Wie im Libanon mit Gerüchten um den öffentlichen Raum gekämpft wird

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Graffiti neben einem Café in Beirut

Um störende Debatten über die Nutzung öffentlicher Räume im Libanon zu verhindern, setzen die Mächtigen auf eine Mischung aus spärlich gestreuten Infomationen und Gerüchten. Aktivistinnen antworten mit Gegengerüchten - oder fordern Transparenz.

Einflussreiche Politiker und Geschäftsleute versuchen schon seit Langem, mitunter durchaus erfolgreich, den öffentlichen Raum entlang der Küste und im Hinterland des Libanons zu kontrollieren. Der libanesischen Bevölkerung wird Zugang zu öffentlichen Plätzen vorenthalten. Es gibt praktisch keinen kostenfreien Zugang zum Meer entlang der Küste und selbst in der Hauptstadt nur wenige öffentliche Gärten oder Parks. Im Laufe der Zeit hat sich diese Unrechtmäßigkeit, die in anderen Ländern ein Skandal wäre, zu einer normalen Praktik entwickelt. So kümmert die Zunahme von privaten Strandressorts an der eigentlich per Gesetz für die Öffentlichkeit zugänglichen Küste niemanden. Nur eine Handvoll Aktivist/innen hat über die Jahre hinweg diese Entwicklung in Frage gestellt. In ihrem Protest gegen die Privatisierung öffentlicher Plätze treten die Aktivist/innen einem unsichtbaren, aber hartnäckigen Feind gegenüber, nämlich Gerüchten, die die Bevölkerung davon abhalten sollen, von ihrem Recht auf Zugang zum öffentlichen Raum Gebrauch zu machen. Mangelnde Kommunikation seitens der Behörden, geheime Projekte, fehlende Informationen und Konflikte zwischen Aktivist/innen und Beamten zählen dabei zu den Faktoren, die zur Verbreitung von Gerüchten beigetragen haben. Diese Gerüchte haben sowohl zivilgesellschaftliche Kampagnen als auch Bauprojekte beeinträchtigt.

Einer der letzten Skandale betrifft den Abschnitt Dalieh an der Beiruter Strandpromenade, der vor Kurzem von Firmen, die den Erben des einstigen Premierministers Rafik Hariris gehören, zum Privateigentum erklärt worden ist. Geplant ist angeblich der Bau eines großen Ressorts, das die Taubenfelsen (Raoucheh) überblickt. An anderen Orten sorgte das Missmanagement von Behörden für Empörung, wie im Fall eines für den sogenannten Jesuitengarten geplanten Parkplatzes, der unterhalb der Gartenanlage gebaut werden sollte. Im Rahmen der Bauarbeiten sei der Garten jedoch teilweise zerstört worden. Weitere Beispiele sind der Pinienwald (Horsh) im Herzen Beiruts, der nach seiner Umgestaltung noch immer der Öffentlichkeit unzugänglich ist, oder der Beginn des bereits seit 50 Jahren geplanten Bau der Fouad Butros Autobahn mitten durch das Hikmeh Viertel in Achrafiyeh. Diese Beispiele werden von Aktivist/innen und Beamten erwähnt, wenn sie nach ihrer Erfahrung mit Gerüchten gefragt werden.

Wie beeinflussen Gerüchte Kampagnen?

