Der Ausgangspunkt: Verfassung und Macht
Erstens: Die Einführung eines binominalen Wahlsystems, das bei den Parlamentswahlen de facto die zweitstärkste Kraft begünstigt (bis heute sind das die dem Militärregime nahestehenden Rechtsparteien) und ihr rund fünfzig Prozent in beiden Kammern des Kongresses (Abgeordnetenkammer und Senat) garantiert.
Zweitens: Die Schaffung des Amtes eines Senators auf Lebenszeit (alle ehemaligen Präsidenten, einschließlich Pinochets) und die Ernennung von Senatoren auf Lebenszeit (vier ehemalige Kommandeure der Armee und der Polizei, drei Vertreter des Obersten Gerichtshofs und zwei vom Präsidenten ernannte Vertreter), was in den ersten acht Jahren des Übergangs der Rechten eine Mehrheit im Senat sicherte.
Drittens: Die Schaffung der sogenannten Organgesetze mit Verfassungscharakter (insgesamt 18), durch die so wichtige Politikbereiche wie das Wahlsystem, das Bildungssystem oder die Bergbaukonzessionen geregelt werden und die aufgrund des für ihre Änderung oder Aufhebung erforderlichen hohen Quorums wie eine Verfassung der zweiten Kategorie wirken.
Die Politik der graduellen Entwicklung: Chile 1989-2010
Im Jahr 1988 berief General Pinochet eine Volksabstimmung ein, bei der die Bürger befragt wurden, ob sie für eine Fortsetzung des Regimes für die Dauer von weiteren acht Jahren oder für die Durchführung von Wahlen im nächsten Jahr, im Dezember 1989, waren. Als Pinochet das Plebiszit verlor, kam es zu einem Wechsel auf der politischen Bühne, in dessen Ergebnis der Vorschlag wichtiger Vertreter des Landes, Verfassungsreformen als Mittel für einen friedlicheren Übergang durchzuführen, unterstützt wurde. Diese Haltung wurde außer von der Opposition auch von der katholischen Kirche und liberalen Kräften innerhalb der Rechten unterstützt.
Die Vorschläge der Opposition zielten auf minimale Reformen der Verfassung ab. Sie wurden dabei von einigen Parteien der gemäßigten Rechten unterstützt. Der Renovación Nacional – einer Rechtspartei – kam hier eine entscheidende Rolle zu, denn trotz ihrer Unterstützung für das Regime war sie für die Durchführung bestimmter Veränderungen. Das zentrale Anliegen des Mitte-Links-Bündnisses (Concertación) war es, die Voraussetzungen für die künftige Umgestaltung der Verfassung zu schaffen, anstatt eine maximalistische Position für Verfassungsänderungen vorzuschlagen.
Der nächste Schritt war dann die Schaffung einer gemeinsamen Kommission zwischen Concertación und Renovación Nacional im Dezember 1988, an der Akademiker und Verfassungsrechtler beteiligt waren.
Am 5. April 1989 stellte die Kommission der Öffentlichkeit eine Reihe von Vorschlägen vor, zu denen zunächst unter anderem die Abschaffung der ernannten Senatoren, die Erhöhung der Zahl der Kongressabgeordneten und die Reform des Ausnahmezustandes gehörten.
Das Militärregime lehnte die Vorschläge dieser Gruppe ab, erklärte die Verhandlungen als beendet und verkündete, dass die Volksabstimmung über die Verfassungsreform zu den von ihm festgelegten Bedingungen stattfinden würde.
Nach der Rückkehr zur Demokratie am 11. März 1990 wurden durch den Kongress 25 Verfassungsreformen beschlossen, von denen das im August 2005 zwischen der Mitte-Links-Regierung von Ricardo Lagos und der Opposition beschlossene Abkommen, durch das ein großer Teil der autoritären Enklaven beseitigt wurde, die größten Auswirkungen hatte. Seit der Rückkehr zur Demokratie bestand die Strategie sämtlicher Mitte-Links-Regierungen (Aylwin, Frei, Lagos und Bachelet) darin, mit der Rechten zu grundlegenden politischen Vereinbarungen zu kommen. Da die Rechte durch ihre ernannten Senatoren bis mindestens März 2006 im Senat die Mehrheit kontrollierte, bestand für die politischen Stellen die einzige mögliche Alternative darin, Verhandlungen aufzunehmen und die Bedingungen für die Verhandlungen mit der Rechts-Koalition zu akzeptieren.
