Wir sollten nicht vergessen, wodurch die Massenproteste ausgelöst wurden, die schließlich zum Sturz des alten Regimes in Kiew geführt haben: es war die plötzliche Abkehr des damaligen Präsidenten Janukowitsch von dem unterschriftsreifen Assoziierungsabkommen mit der EU. Die dramatische Wende der Ereignisse im Februar 2014 gibt der Ukraine, aber auch Europa zehn Jahre nach der „orangenen Revolution“ eine zweite Chance.
Das Allerwichtigste ist jetzt eine rasche und deutliche Antwort der internationalen Gemeinschaft auf die faktische militärische Okkupation der Krim durch Russland und die darüber hinausgehende Drohung mit dem Einsatz russischer Truppen in der Ukraine „bis zur Wiederherstellung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung“. Diese flagrante Verletzung der UN-Charta kann nicht hingenommen werden. Die europäischen Regierungen müssen der russischen Führung klar vor Augen führen, dass die militärische Intervention in der Ukraine einen hohen wirtschaftlichen und politischen Preis haben wird.
Europa ist keineswegs ohnmächtig gegenüber dem russischen Vorgehen. Fünfzig Prozent des russischen Außenhandels werden mit der EU abgewickelt, 75 Prozent der ausländischen Investitionen kommen aus der EU, ein guter Teil des Vermögens der russischen Machtelite ist in Europa angelegt. Die EU ist das wichtigste Geschäftsfeld für Gazprom. Darin steckt ein erhebliches Potential, Druck auf die russische Führung auszuüben. Es geht nicht darum, die Brücken abzubrechen, sondern Russland zum Gewaltverzicht aufzufordern, der Grundlage der europäischen Friedensordnung ist.
Auch unabhängig von der aktuellen militärischen Bedrohung steht die neue ukrainische Regierung vor gewaltigen Herausforderungen. Sie muss das tiefe Misstrauen der ukrainischen Bürger in die gesamte politische Klasse durch eine transparente Reformpolitik überwinden, der Bevölkerung reinen Wein hinsichtlich der desolaten finanziellen Lage einschenken und die strukturellen Probleme in Staat und Wirtschaft angehen. Die EU ist gefordert, sie auf diesem Weg nach Kräften zu unterstützen. Ohne das finanzielle und politische Engagement der Europäischen Union wird jede Regierung in Kiew scheitern. Vor allem aber müssen wir der ukrainischen Gesellschaft ein lange überfälliges Signal senden: Eine demokratische Ukraine ist in der EU willkommen! Das Projekt eines vereinigten Europas endet nicht an den heutigen Ostgrenzen der Union.
Wenn man über den Status quo hinaus denkt, ist eine demokratische, wirtschaftlich prosperierende Ukraine auch im besten Interesse Russlands. Wer der Ukraine heute mit Rücksicht auf Russland eine europäische Perspektive verweigert, riskiert damit, dass sie auf lange Sicht ein Krisenfaktor im Osten Europas bleibt. Die legitimen ökonomischen und politischen Interessen Russlands zu berücksichtigen ist das eine – die Ukraine auf ewig der russischen Einflusssphäre zuzuschlagen etwas ganz anderes.
Zehn Prioritäten für die Ukraine-Politik der EU
Die EU muss sich auf ein intensives politisches und finanzielles Engagement in der Ukraine einstellen. Mit der angekündigten Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens werden sich die Voraussetzungen dafür deutlich verbessern. Damit die demokratische Transformation und wirtschaftliche Konsolidierung gelingt, sollte die EU
- Einen fairen Verlauf der ukrainischen Präsidentschaftswahlen sichern
Entsendung von Langzeitbeobachtern der OSZE, des Europarats und des EU-Parlaments; finanzielle Unterstützung für einheimische Wahlbeobachtung. - Politische Institutionen stärken
Beratung auf dem Weg zu einer effektiven Gewaltenteilung und einem unabhängigen Verfassungsgericht; Stärkung des Parlaments als Zentrum eines transparenten politischen Entscheidungsprozesses; finanzielle und politische Unterstützung für die ukrainische Zivilgesellschaft und freie Medien. - Die Einheit des Landes befördern
- Beratung des ukrainischen Parlaments bei der Verabschiedung einer inklusiven Sprachgesetzgebung.