Gerüchte erweisen sich als Störfaktoren, wenn es um den freien Zugang zu öffentlichen Räumen geht. „Gerüchte sind nicht bestätigte Informationen, die sich durch Mund-zu-Mund-Propaganda verbreiten“, erklärt Michel Abs, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Fakultätsdirektor für Soziologie und Ökonomie an der St. Joseph Universität im Libanon. Soziale Netzwerke spielen heute dabei eine große Rolle. „Die Gerüchte entfalten im Laufe der Zeit Wirkungskraft und je mehr sie sich verbreiten, desto eher wird geglaubt, dass doch etwas dran sein könnte“, sagt Abs.. „Gerüchte können ohne böse Absichten von Leuten verbreitet werden, die einfach die Realität fehlinterpretieren oder missverstehen. Es können aber auch Gerüchte, die eindeutig Lügen sind, in die Welt gesetzt werden. Oder aber Leute verbreiten Gerüchte, weil sie geheime, aber richtige Informationen an die Öffentlichkeit bringen wollen. Was Gerüchte um öffentlichen Besitz angeht, so fällt es den Leuten schwer, zwischen Wirklichkeit und Fantasterei zu unterscheiden, wie im Beispiel von Dalieh.“  Das Schweigen seitens der Bauherren, die diesen Strand bebauen wollen, habe die Debatte geschürt. „Doch genau diese Debatte wird sich in eine andere Richtung entwickeln, sobald die Entwürfe des Projekts enthüllt werden.“

Mohamed Zbeeb, Journalist und Mitgründer von Mashaa, einer Gruppe, die sich für die Sanierung von öffentlichen Räumen im Libanon stark macht, glaubt, dass Gerüchte zwar eine Rolle spielen, sie aber nicht die treibende Kraft seien, wenn es darum gehe, Aktivisten zu motivieren. “Im Fall von Dalieh berufen wir uns ausschließlich auf das Recht zu freiem Zugang zur Küste“, sagt er. “Es stimmt, dass das System, in dem wir leben, nicht transparent ist. Es gibt im Grunde keine Prozesse, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen, und Aktivisten müssen sich oft mit einer riesigen Menge von Informationen und/oder Gerüchten auseinandersetzen. Aber wir sind aus Prinzip gegen einige der Projekte.“

Laut Zbeeb haben Gerüchte dennoch großen Einfluss auf Kampagnen, die freien Zugang zu öffentlichen Räumen einfordern, da sie die Meinung der libanesischen Öffentlichkeit manipulieren. „Seit Jahrzehnten werden Gerüchte regelmäßig benutzt, um die Öffentlichkeit abzulenken“, erklärt er. „Um Dalieh zu kontrollieren, hat die politische Partei, die hinter den Firmenbesitzern des Ortes steht, das Gerücht verbreitet, dass sich dort Drogenhändler, Prostituierte, Vergewaltiger und Straßenkinder herumtreiben würden.“ Dalieh war einst ein beliebter Platz unter den Einwohner/innen Beiruts. Viele von ihnen gingen dort bis in die späten 60er Jahre schwimmen. Im Laufe des Kriegs und der Jahre danach fingen die Leute an, diesen Ort zu meiden, weil Gerüchte kursierten, dass es dort nicht sicher sei.

„Zum gleichen Zeitpunkt wurden weite Teile des Küstenstreifens aufgekauft“, sagt Zheeb „Wir sind dem in einer Studie nachgegangen, derzufolge die Anzahl der formellen Beschwerden sehr gering ausfiel. In Horsh Beirut geschah etwas Ähnliches: Die Gemeinde weigert sich noch immer, den öffentlichen Park wiederzueröffnen, unter dem Vorwand, dass eine Wiedereröffnung illegale Aktivitäten im Park befördern würde. Tatsache ist, dass der Park von beliebten Wohnvierteln umgeben ist, in denen Leute aus den verschiedenen gesellschaftlichen Lagern leben. Wir denken, dass die Behörden vermeiden wollen, dass Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und unterschiedlichen religiösen Lagern in diesem Park aufeinander treffen.

Wie Gerüchte als politische Werkzeuge genutzt werden

Abir Saksouk, eine junge Ingenieurin und Mitglied der zivilgesellschaftlichen Kampagne zum Erhalt von Dalieh el Raoucheh, glaubt, dass Gerüchte auf allen Ebenen der Zugangsproblematik existieren, besonders im Fall von Dalieh. „Gerüchte entstehen wegen der unklaren Haltung der Behörden, die sich weigern, Verantwortung zu übernehmen“, sagt sie. „Zu Beginn der Diskussion mit den Behörden über Dalieh erklärten sowohl der Umweltminister als auch mehrere Mitarbeiter des Rats für Entwicklung und Wiederaufbau, dass sie gegen die Bebauung dieser Gegend seien und drängten uns, den Druck auf das Innenministerium zu verstärken.