Der Entwurf wurde schließlich am 16. und 17. August 2005 verabschiedet und von der Regierung beschlossen. Zu den wichtigsten Reformen zählen die Abschaffung der ernannten Senatoren sowie der Senatoren auf Lebenszeit; die Verringerung der Befugnisse und der Zusammensetzung des Nationalen Sicherheitsrates; die Wiederherstellung der Befugnis des Präsidenten, die Oberbefehlshaber der Streitkräfte und den Generaldirektor der Polizei in den Ruhestand zu versetzen; die Veränderung der Zusammensetzung des Verfassungsgerichts, wodurch die Rolle des Kongresses bei der Nominierung der Richter dieses Gerichts gestärkt wurde; sowie die Ausweitung der Befugnisse der Abgeordnetenkammer, die Tätigkeit der Regierung zu kontrollieren.
Zur Wirkung der Verfassungsreformen
Welche Wirkungen ergaben sich daraus, dass die Dinge in dieser Form getan wurden? Ich behaupte, dass die Wirkung dieser Reformstrategie zu einer Erosion der Demokratie führt und sie nicht vertieft. Der gestellte Anspruch ist eine starke Kraft, wenn es darum geht, Gesetze abzufassen. Und bei den Verfassungsreformen sind unerwartete Wirkungen eingetreten, durch die die Kluft zwischen Politik und Bürgern vergrößert und nicht verringert wird. Es wurde versucht, Einzelheiten zu verbessern, dies hat aber das Allgemeine beschädigt.
Die Reformen, die man erwartet hatte, sollten eine größere Bürgerbeteiligung ermöglichen, mehr Dezentralisierung der Regierungsgewalt erreichen, größere Möglichkeiten zur Förderung einer stabilen und langfristigen öffentlichen Politik schaffen und zu mehr Transparenz und mehr Kontrolle über die Parteispitzen führen. Allerdings laufen die in den letzten zehn Jahren umgesetzten Reformen genau in die entgegengesetzte Richtung: Die Beteiligung beschränkt sich auf die Eliten, das Gewicht der Regierung wird nicht reduziert, die Undurchsichtigkeit nimmt zu und die Rolle der Parteiführungen wird stärker.
Die aktuelle politische Debatte
Bei der nächsten Frage geht es darum, ob eine neue Verfassungsordnung möglich ist. Das Interessante an der Situation nach 2005 ist, dass die weiter oben erwähnten wichtigen Reformen nicht zu einer größeren Verfassungstreue geführt haben. In der Tat gab es im Kongress weitere Vorschläge, den Wortlaut der Verfassung zu ändern. Zwischen 2006 und 2012 kam es zu einer Verdreifachung der Vorschläge für Verfassungsreformen. Darüber hinaus schlugen im Jahr 2009 drei der vier Präsidentschaftskandidaten aus der ersten Runde substanzielle Reformen des politischen Systems vor und diese erhielten beim ersten Wahlgang insgesamt 55% der abgegebenen Stimmen.
In diesem Jahr, 2013, zeigt sich ein interessantes Bild, weil die Kandidatin mit den größten Siegeschancen, Michelle Bachelet, die eine von den Christdemokraten bis zur Kommunistischen Partei reichende Koalition repräsentiert, auf die Notwendigkeit von zwei für Strukturreformen in der Gesellschaft gegebenen Bedingungen verwiesen hat: a) Das Vorhandensein einer neuen Mehrheit im Kongress und b) die Verabschiedung einer neuen Verfassung. Die sozialen Bedingungen werden sich nicht ändern, wenn diese beiden Bedingungen nicht erfüllt sind. Das Interessante an diesem Vorschlag ist, dass zum ersten Mal seit der Rückkehr zur Demokratie eine Kandidatin der Mitte-Links-Koalition (Concertación) nicht mehr offen am Gedanken der Verfassungsreform, sondern definitiv an der Erarbeitung einer neuen Verfassung festhält.
