uns über die Erlebnisse der Nacht auszutauschen. Es schien, als ob die Hälfte der Menschen, die in Odesa geblieben waren, sich dort versammelte. Einmal sahen wir beim Spazierengehen einen Panzer auf der Straße, neben dem junge Männer standen. Um ehrlich zu sein, hatten wir bis dahin Militärausrüstung, Panzerabwehrgeräte und Befestigungen für Sandsäcke nur in Filmen gesehen. Aber das war kein Film, es war das echte Leben. Es war ganz schön beängstigend. Mir machte das sehr zu schaffen. Ich brach in Tränen aus, holte ein gelb-blaues Band aus meiner Tasche und rief: „Wir werden siegen!!!“. Unsere Freund*innen lächelten, doch eine Minute später gab es eine Explosion über uns. Wir waren, gelinde gesagt, entsetzt. Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Die Soldat*innen rannten irgendwohin, dann blieben sie in der Nähe der Mauer...
Die Welt muss sehen, dass das Grauen und die Trauer noch immer da sind.
Wir verließen die Ukraine in Richtung Moldau. In einem halben Jahr haben wir halb Europa bereist. Nach Moldau kam Rumänien, und danach Ungarn. Dort lebten wir im Haus eines Amerikaners. Außer uns wohnten dort noch drei Jungs aus der Ukraine. Katja und ich schliefen gemeinsam in einem Kinderbett – die Köpfe in entgegengesetzte Richtungen gedreht. Wir fühlten uns dort wie Flüchtlinge, Flüchtlinge im schlechten Sinne des Wortes. Ohne ein Zuhause, ohne Rechte. Wohin sollten wir gehen, was sollten wir tun? Man musste eine Menge Foren lesen, Informationen aus dem Internet vergleichen... Wir haben allerdings nur kleine Grenzübergänge überquert. Dort hat uns niemand erwartet. Niemand hat uns eine Wohnung gegeben, niemand hat uns geholfen, uns einzuleben.
Jetzt sind wir in Spanien. Und obwohl es hier wunderschön ist, vermisse ich die Ukraine immer noch. Sie ist einfach meine Heimat. Die Mentalität der Menschen hier ist anders, das Essen ist anders, alles ist anders. Trotz allem versuchen wir aber, irgendwie zu helfen. In Deutschland haben wir an einer Kundgebung teilgenommen, bei der gefordert wurde, den Himmel über der Ukraine zu schließen. Das war sehr bewegend. Viele der Teilnehmer*innen haben geweint. In Spanien haben wir an Kundgebungen vor dem örtlichen Rathaus und an einer Kundgebung mit Autos teilgenommen. Wir versuchen, zu allen Veranstaltungen zur Unterstützung der Ukraine zu gehen. Die Welt muss sehen, dass das Grauen und die Trauer noch immer da sind. Die Einheimischen sind jedoch oft genervt. Mehr als einmal habe ich gehört, wie jemand so etwas wie „Niemand will dich hier“ in meine Richtung gesprochen hat. Das ist sehr verletzend. Vielleicht ist das ein weiterer Faktor, der dafür spricht, gemeinsam mit Katya nach dem Krieg zurückzukehren. Dennoch gab es Momente, in denen ich mich hier sehr glücklich fühlte. Zum Beispiel, als wir unser Haus fanden und mieteten, als Katya und ich heirateten.
Aus dem Englischen übersetzt von Christine Wiesmeier.