- Förderung der Gleichberechtigung aller ethnischen Gruppen, inklusive der Krimtataren
- Null Toleranz gegenüber chauvinistischen oder antisemitischen Aussagen von Parlamentariern oder Angehörigen der Exekutive.
- Justiz, Polizei und Strafvollzug auf die Höhe der europäischen Menschenrechtskonvention bringen.
Kritische Begleitung der anstehenden Gerichtsprozesse gegen Mitglieder der Janukowitsch-Regierung - Energiesicherheit der Ukraine als Teil der Energiesicherheit Europas begreifen:
Die EU muss in energiewirtschaftlichen Verhandlungen mit Russland auf langfristige Versorgungssicherheit für alle Seiten dringen. Gleichzeitig sollten wir die Ukraine dabei unterstützen, ihre Energieversorgung zu diversifizieren und die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen zu reduzieren. Das beinhaltet- Programme zur Verbesserung der Energieeffizienz der Industrie und im Gebäudesektor
- Vorbereitungen für einen „Reverse Flow“ zur Sicherung der ukrainischen Gasversorgung im Falle russischer Boykottmaßnahmen
- Verringerung der Verluste im Transportnetz und bei Gasspeichern
- Umsetzung der Verpflichtungen der Ukraine im Rahmen der Europäischen Energiegemeinschaft: Liberalisierung und Entflechtung des ukrainischen Energiesektors
- Förderung von Pilotprojekten im Bereich erneuerbarer Energien
- Den Staatsbankrott verhindern und die wirtschaftliche Modernisierung voranbringen:
Die Ukraine bedarf sofortiger Finanzhilfen, um den Staatsbankrott abzuwenden. Sie müssen Hand in Hand gehen mit Reformen von Wirtschaft und Verwaltung, die sicherstellen, dass diese Gelder nicht veruntreut werden. In diesem Zusammenhang sollten die Aktiva (Geldvermögen, Firmen, Immobilien) ukrainischer Politiker, Funktionäre und Oligarchen in der EU überprüft und gegebenenfalls an die ukrainische Regierung zurückgeführt werden.
Strukturreformen müssen mittel- und langfristig angelegt werden, von Schocktherapien ist dringend abzuraten. Die ukrainische Zivilgesellschaft sollte in Monitoring-Verfahren einbezogen werden, um der Korruption einen Riegel vorzuschieben.
Eine besondere Herausforderung ist die Modernisierung des Bergbaus und der Schwerindustrie im Süden und Osten des Landes. Ob sie in ihrer heutigen Dimension Bestand haben werden, ist zweifelhaft. Deshalb muss parallel die Diversifizierung der Wirtschaft in diesen Regionen vorangetrieben werden. Dafür sollte die EU einen speziellen Fonds für kleine und mittlere Unternehmen auflegen. - Mit Russland verhandeln
Aufnahme von trilateralen Beratungen mit Russland zu praktischen Fragen, die mit dem Abschluss des Assoziations- und Freihandelsabkommens EU-Ukraine entstehen:- Förderung des grenzüberschreitenden Handels zwischen Russland und der Ukraine
- Vereinbarungen zur energiewirtschaftlichen Zusammenarbeit der drei Parteien; Bildung eines Joint Ventures zur Modernisierung des ukrainischen Pipeline-Netzes
- Ein sicherer Rechtsstatus russischer Unternehmen in der Ukraine
- Erhalt der Reisefreiheit zwischen beiden Ländern.
- Reisefreiheit ermöglichen
Mit der neuen Regierung sollte zügig die Aufhebung der Visapflicht für ukrainische Staatsbürger vereinbart werden. Bis zum Abschluss entsprechender Abkommen sollten die Visumsgebühr abgeschafft und weitere EU-Konsulate in verschiedenen Regionen des Landes eröffnet werden. - Für die EU als Partner der Ukraine werben
Einrichtung von EU-Informationsbüros in verschiedenen Regionen des Landes, v.a. im Süden und Osten; breite Information über den Assoziierungsvertrag und das Freihandelsabkommen in russischer und ukrainischer Sprache. - Soforthilfe zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung leisten
Der dramatische Niedergang des Gesundheitswesens und die alltäglich Korruption in diesem Sektor zählt zu den schlimmsten alltäglichen Erfahrungen in der Ukraine. Mit einem Sofortprogramm zur Verbesserung des Gesundheitswesens würde die europäische Solidarität kurzfristig und spürbar bei der Bevölkerung ankommen.