Allerdings scheint die Debatte einen nur schwer zu entwirrenden Knoten zu enthalten. Wenn man nicht in beiden Kammern des Kongresses über eine ausreichende 3/5 Mehrheit verfügt, kann keine neue Verfassung verabschiedet werden. Und ohne neue Verfassung können keine Strukturreformen durchgeführt werden. Und weil kein relevanter Akteur die bestehenden Institutionen zerschlagen will, kann eine Änderung nur im bestehenden Verfassungsrahmen vorgenommen werden.
Da es aber sehr unwahrscheinlich ist, dass man in beiden Kammern ausreichende Mehrheiten bekommt, reduziert sich die Angelegenheit auf zwei Optionen: a) Entweder findet man innerhalb der bestehenden Institutionen ein Schlupfloch, eine institutionelle Möglichkeit, um im Kongress eine Reform zu beschließen und die Einberufung einer Volksabstimmung zu ermöglichen, oder b) man überzeugt eine ausreichende Anzahl von Vertretern der Rechten von der Notwendigkeit bestimmter grundlegender Minimalreformen, um das politische System zu stärken, eine breite Kommission einzusetzen und zum Schema der Reformmechanismen von "oben" (top-down) zurückzukommen, in die dieses Mal aber mehr Beteiligte einbezogen werden. In diese Strategie könnten dann auch solche Vorschläge wie die Änderung des Wahlsystems und die Abschwächung des zugespitzten Präsidialsystems als Bestandteil einer zukünftigen politischen Agenda aufgenommen werden. So wie beim Domino-Effekt könnte man erwarten, dass sich aus einer dieser Reformen weitere Reformen ergeben, die dann schließlich zu einem Rahmen institutioneller Stabilität führen.
Eine andere Möglichkeit ist, dass aus der Gesellschaft selbst, aus der organisierten Zivilgesellschaft heraus, ein Mechanismus für sozialen Druck entsteht, um für eine neue Verfassung einzutreten. In dieser Hinsicht ist die Kampagne "Marca tu voto" (Kennzeichne deine Stimme) etwas Neues. Hier wird vorgeschlagen, die Abstimmung als Mittel für sozialen Druck einzusetzen. Mit der Kampagne will man erreichen, dass die Chilenen bei den Präsidentschaftswahlen ihren Stimmzettel mit den Buchstaben AC (asamblea constituyente) – verfassungsgebende Versammlung – kennzeichnen, um so die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung für die Erarbeitung einer neuen Verfassung zu fordern. Das gegenwärtige chilenische Wahlgesetz legt fest, dass die Stimmzettel, auf denen klar eine bestimmte Präferenz ersichtlich ist, die aber mit Kennzeichnungen versehen sind, zwar zu „beanstanden“, aber dennoch für den- oder diejenigen, dem die Präferenz gilt, zu zählen sind. Darüber hinaus sollen die Schriftführer in den Wahllokalen in den Unterlagen einen Vermerk über die erfolgten Kennzeichnungen anfertigen.
Es handelt sich also um eine legale gesellschaftliche Kampagne. Seit März 2013 unterstützt eine Gruppe von Akteuren aus unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft diese Kampagne und ruft dazu auf, den Stimmzettel mit einer Markierung für eine verfassungsgebende Versammlung zu versehen, um dadurch Druck auf das politische System auszuüben. Wenn diese Kampagne Erfolg hat, soll sie zu einer tatsächlichen Volksabstimmung umgewandelt werden. Sie wäre zwar rechtlich nicht bindend, würde aber einen politischen Tatbestand schaffen. Diese Kampagne ist aufgrund ihres politischen und sozialen Kontextes in der Gesellschaft auf große Sympathie gestoßen. Seit 2006 und insbesondere nach 2011 hat sich die Bedeutung von verschiedenen sozialen Bewegungen mit ihren Forderungen nach mehr Gleichheit beim Zugang zu Bildung, einer Verbesserung der Umweltqualität, mit den in den territorialen Gebieten oder Regionen des Landes erhobenen Forderungen nach mehr Dezentralisierung und mit den von den indigenen Gemeinden im Norden und Süden und auf der Osterinsel gestellten Forderungen erhöht. Das aktive Eintreten für diese Forderungen hat zu einer Annäherung der unterschiedlichen Interessen geführt, die in der Ausarbeitung einer neuen Verfassung münden, weil das Bildungswesen von einem Organgesetz mit Verfassungscharakter, die Rechte der Indigenen von der Anerkennung der Urvölker und ein größeres Maß an Dezentralisierung ebenfalls von der Verfassung abhängen.
