Schwarz-Grün ist abgehakt, und viele Grüne sind darüber erleichtert. Mich bedrückt eher das Gefühl, dass wir auf unabsehbare Zeit die große Politik eher von der Seitenlinie aus kommentieren als sie aktiv mitgestalten werden. Mit der großen Koalition drohen verlorene Jahre für eine ambitionierte Klimapolitik und den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft. Das ist besonders bitter mit Blick auf Deutschlands Rolle in Europa und auf der internationalen Bühne. Im Frühjahr 2014 sollen die Klima- und Energieziele der Europäischen Union bis zum Jahr 2030 beschlossen werden. Ein Jahr später findet der nächste Klimagipfel in Paris statt – vielleicht der letzte Anlauf für ein verbindliches globales Abkommen, bevor der Treibhauseffekt außer Kontrolle gerät. Es macht einen Unterschied, ob Deutschland in Europa und der Welt als Lokomotive oder als Bremser des ökologischen Wandels auftritt. Auch auf andere zentrale Anliegen wie die Energiewende, Elektromobilität, eine umweltverträgliche Agrarpolitik, Bildung als Bürgerrecht, eine liberale Einwanderungspolitik, Bürgerrechte im Netz und das gemeinsame europäische Haus werden die Grünen in den kommenden Jahren wenig Einfluss haben. Wer etwas auf die politische Tagesordnung setzen will, wird sich an die Regierungsparteien wenden. Wie schrieb Bernd Ulrich in der ZEIT: man kann auch Geschichte machen, indem man es lässt.
Dauer-Opposition macht nicht unbedingt klüger
Am Ende dieser Legislaturperiode werden die Grünen im Bund zwölf Jahre in der Opposition sein. Ja doch, Kritik der Regierung ist eine ehrenwerte Rolle in der parlamentarischen Demokratie. Aber Franz Müntefering hatte mehr als nur ein bisschen recht mit seinem berühmten Ausruf „Opposition ist Mist“. Man macht doch Politik, um zu gestalten. Und das geht aus dem Leitstand der Regierung ungleich wirkungsvoller als aus der Opposition – zumal angesichts der überwältigenden Mehrheit, über die Union und SPD im neuen Bundestag verfügen. Auch macht Dauer-Opposition nicht unbedingt klüger. Sie kann auch zur politischen Regression führen, zum Rückzug ins politische Wolkenkuckucksheim oder in trotzige Linkshaberei. Attacke muss sein, wenn sich die Gelegenheit bietet. Aber zugleich geht es darum, den programmatischen Akku aufzuladen und wieder zum Zentrum interessanter Debatten zu werden. Soweit die Heinrich-Böll-Stiftung dazu beitragen kann, wollen wir das gern tun. Wer über politische Macht verfügt und über den Bundeshaushalt entscheidet, steht von ganz allein im Zentrum der Aufmerksamkeit. In der Opposition muss man sich diese Aufmerksamkeit verdienen.
Welche Rolle die Grünen in den kommenden Jahren spielen werden, hängt nicht zuletzt davon ab, welche Lehren sie aus dieser Wahlniederlage ziehen. Es war erklärtes Ziel, eine Million Stimmen zu gewinnen. Am Ende verloren sie fast eine Million Wählerinnen und Wähler an SPD und Union. Schlimmer noch, im Lauf des Wahlkampfs stürzten die Grünen in der öffentlichen Wahrnehmung brutal ab. Bis weit ins Frühjahr hinein schienen sie auf einer Erfolgswelle zu schwimmen: Eine Serie erfolgreicher Landtagswahlen, der erste grüne Ministerpräsident in einem industriellen Kernland der Republik, Ergebnisse jenseits der 20 Prozent-Marke in vielen Städten. Die Partei war auf dem Weg, aus ihrem bisherigen Wählerspektrum herauszuwachsen. Bio-Lebensmittel, alternative Energien, Fair-Trade, Car Sharing, Ganztagsschulen, Gleichstellung von Lesben und Schwulen, Kosmetik ohne Tierversuche, energieeffizientes Bauen, Kritik von Rüstungsexporten – der Zeitgeist schillerte grün. Im Bund lagen die Umfragen bis in den Frühsommer hinein um die 14 Prozent. Danach ging es zunächst langsam, dann heftig bergab.
