Natalia, 53 Jahre

Lesbisch, 53 Jahre. Aus der Stadt Cherson. Hat sich während der Besatzung in der Stadt aufgehalten. Das Interview fand im März 2023 statt.

Lesedauer: 4 Minuten
Illustration: Person mit kurzem, braunem Haar vor einfarbig olivgrünem Hintergrund, schaut nach vorn, trägt Jacke über dunklem Oberteil.

Ich wurde durch einen Anruf von meinem Neffen geweckt. Er sagte, dass der Krieg begonnen habe und ich fliehen müsse. Ich verstand nichts und wollte es nicht glauben, ging auf den Balkon und sah, wie Leute Sachen in Autos packten und wegfuhren. Irgendwo in der Ferne hörte ich ein Rumpeln.

Kein Schlaf, keine Arbeit, und Raketen am Himmel

Später sah ich eine Rakete vorbeifliegen und eine Explosion auf dem Flugplatz von Tschornobajiwka – der Balkon geht auf diese Seite hinaus. Es herrschten Schock und Panik, aber ich habe mich schnell wieder gefasst. Tagsüber saßen alle Bewohner*innen des Hauses mit ihren Tieren im Keller, und viele verbrachten die Nacht dort. Nachts ging ich nach Hause, aber ein oder zwei Wochen lang schlief ich vorsichtshalber in meiner Kleidung. Wenn man das überhaupt als Schlaf bezeichnen kann. Die Waren in den Supermärkten gingen schnell zur Neige und mein Geld auch. Ich habe meine Arbeit verloren. Zum Glück haben mir meine Freund*innen und mein Bruder und seine Frau geholfen.

Anfang März habe ich vom Balkon aus die russischen Soldaten gesehen. Es waren sehr viele, und sie liefen meine Straße entlang. Ich weiß noch, wie viel Angst ich damals hatte. Ich versuchte, nicht mit den russischen Soldaten zu reden und ihnen so weit möglich aus dem Weg zu gehen. Sie begannen, Waren aus Russland zu importieren – die Preise stiegen noch mehr, die Qualität war furchtbar. Die Medikamente waren unbrauchbar, das Futter für die Tiere schrecklich. Später verschwanden unsere Kommunikationskanäle. Stattdessen tauchten russische Netz- und Internetanbieter auf. Alle liefen mit Tastenhandys herum und ließen ihre Smartphones zu Hause, weil russische Soldaten sie immer kontrollierten.

Ich hatte den Verdacht, dass LGBTQ-Menschen wegen der Einstellung der russischen Streitkräfte während der Besatzung in größerer Gefahr waren, aber ich versuchte, in solchen Momenten nicht daran zu denken.

Am 7. Mai um 7 Uhr morgens (das könnte symbolisch gemeint sein) umstellten die russischen Streitkräfte unser Haus. Sie nahmen den Mann einer Freundin mit, mit der wir seit 45 Jahren befreundet sind. Sie hat überall nach ihm gesucht. Es war schwer, ihn zu finden. Nach einer Woche haben sie ihn gehen lassen. Wissen Sie, er ist so ein großer Kerl... Ich hätte nie gedacht, dass er so weinen kann. Er erzählte uns, wie er jeden Tag stundenlang gefoltert wurde, weil ihn jemand verpfiffen hatte. Seine Beine waren schwarz vor blauen Flecken. Er hat uns alles im Flüsterton erzählt. Danach kamen die russischen Soldaten noch fünf weitere Male, und jedes Mal nahmen sie jemanden mit. Währenddessen saßen wir immer da und dachten: „Sind jetzt wir dran?“ Ich hatte den Verdacht, dass LGBTQ-Menschen wegen der Einstellung der russischen Streitkräfte während der Besatzung in größerer Gefahr waren, aber ich versuchte, in solchen Momenten nicht daran zu denken.

Am 11. November, als unser Militär die Stadt befreit hatte, konnten wir es erst glauben, als Autos mit unseren Fahnen herumfuhren.

Ein Leben vor und nach dem Krieg

Jetzt habe ich wieder einen Job auf dem Markt, obwohl das Gehalt dort sehr niedrig ist. Ich werde von meiner Lebensgefährtin unterstützt. Sie arbeitet in einem Laden, so dass wir nicht hungern müssen. Es scheint, dass das Leben nie wieder so sein wird wie vor dem Krieg. Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wo ich arbeiten soll oder wie ich wenigstens einen grundlegenden Lebensstandard sichern kann. Ich weiß nicht, ob unsere Familie in der Ukraine akzeptiert werden wird. Trotz aller Veränderungen ist das Land nicht sehr tolerant. Vielleicht wird sich in fünf Jahren nach Kriegsende etwas ändern. Aber es ist schwer, daran zu glauben.


Aus dem Englischen übersetzt von Christine Wiesmeier.

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