Das Innenministerium, das Direktorat für Stadtentwicklung und der Gemeinderat von Beirut stritten jegliche Verantwortung ab und machten es uns somit sehr schwer, dieses ‚Schattenproblem‘ zu bewältigen.“ Manchmal würden aber auch Gerüchte verbreitet, ohne augenscheinlich von irgendjemandem in die Welt gesetzt worden zu sein. „Unsere Kampagne ist nach ‚Dalieh el Raoucheh‘ benannt. Dieser Name führte zu Verwirrungen und wurde von vielen mit den eigentlichen Taubenfelsen verwechselt. Diese Leute glaubten, dass das Bauprojekt auf den Felsen selbst umgesetzt werden sollte, weshalb sie dagegen protestierten. Die Tatsache, dass die meisten Menschen eher um den Schutz eines Nationalsymbols, als um ihr Recht auf freien Zugang zu einem Strand bemüht sind, ist bedenklich.“

Gerüchte werden als politische Kontrollwerkzeuge par excellence verwendet, um die Meinung der Leute über öffentliche Räume und Flächen zu beeinflussen und störende Fragen und Debatten zu verhindern. Raja Noujaim, ein Aktivist, der an vielen der zuvor beschriebenen Kampagnen beteiligt ist, unterstellt den Behörden, die Wahrheit zu unterdrücken und Gerüchte zu nutzen, um die Meinung der Öffentlichkeit zu manipulieren und zivilgesellschaftliche Kampagnen zu behindern. „Viele mächtige Einzelpersonen in der Verwaltung arbeiten heimlich ausschließlich am Erhalt ihrer Eigeninteressen, obwohl das Gesetz von ihnen verlangt, ihre Entscheidungen öffentlich zu machen“, sagt er. „Gerüchte nehmen Überhand, wenn konkrete Informationen fehlen.

Es liegt an uns, Gerüchte als falsch zu entlarven und nach der Wahrheit zu suchen. Dabei helfen uns auch Whistleblower in der Verwaltung, die mit dem Verhalten der Beamten nicht einverstanden sind. Oder wir durchkreuzen ihre Pläne, indem wir Informationen von externen Beratern freigeben, wie es bei der Fouad-Boutros-Autobahn der Fall war.“ Bei diesem Projekt handelt es sich um ein Bauvorhaben, das die Zerstörung vieler alter Wohnviertel nach sich ziehen würde. „Und genau dieses Vorhaben wird vom Rat für Entwicklung und Wiederaufbau sowie dem Stadtrat Beiruts unterstützt“, sagt Noujaim.

Befinden sich tatsächlich archäologische Relikte unter dem Park?

Der Beiruter Stadtrat gehört zu den Behörden, die auf Hauptstadtebene an Zugangsfragen beteiligt sind. Hagop Terzian, Mitglied des Stadtrats, leugnet, Gerüchte zu verbreiten. „Diese Verhaltensweise ist vielleicht typisch für den Geheimdienst, aber gewiss nicht für einen Stadtrat, der dazu verpflichtet ist, sämtliche Entscheidungen öffentlich zu machen“, beteuert er. Der Stadtrat selbst sei vielmehr Opfer von Gerüchten, wenn es um umstrittene Projekte ginge.