Vordergründig waren es drei Ereignisse, die uns in die Defensive brachten. Zentrale Botschaft des grünen Programmparteitags war eine ganze Serie von Steuererhöhungen. Das brachte weite Teile des Mittelstands gegen die Partei auf. Aus Dialog wurde Konfrontation. Die nächste Forderung, mit der die Grünen von sich reden machten, war der „Veggie Day“. Fortan haftete uns das unfrohe Image der Gängelung und Bevormundung an. Der dritte Schlag kam mit der Zuspitzung der Päderastie-Debatte. Sie brachte zutage, dass die Forderung nach Entkriminalisierung sexueller Beziehungen mit Kindern in den 80er Jahren keineswegs nur eine Randerscheinung war. Das war besonders bitter für eine Partei, die gern mit dem erhobenen Zeigefinger argumentiert. In der Entrüstung, die sich über die Grünen ergoss, spürte man die Genugtuung, uns endlich vom Sockel der höheren Moral zu stoßen. Hier geht es nicht um „Inhalte“, sondern um eine Haltung, die von vielen als überheblich und selbstgerecht wahrgenommen wird.
Ein Kardinalfehler war, dass die Grünen sich zwischen SPD und Linkspartei einklemmten
Die Kombination dieser drei Faktoren reicht schon aus, um eine Negativdynamik zu erzeugen. Aber die Ursachen, weshalb wir bei diesen Wahlen so weit unter unserem Potential blieben, liegen tiefer. Ein Kardinalfehler war, dass die Grünen sich zwischen SPD und Linkspartei einklemmten. In dieser Nische wächst kein Grün. Faktisch haben sie einen Umverteilungswahlkampf innerhalb des linken Lagers geführt, statt in die Mitte der Gesellschaft auszugreifen. So gelang es nicht, das brachliegende Reservoir aus frustrierten Liberalen und heimatlosen Wertkonservativen anzusprechen. Das historische Projekt der Grünen, die ökologische Modernisierung der Industriegesellschaft, spielte im Wahlkampf keine Rolle. Es gab kein vorwärtsweisendes Konzept für die Energiewende 2.0, kein grünes Investitionsprogramm für Europa, keine überzeugende Idee einer grünen Industriepolitik. Überhaupt gab es kaum positive Botschaften. Statt die eigenen Stärken nach vorn zu rücken, arbeitete man sich verbissen an der Kanzlerin ab. Dazu kam, dass die Partei in der heißen Phase des Wahlkampfs keine ernsthafte Regierungsperspektive mehr hatte. Auch das wirkte nicht gerade mobilisierend auf potentielle Wählerinnen und Wähler.
Es ist an den Grünen, dem Konzept einer sozialen Bürgergesellschaft eine politische Stimme zu geben
Angesichts der wachsenden sozialen Kluft und der Verfestigung prekärer Arbeits- und Lebensbedingungen im unteren Fünftel der Gesellschaft war es nicht verkehrt, die Gerechtigkeitsfrage zu stellen. Der springende Punkt war, dass sich der grüne Gerechtigkeitsdiskurs kaum von SPD und Linkspartei unterschied: Mindestlohn, Mindestrente, höhere Steuern für die Wohlhabenden, Bürgerversicherung etc. So war kein eigenes sozialpolitisches Profil zu gewinnen. Dabei verfügen die Grünen durchaus über eine Konzeption sozialer Teilhabe, die sich von der traditionellen Linken wie von neoliberalen Positionen unterscheidet. Die Rede ist von der Bedeutung öffentlicher Güter für eine inklusive Gesellschaft: Kindergärten, Schulen und Hochschulen, Museen und Theater, Bibliotheken und Sportanlagen gehören dazu ebenso wie ein leistungsfähiges und erschwingliches öffentliches Verkehrssystem. Zur Geschichte der Grünen gehört aber auch die Idee und Praxis bürgerschaftlichen Engagements. Soziale Teilhabe vermittelt sich nicht nur über den Staat, sondern durch eine große Vielfalt von Bürgerinitiativen, Selbsthilfeprojekten, Vereinen, Genossenschaften, privaten Stiftungen etc. Dieser „dritte Sektor“ zwischen Staat und Markt ist heute politisch unterrepräsentiert. Es ist an den Grünen, dem Konzept einer sozialen Bürgergesellschaft eine politische Stimme zu geben.
In jüngster Zeit ist wieder viel von grüner Eigenständigkeit die Rede. Es ist allerdings noch wenig gewonnen, wenn künftig weder Koalitionen mit der Union noch mit der Linken ausgeschlossen werden sollen. Das sagt noch gar nichts über den Kurs, den die Grünen einschlagen wollen. Erfolgreich werden sie nur als politische Alternative sowohl zur Union wie zu SPD und Linkspartei sein. In den Gründerjahren hieß das: nicht rechts, nicht links, sondern vorn. Für eine Partei, die Ökologie, Freiheit und soziale Teilhabe in einem neuen Politikentwurf kombiniert, stehen viele Türen offen.
Hinweis: Der Beitrag ist eine Entgegnung auf „Niederlage in der Mediendemokratie - Das grüne Bundestagswahlergebnis 2013“ von Ralph Obermauer und erscheint am 28.11.2013 in der aktuellen Ausgabe von Böll.Thema „Grüne Zeitenwende“