Laptop-Generäle und Bot-Armeen: Die digitale Front in Russlands Ukraine-Krieg

Analyse

Digitale Technologien spielen im bewaffneten Konflikt in der Ukraine eine Schlüsselrolle – als Werkzeug für Cyberangriffe und digitalen Protest, aber auch als Beschleuniger für Information sowie auch Desinformation.

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Moderner Krieg heißt auch digitaler Krieg.

Der Krieg in der Ukraine spielt sich auf sehr unterschiedlichen Kriegsschauplätzen zu Lande, zu Wasser und in der Luft ab – aber auch online, von wo aus sie sich leicht auf mehrere Fronten ausdehnen können. In den Wochen und Tagen vor der russischen Invasion erfolgten zwei DDoS-Angriffe (Distributed Denial of Service) auf ukrainische Regierungs-, Militär- und Finanzwebsites. Bei einem solchen Angriff werden Websites mit falschen Informationsanfragen überflutet. Auf Hunderten von Computern in der Ukraine wurde eine datenlöschende Schadsoftware gefunden, die den Neustart von Computern verhindert, was die Arbeit ukrainischer Auftragnehmer der öffentlichen Hand in Litauen und Lettland beeinträchtigte. Die Regierungen der USA und des Vereinigten Königreichs sowie andere führten diese Angriffe auf Russland zurück.

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat unermessliches menschliches Leid verursacht, die Ära nach dem Kalten Krieg beendet und ein neues Zeitalter militärischer, politischer und wirtschaftlicher Konflikte eingeläutet. In allen Dimensionen dieses Konflikts spielen digitale Technologien eine Schlüsselrolle – als Werkzeug für Cyberangriffe und digitalen Protest sowie als Beschleuniger für Informations- sowie auch Desinformationsflüsse.

Expert*innen zeigten sich überrascht, dass die russischen Angriffe bisher weniger ausgereift waren als erwartet, vor allem, wenn man bedenkt, dass der aktuelle Krieg von langer Hand geplant war und die Ukraine seit fast einem Jahrzehnt regelmäßig unter russischen Hackerangriffen zu leiden hat. Andere warnen jedoch davor, dass Putin sein volles Cyber-Arsenal gegen westliche Länder einsetzen könnte, als Vergeltung für die Sanktionen, die Russland von den internationalen Finanzmärkten abgeschnitten haben, durch einen teilweisen Ausschluss vom Internationalen Finanzsystem SWIFT und durch Einfrieren der Guthaben der russischen Zentralbank in den Vereinigten Staaten.

„Wenn Russland Cyberangriffe auf unsere Unternehmen und unsere kritische Infrastruktur verübt, sind wir bereit, darauf zu reagieren“, sagte US-Präsident Joe Biden am vergangenen Donnerstag. Das Weiße Haus wies einen NBC-Bericht zurück, wonach es mit Vertreter*innen aus Unternehmen und Wirtschaft Optionen für präventive Cyberangriffe erörtert habe.

Ukraine: „Wir schaffen eine IT-Armee“

Auch die Ukrainer*innen sind bereit, mit aller verfügbaren Hilfe von außen diesen „Cyberkrieg“ zu führen. Zur Verteidigung der Ukraine haben mehrere EU-Länder ein Cyber Rapid Response Team aktiviert, bestehend aus Expert*innen aus Litauen, Kroatien, Estland, den Niederlanden, Polen und Rumänien. Gefördert wird das Projekt von der Verteidigungs- und Sicherheitsinitiative der EU Permanent Structured Cooperation (PESCO). Tesla-Chef Elon Musk aktivierte die Starlink-Satelliten von Space X, um die Ukraine auch bei Stromausfällen mit stabilem Internet zu versorgen. Google hat bekannt gegeben, einige Live-Verkehrstools für die Ukraine in Google Maps deaktiviert zu haben.

Die Ukraine verlässt sich aber nicht allein auf die Hilfe anderer Regierungen und globaler Konzerne. „Wir schaffen eine IT-Armee“, verkündete Vize-Premierminister Mykhailo Fedorov auf Twitter und forderte Freiwillige auf, zum Schutz kritischer Infrastrukturen der Ukraine beizutragen – aber auch Websites Russlands und seiner Verbündeten zu hacken. Mehr als 200.000 Menschen haben seither einen speziellen Telegram-Kanal abonniert, um Anweisungen zu erhalten. Die chaotische Situation hat eine Vielzahl von Akteur*innen auf den Plan gerufen, wie z. B. das Hackerkollektiv Anonymous, das Russland einen „Cyberkrieg“ erklärt hat. Die dezentralisierte Gruppe hat sich zu Störungen von Kreml-Websites bekannt. Berichten zufolge sollen am Sonntag auch staatliche russische Fernsehsender nach einem mit der Gruppe assoziierten Hackerangriff ukrainische Musik gesendet haben.

Während solche subversiven Handlungen in den sozialen Medien Beifall finden, befürchten einige, dass unkoordinierte offensive – statt defensive – Aktivitäten nichtstaatlicher Akteur*innen zu unvorhersehbaren Eskalationen führen könnten. Der in Deutschland ansässige Chaos Computer Club (CCC) warnte Hacker*innen davor, kritische Infrastrukturen anzugreifen – nicht nur wegen der Gefahren für die Zivilbevölkerung, sondern auch, weil der russische Präsident Wladimir Putin dann beliebig Sündenböcke identifizieren und an ihnen „Vergeltung“ üben könnte. „Das würde sehr schnell gefährlich, da Staaten auf solche Angriffe mit militärischer Logik reagieren“, so CCC-Sprecher Linus Neumann gegenüber dem deutschen Nachrichtenportal Netzpolitik.

