Ausschreitungen gegen Gay Pride in Belgrad

Bei den homophoben Ausschreitungen gegen die Gay Pride wurden auch Parteibüros, Fernsehsender und Nichtregierungorganisationen angegriffen, die als EU-nah wahrgenommen werden. Die stundenlangen Krawalle vom Sonntag zeigen vor allem eines: die Spaltung der serbischen Gesellschaft und die Missachtung der Rechte von Minderheiten. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zu Feminismus & Gender.

Gut zehn Jahre nach jenem 5. Oktober 2000, an dem Milosevic damals dem Druck der Demonstrationen hatte weichen müssen und aus seinen politischen Ämtern vertrieben worden war, fand am 10. Oktober in Belgrad die erste Gay Pride nach 2001 statt. Knapp 6000 Polizisten mussten die etwa 1000 Demonstrierenden aus der LGBT-Bewegung vor etwa 6000 Gegendemonstranten schützen. Das massive Polizeiaufgebot verhinderte nicht, dass Parteizentralen, Einrichtungen von NGOs und Fernsehsender demoliert oder angezündet wurden.



Nach dem gestrigen 10. Oktober 2010 melden sich einige Stimmen zu Wort, die der Gay-Parade in Belgrad eine Bedeutung ähnlich der des Oktober 2000 zuweisen wollen. Aber das offizielle Belgrad reagiert ganz anders.



Im strikten Sinne politisch betrachtet sind die Demonstration gegen sexuelle Diskriminierung in Serbien und der damit endlich durchgesetzte Anspruch auf öffentlichen Raum zur Bekundung dieses Anliegens in der Tat Ereignisse von kaum zu überschätzender Tragweite. Diese Bedeutung kommt ihnen zu, weil seit dem Machtwechsel von 2000 kaum ein Interesse irgendeiner gesellschaftlichen Gruppe in solcher Deutlichkeit politisch eingefordert und unnachgiebig durchgesetzt worden war. Insofern machte die serbische LGBT-Bewegung ihrem Anspruch als politische Avantgarde alle Ehre, und ihr Erfolg wäre ein wirklich avantgardistischer, wenn dieses Beispiel öffentlicher Selbstbehauptung Schule machen würde.



Öffentlicher Raum - nur für die Mehrheit?



Aber die serbische Gesellschaft ist weit davon entfernt, den öffentlichen Raum auf diese Weise zu interpretieren und zu nutzen. Schon im vergangenen Jahr, als die Demonstration an massiven Gewaltdrohungen scheiterte, hatte ein bischöfliches Schreiben die Öffentlichkeit als den legitimen Raum ausschließlich der Mehrheit definiert. Der väterliche Autor dieses Hirtenbriefes hatte damals den „primären Akt von Gewalt“ im Insistieren der Schwulen gesehen, für ihr Anliegen in der Öffentlichkeit auftreten zu wollen. Alle weitere Gewalt sei demnach nur die Reaktion auf diese auslösende erste - bedauerlich zwar, aber nicht minder verständlich.



Am gestrigen Sonntag waren 1200 Demonstrierende auf dem Feld, knapp 6000 Polizeikräfte, um sie zu schützen, und 6000 Hooligans aus dem ganzen Land, um die Ehre von Volk und Vaterland mit allen Mitteln zu verteidigen. Letztere traten nach einem ausgeklügelten dezentralen Konzept auf den Plan, sie zerstreuten die Polizeikräfte an viele verschiedene Konfliktherde, und stürzten das Zentrum Belgrads für einen halben Tag ins Chaos. Die Polizei hatte neben der Demonstration auch jedes „westliche Objekt“ zu schützen – egal ob Botschaft, NGO, private Firmenniederlassung oder Büros der örtlichen Parteien, die den rechten und homophoben Steinewerfern allzu kompromissbereit gegenüber europäischem Druck erscheinen.



Wer diesen herbstlichen Sonntag mit dem Oktober 2000 vergleichen will, muss unterstellen, dass die extreme Gewaltbereitschaft der rechtsradikalen Schläger aus ihrem Gespür resultiert, dieses Mal ihre letzte Schlacht zu schlagen. Aber diese Frage ist noch nicht entschieden.



Gay Pride als Symbol für Freiheitsrechte



„Natürlich“ herrscht unter den lokalen politischen Kommentaren die Meinung vor, dass „diese paar Schwule“ es nicht wirklich wert gewesen seien, die Stadt von Tausenden Randalierern demolieren zu lassen. Manche sehen im gestrigen Tag ein eindeutig kontraproduktives Ereignis, das die Homophobie in der Gesellschaft eher noch steigern werde. Die so reden, wollen nicht sehen, dass es hier auch noch um weit mehr ging als das Recht auf ein freies und in keiner Weise diskriminiertes Leben von Menschen mit anderer sexueller Orientierung; dass dies nur ein Beispiel ist – wenn auch ein zentrales – für jegliche Art von Freiheitsrechten einer Minderheit bzw. Repressionsansprüchen einer Mehrheit.



Klar wie selten zeigt sich Serbien gespalten in vier Teile:

  1. das europäische Serbien, in diesem Fall repräsentiert von den Wenigen, die sich gegen Diskriminierungen jeder Art zur Wehr setzen.