Unabhängig von dem zu beschreitenden Weg (und sicherlich wird man auf beiden Wegen weitermachen – die Schaffung einer Kommission und Druck seitens der Gesellschaft), ist meiner Meinung die entscheidende Frage, die wir uns als Gesellschaft stellen müssen, die, welches Demokratiemodell wir für das Land brauchen. Streben wir nach einem Modell, in dem die Freiheit über der Gleichheit steht? Streben wir nach einem Modell, das Freiheit als Nichteinmischung in die Angelegenheiten des Einzelnen ansieht, oder nach einem Modell, das Freiheit als nicht Nicht-Dominanz betrachtet? So wie wir uns Fragen nach dem Wirtschaftsmodell stellen, sollten wir uns auch fragen, nach welchem Demokratiemodell wir streben.
Ich halte daran fest, dass unser Ziel die Schaffung einer Gesellschaft von Gleichen sein muss, in der die Politik ein Spiegel unserer Gesellschaft und unserer Elite ist. Dies würde erfordern, dass wir das Wesen unseres politischen Systems – und das heißt Verfassung – neu definieren müssten. Denn offenbar führt die Überwindung der wirtschaftlichen Ungleichheit nicht zu mehr politischer Gleichheit, sondern das Gegenteil ist der Fall. Die Schaffung von Bedingungen politischer Gleichheit führt zu einer größeren wirtschaftlichen Gleichheit.
Die "Versuchung", die Spielregeln zu ändern, ist keine Versuchung. Es ist vielmehr eine Notwendigkeit. Aber heute stehen wir vor einem Dilemma. Eine Gruppe von Akteuren wünscht eine neue Verfassung. Wie kann man zu einer neuen Verfassung kommen, wenn dies im gegenwärtigen Rechtsrahmen nicht möglich ist? Ich denke, es gibt hierfür nur eine politische Lösung. Es bedarf einer breiten, pluralistischen, die anderen einbeziehenden politischen Einigung, um einen Übergang zu ermöglichen. Wenn eine ausreichende Zahl von Parteien zu dem Schluss kommt, dass ihnen der gegenwärtige Status quo Nachteile bringt, wird man zu einer politischen Lösung kommen. Und es kann vier Lösungen geben:
Die erste und wahrscheinlichste ist, dass eine große Gruppe von politischen Akteuren eine Lösung "von oben" unterstützt. Eine Präsidialkommission, eine Kommission der beiden Kammern, eine Kommission angesehener Personen schlägt einen Text vor, der dann von den Menschen bestätigt wird. Das Problem bei dieser Lösung ist die fehlende Legitimität.
Die zweite ist Druck von unten, Druck auf das politische System, damit, wie es die Kampagne „Marca tu voto“ vorschlägt, eine verfassunggebende Versammlung gebildet wird.
Eine Zwischenlösung könnte darin liegen, dass der Kongress eine Verfassungsreform zur Schaffung einer verfassungsgebenden Versammlung beschließt. Diese Lösung wurde von einigen Verfassungsrechtlern vorgeschlagen. Institutionelle Lösungen gibt es viele, aber im Grunde geht es darum, dass sich das Gesetz immer an die Politik anpasst und nicht umgekehrt. Die Politik definiert die Gesetze und nicht die Gesetze die Politik. Wenn wir diese Prämisse akzeptieren, werden wir feststellen, dass die Debatte über die neue Verfassung im Wesentlichen ein politisches und kein juristisches Problem ist und es deswegen von der Fähigkeit des neu gewählten Präsidenten und der Fähigkeit und Stärke der Zivilgesellschaft abhängt, in einem durch mehr Einbeziehung und Chancen zur Teilnahme gekennzeichneten politischen Prozess, eine neue Verfassung zu fordern.