Anonymous und andere Hacktivist*innen betrachten ihre Aktionen als Form des digitalen Protests gegen russische Desinformation und wollen dabei nicht der russischen Bevölkerung an sich schaden. „Putin, der Hackertruppen und Trollarmeen gegen westliche Demokratien einsetzt, bekommt einen Schluck seiner eigenen bitteren Medizin“, schrieb der deutsche Zweig der Anonymous-Bewegung in einem Blogpost.

Dieser Informationskrieg wird allerdings nicht allein von Freiwilligen geführt. Am Sonntag verbot die Europäische Kommission die Ausstrahlung der staatlich unterstützten russischen Medien Russia Today und Sputnik in der EU. Das größere Schlachtfeld sind jedoch die Plattformen der sozialen Medien, auf denen russische Akteur*innen Desinformationen und Propaganda verbreiten. Organisationen wie EU vs. Disinfo, ein Projekt der East StratCom Taskforce des Europäischen Auswärtigen Dienstes, sowie das Internet Observatory an der Stanford University ermitteln und entlarven russische Social-Media-Narrative, die als Vorwand für den Angriff auf die Ukraine dienen.

„Die Rechtfertigung für Russlands Krieg wurde auf Facebook konstruiert“

Wie bei anderen gewalttätigen Konflikten der letzten Jahre steht Facebook im Rampenlicht, weil die Plattform zulässt, dass solche Akteur*innen über sie die öffentliche Meinung polarisieren. Facebook teilt seine Nutzer*innen in gleichgesinnte „Herden“ ein, wie die Whistleblowerin Frances Haugen letzte Woche sagte. Die Plattform hat nun den Zugang zu einigen Konten russischer Staatsmedien gesperrt. Sowohl Facebook als auch das zu Google gehörende YouTube haben diese Medien weltweit für Werbung gesperrt. Twitter hat sämtliche Werbung in Russland und der Ukraine eingestellt. Russland hatte am Freitag den Zugriff auf Facebook teilweise eingeschränkt. Nach Angaben der Facebook-Muttergesellschaft Meta war dies eine Vergeltungsmaßnahme für die Weigerung des Unternehmens, seine Überprüfung von Beiträgen staatlicher russischer Medien zu einzustellen.

Nach Ansicht von Kritiker*innen tun Facebook und andere nicht genug. Nach Angaben des Center on Countering Digital Hate wird der Großteil russischer Propaganda von Facebook nicht gekennzeichnet. „Die Rechtfertigung für den russischen Krieg gegen die Ukraine wurde auf Facebook konstruiert“, schrieb die Geschäftsführerin der Organisation, Iman Ahmed, auf Tech Policy Press. Die Nutzer*innen spüren auch die Grenzen der Moderation von Inhalten. Am Freitag berichteten Journalist*innen der Frankfurter Rundschau, dass Trolle und Bots ihre Social-Media-Konten mit Pro-Putin-Nachrichten überfluteten. Sie hatten diesem Angriff nichts entgegenzusetzen, weil Facebook die Löschung von Kommentaren auf 10.000 pro Tag begrenzt.

Putins Krieg in der Ukraine ist nur das jüngste Beispiel für die Gefahren eines Social-Media-Geschäftsmodells, das polarisierende Inhalte belohnt. Die algorithmische Förderung und Monetarisierung solcher Inhalte spielte eine Rolle bei der Verfolgung der Rohingya-Minderheit in Myanmar, beim Sturm auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 durch einen wütenden Mob, der Donald Trumps Wahlniederlage nicht akzeptieren wollte, und bei der lautstarken Anti-Wissenschaftsbewegung während der Covid-19-Pandemie. Die katastrophalen Ereignisse in der Ukraine machen den Plan der EU, diese Plattformen mittels Gesetzgebung über digitale Dienste und digitale Märkte zu regulieren, noch dringlicher. Doch bis dahin müssen sich die Bürger*innen auf ihr eigenes Urteilsvermögen verlassen, um in der überwältigenden, ständigen Informationsflut Richtiges von Unrichtigem zu unterscheiden (einen Leitfaden gibt eshier).

Propaganda ist schon seit Jahrhunderten  elementarer Bestandteil von Konflikten und Kriegen. Doch noch nie zuvor ließ sie sich so weit über ein tatsächliches Konfliktgebiet hinaus verbreiten und sich an so viele unterschiedliche Zielgruppen zugleich richten (siehe den Artikel „Russland lügt in vier Richtungen“ sowie ein Tech Policy Press-Interview mit seinem Verfasser Clint Watts). „CNN brachte einst weit entfernte Kriege in unsere Wohnzimmer, aber TikTok, YouTube und Twitter bringen sie in unsere Hosentaschen“, schreibt Veronica Irwin im Newsletter des Protocol Source Code.

Zumindest in Ländern mit freiem Internet bietet die Plattformökonomie den Bürger*innen auf der ganzen Welt beispiellosen Zugang zu unabhängigen und ungefilterten Informationen, wie etwa Augenzeugenberichten aus der Ukraine. Gleichzeitig ist die Flut gefälschter und schädlicher Inhalte eine eindringliche Erinnerung daran, dass vom Menschen geschaffene Technologie niemals neutral ist.