Er nimmt Stellung zum Fall des Jesuitengartens: „Unser Ziel war der Bau eines dringend notwendigen Parkplatzes unterhalb des Parkgeländes, und gleichzeitig die Neugestaltung des Parks. Gerüchte verbreiteten sich, und ich glaube, diese wurden von Gegnern des Stadtrats in die Welt gesetzt. Es wurde behauptet, dass wir den Park nicht wieder aufbauen würden. Dann wurde behauptet, unter dem Park befänden sich archäologische Relikte. Es befinden sich tatsächlich einige Relikte im Jesuiten Park, die jedoch von einem anderen Standort dort hingebracht worden sind. Es gibt keine Beweise für die Existenz von archäologischen Relikten unter dem Park. Dennoch hat sich die Umsetzung des Bauprojekts verzögert, und die Leute in dieser Gegend streiten sich weiterhin jeden Abend um Parkplätze.“

Er gibt jedoch zu, dass Gerüchte manchmal hilfreich sein können: „Ich erinnere mich, dass ich einmal ein Gerücht gehört habe über die bevorstehende Zerstörung einiger der alten Stufen der Stadt. Wir haben die Sache untersucht und dabei herausgefunden, dass das Gerücht wahr war. So hatten wir die Möglichkeit, zu intervenieren und das umstrittene Projekt zu verhindern.“

Der unklare Wahrheitsgehalt von Gerüchten und die Ungewissheit über ihre Ursprünge erschweren eine Reaktion auf sie. „Gerüchte verbreiten sich blitzartig. Wir müssen gar nicht wissen, wer sie in die Welt gesetzt hat, um angemessen auf sie reagieren können“, erklärt Michel Abs. „Andererseits sind Gerüchte über öffentliche Angelegenheiten eng verknüpft mit den Befindlichkeiten der Leute. Deshalb ist es schwierig abzuschätzen, wie Leute auf Gerüchte reagieren und wie diese sich weiter entwickeln.“ Laut Abs kann man Gerüchte nur mit Transparenz bekämpfen. Er deutet an, dass ein transparenteres politisches System die Wirkung von Gerüchten verringern würde. „Aber darauf würde ich nicht wetten“, fügt er hinzu. „Neben den Ausgaben für die nationale Sicherheit, funktioniert in unserem System nur die eigene Gewinnmache. Die Belange der Öffentlichkeit stehen nicht sehr weit oben auf der Agenda der Behörden. Und wie können diese transparenter werden, wenn sie gleichzeitig etwas zu verheimlichen haben.“

Der Kampf um Transparenz und Gegengerüchte

Abir Saksouk und Mohammed Zbeeb sind sich einig, dass nur Transparenz und Wahrheitsfindung dem Einfluss von Gerüchten zuvorkommen können. Beide haben sich dem Imagewandel von stigmatisierten Orten wie Dalieh gewidmet. „Ein Gerücht ist eine Geschichte“, sagt Abir Saksouk. „Anstatt verzweifelt zu versuchen, zu widerlegen, was den Leuten erzählt wird, finde ich es erfolgsversprechender, die andere Seite der Geschichte zu beleuchten, um den Menschen zu zeigen, was es mit öffentlichen Räumen wirklich auf sich hat.“ Mohamed Zbeeb hebt die Wichtigkeit von Bürgerrechten hervor, die für ihn „über allen anderen Belangen stehen, vor allem über den trügerischen Vorteilen von privaten Bauprojekten.“

Nur Raja Noujam glaubt, dass Gerüchte mit Gegengerüchten bekämpft werden können. „Unsere Gegner, Behörden oder Investoren, benutzen Gerüchte, um unsere Kampagnen gegen ihre umstrittenen Projekte zu sabotieren“, erklärt er. „Unsere Gegner sind viel mächtiger als wir. Sie verfügen außerdem über besseren Zugang zu den Medien. Ich glaube, in manchen Fällen ist es legitim, sie mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen. So können wir zum Beispiel den Eindruck erwecken, uns ausschließlich einem Problem zu widmen, während wir tatsächlich an einer ganzen anderen Sache arbeiten. In manchen Fällen haben wir einfach keine Wahl. Unsere Gegner lassen uns keine Wahl.“