  2. Das Serbien, das europäisch werden will – repräsentiert von den Regierenden, deren europäischer Wille deutlich zaghafter wird, wenn es statt um Straßenbau und Landwirtschaft um die Rechte von Schwulen und Lesben geht.

  3. Das „anständige Serbien“, das in Treue fest mit der Kirche vereint und keinesfalls bereit ist, die hohen Werte der nationalen Kultur preiszugeben für den schnöden Mammon, der bestenfalls von Europa zu erwarten wäre. Für dieses Serbien ist die Schwulenehe gleichbedeutend mit dem unabhängigen Kosovo – beides von der EU erpresserisch eingefordert, beides auf die unwürdige, erniedrigende Kompromissbereitschaft der Regierung abzielend.

  4. Schließlich das im Kampf um seine Selbstbehauptung militante Serbien, in dem sich die Transformationsverlierer mit den alten Ideologen des Nationalismus, den Veteranen der heroischen 90er Jahre und einer ecclesia militans gegen die drohende Dekadenz aus dem Westen zusammentun.

Die Übergänge sind fließend.



Einen Tag vor der Randale hatte das „anständige Serbien“ zur Demonstration gerufen und 5.000 – 10.000 haben für die Werte von „Familie und Vaterland“ demonstriert. Mit Kinderwagen, Ikonen vor der Brust und Rosenkranz um das Handgelenk haben sie ihrer Abscheu öffentlich Ausdruck verliehen - nicht gegen die zu erwartende Gewalt des nächsten Tages, sondern gegen die „Verschmutzung der Gesellschaft durch sexuelle Abartigkeit“.



Nach dem großen Clash am Sonntag berufen sich die politischen Parteien dieser „Anständigen“ darauf, dass sie die pubertierenden Kids nicht mehr im Zaum halten können, wenn diese auf Schwulen-Bashing gehen wollen, wenn ihr nur allzu verständlicher Zorn über die Stränge schlägt und sich gewaltsam Ausdruck verschafft. Sie, die national-konservativen Parteien, haben sich schon am Samstag prophylaktisch die Hände in Unschuld gewaschen. Und wenn einen Tag später die Jugend entgegen väterlichem Verbot zu Steinen und Eisenstangen greift, ist dann dieser Verfall von elterlicher Autorität nicht noch ein Zeichen mehr für den Einbruch westlicher Zersetzung traditioneller Regeln?



Es trifft durchaus zu, dass Europa Serbien diesen Tag der Gay Pride aufgezwungen hat. Aber es ist ebensowahr, dass Serbien ohne diesen Druck noch 15 Jahre auf diese Parade hätte warten müssen. Denn, wie auch regierende Politiker sagen, es gibt so viele vermeintlich wichtigere Probleme als die Toleranz gegenüber sexuell anders orientierten Gruppen der Gesellschaft.



Wenn man aber lange genug hinsieht, erscheinen alle mehr oder weniger wichtigen Probleme am Ende doch als eines und dasselbe: am gleichen Tag der Gay Pride meldet sich der für die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal verantwortliche Minister zu Wort. Enerviert von der nicht enden wollenden europäischen Kritik wegen des noch immer nicht verhafteten General Mladic bietet er an, dass er sich ja selbst in eine Haager Zelle einschließen lassen könne, bis dieser endlich gefunden und ausgeliefert sei. Wenn´s denn Europa befriedigen würde....





Weitere Bilder vom Länderbüro Serbien finden Sie im Flickr-Profil der Stiftung.

 

 

Erklärung des Helsinki Committee for Human Rights in Serbia (englisch)

Pride Parade and Parade of Violence 

Belgrade, October 10, 2010: Today’s first-ever “Pride Parade” in Belgrade was staged successfully as numbers of policemen were protecting participants. However, what surrounded the event was a brutal manifestation against the Serbian government’s pro-European course and its latest foreign policy turn. The violence that spread through the streets of Belgrade was well-organized and obviously thoroughly prepared. The facts that 80 police officers were among some hundred-odd injured and that premises of the Democratic Party and the Socialist Party of Serbia were devastated testify that all this was an assault against the law and order and, above all, against the government’s pro-European policy. 

A powerful organization obviously stands in the shadow of everything. Young people, mostly “football fans,” were used as instruments as usual – and they seized for violence not only to destroy but also to plunder. Today’s developments – except by their proportions and the attitude of law enforcement officers – associate the riots in the streets of Belgrade after Kosovo’s independence declaration. Masterminds are the same. A part of the Serbian Orthodox Church that seriously threatens with a schism, various right-wing groups, political and other players are hiding in the background. The interview conducted with Bishop Amfilohije Radovic on the eve of the Pride Parade was most indicative. Labeling homosexuality a mortal sin, he said, “Staging the so-called pride parade in the region overclouded by Euro-American civilization forebodes its ruin.”

The Serbian society is homophobic and any “different” sexual orientation is treated as disease and socially unacceptable behavior. A change in such perception is only one of many changes in the value system Europe expects Serbia to make. However, today’s outburst of violence proved that origins of intolerance in Serbia go much deeper: the society has not yet broached the 1990s wars or radical nationalism that keeps undermining Serbia’s normalization.

In such political context, vandalism marring almost every public event, is nothing but a constant endeavor at destabilizing the government and the country.

The Helsinki Committee demands punishment of all those who took part in violence against citizens of Belgrade and destruction of the city. And it also expects the authorities to thoroughly investigate the background of today’s developments.