Abir Saksouk hingegen ist überzeugt, dass die Verbreitung von Gerüchten seitens zivilgesellschaftlicher Organisationen keine gute Strategie darstellt: „Ich glaube, dass Transparenz und Wahrheitsfindung die effizienteren Instrumente sind. Uns stehen andere Werkzeuge zur Verfügung, zu allererst die Justiz und unsere Gesetze. Aber ich weiß auch, dass sich die zivilgesellschaftliche Kampagne zum Erhalt von Dalieh aus vielen verschiedenen Menschen zusammensetzt, und ich respektiere die Ansichten aller.“
Mohammed Zbeeb führt aus: „Ich nutze Gerüchte nicht als Werkzeuge, zwar nicht aus moralischer Überzeugung, aber weil ich glaube, dass dies nicht unserem Zweck dient.“ Provokation sei eher der modus operandi von Machaa: „So haben wir zum Beispiel vor Kurzem eine Liste aller Politiker in der Presse veröffentlicht, die das öffentliche Gut am Küstenstreifen missachtet haben. Diese Liste bezeugt, dass Politiker aller Parteien beteiligt sind.“

Was die Reaktionen der Behörden auf Gerüchte angeht, so sagt Hagop Terzian, dass er dem Stadtrat empfohlen habe, sich eine bessere Kommunikationstrategie zuzulegen, um Gerüchte über ihre Projekte zu widerlegen. „Ich denke, dass unsere Teilerfolge und Transparenz die Gerüchte, die unsere Projekte behindern, aus der Welt schaffen werden. Im Bezug auf die Projekte, die ich begleite, wie die Restauration der historischen Stufen in Beirut, informiere ich die Öffentlichkeit, indem ich Bilder und Informationen in sozialen Netzwerken veröffentliche. Solange die Leute sehen, was der Stand der Dinge ist, können keine Gerüchte die Runde machen.“

Zugang zu öffentlichen Räumen einfordern

Warum haben Gerüchte so einen starken Einfluss auf die Libanesen? Was macht die Libanesen so anfällig? Michel Abs betont, dass das Gerüchtephänomen universell sei. Er erklärt aber auch, dass „das fehlende Vertrauen zwischen der Öffentlichkeit und den Behörden im Libanon im Bezug auf Angelegenheiten des öffentlichen Lebens dazu führt, dass die Bevölkerung den Entscheidungen der Behörden prinzipiell skeptisch gegenüber stehen. In einem Land wie dem Libanon, wo Leute weder ihrer Regierung noch den von ihnen gewählten Politikern über den Weg trauen, verbreiten sich Gerüchte über Missmanagement in Windeseile und werden von den eigenen negativen Erfahrung weiter angeheizt.“

Laut Abs könnte die Hauptursache dieses Problems kultureller Natur sein und ihren Ursprung in der Ära Mutasarrifiyas finden, als ein sich korruptes System etablierte, das niemals korrigiert wurde. Überraschenderweise stimmt Hagop Terzian mit dieser Aussage überein: „Die Behörden scheren sich nicht um vertrauensbildendes Handeln. Sie scheitern sowohl daran, Wahlen pünktlich durchzuführen als auch am politischen Tagesgeschäft. Ich hoffe, dass wir uns zu einer Gesellschaft entwickeln, in der jede Person, die Macht innehat, für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen werden kann. Gerüchten wird in unserer Gesellschaft so viel Bedeutung zuteil, weil wir erst nach der Wahrheit suchen, wenn es bereits zu spät ist und wir dem Schicksal die Schuld zuweisen. Wir müssen eine vernünftigere Gesellschaft werden, uns gehen die Entschuldigungen aus.“

Mohamed Zbeeb verfolgt diesen Gedankengang und geht noch einen Schritt weiter. Er behauptet, dass unsere Wahrnehmung vom öffentlichen Raum wie öffentlichen Stränden, von jahrelanger Propaganda geprägt ist. „Libanesen glauben den Gerüchten über den schlechten Ruf von öffentlichen Orten, weil ihnen ihre Vorstellung von sicheren öffentlichen Orten von einer gewaltigen Propagandamaschine geraubt wurde. Ausländer würden sich wundern, wenn sie erführen, dass Libanesen keinen freien Zugang zu Stränden an einem 240 Kilometer langen Küstenstreifen haben. Libanesen hingegen finden es völlig normal, für einen Strandbesuch zu bezahlen, weil sie davon überzeugt sind, dass ihre Sicherheit an freizugänglichen Orten nicht gewährleistet sei. Diese fixe Idee hängt mit der generellen Annahme zusammen, dass der Staat absolut korrupt ist.“

Zudem werde die Bebauung von öffentlichem Eigentum nicht geahndet. Dies ist auf ein politisches System zurückzuführen, das sich auf Gruppenzugehörigkeit, nicht nationale Zugehörigkeit stützt. „Den Libanesen wird weiterhin eingebläut, dass der Staat ihr Gegner sei und nicht, dass sie Partner des Staates, bzw. der Staat selbst sind. Korruption lässt sich auf das Tun und Handeln von Einzelpersonen zurückführen und es liegt an allen innerhalb eines Staatsgebiets, Korruption zu bekämpfen.“

Mohammed Zbeeb ist überzeugt, dass die Lösung des Problems in den Händen der Menschen liegt: „Wenn wir uns alle entschieden, öffentliche Strände zu besuchen, so würden diese ihren schlechten Ruf loswerden. Wir würden ihre ursprüngliche Bedeutung für uns wiederentdecken. Und wenn die Mehrheit der Bevölkerung ihr Recht auf freien Zugang zu öffentlichen Räumen einforderte, könnten sich korrupte Machthaber dieser Bewegung nicht in den Weg stellen.“

"Durchhaltevermögen ist der Schlüssel zum Erfolg"

Warum also nehmen nur wenige Menschen an Sitzstreiken zur Erhaltung öffentlicher Räume, wie Dalieh, teil? „Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass wir gegen eine monströse Propagandamaschine kämpfen,“ sagt Zbeeb. Er sieht drei Gründe für das öffentliche Desinteresse: „Erstens haben solche Angelegenheiten in einem Land, das sich kontinuierlich mit gravierenden Sicherheits- und Existenzfragen konfrontiert sieht, keine Priorität. Es ist kein Zufall, dass Baufirmen in unsicheren Zeiten besonders aktiv sind. Zweitens entwickeln die Leute keinen Bezug zu diesem Ort, aufgrund seines schlechten Rufs. Drittens hat sich die Gegend seit dem Krieg stark verändert.“ Ras Beirut sei voll von teuren Gebäuden, in denen Zuwanderer und Ausländer leben. Sie lebten abgeschieden von diesem Ort, der für die einst dort lebenden Menschen so wichtig war. „Sitzstreiks für den Erhalt anderer Orte, wie dem Jesuitengarten, genossen stärkeren Zulauf, weil die Bewohner einen stärkeren Bezug zu dem Ort haben.“

Raja Noujaim vertritt diesbezüglich seine eigene Meinung: „Ich denke nicht, dass die Leute sich heutzutage ihrer Bürgerrechte stärker bewusst sind als früher, aber sie sind als Aktivisten professioneller geworden. Behörden und Investoren vertuschen vermutlich Informationen und verbreiten Gerüchte in der Hoffnung, dass diese kleinen Gruppen des Protests müde werden und verschwinden. Durchhaltevermögen ist also der Schlüssel zum Erfolg.“

Ist ein Sieg im Streit um den öffentlichen Raum möglich? Aktivisten sind mehr oder weniger optimistisch. Sie betrachten das öffentliche Bewusstsein als einen entscheidenden Faktor. Nur von der gesellschaftlichen Basis ausgehende Impulse können Regierungsvertreter zwingen, sich an Gesetze zu halten und sich für das Wohl der Allgemeinheit einzusetzen, anstatt sich zu bereichern, indem sie Gesetze umgehen. Nur ein neues öffentliches Bewusstsein für den öffentlichen Raum kann die Gerüchte, die sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt haben, beseitigen. Doch das braucht Zeit.
 

Aus dem Englischen: Christina Sell

Dieser Text ist eine Übersetzung aus englischsprachigen Pulikation Perspectives Middle East #7: Rumours