Wie viel ist genug? Über die nukleare Aufrüstung in Südasien

Vier pakistanische Marschflugkörper auf einem Transporter.
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Vier pakistanische Marschflugkörper auf einem Transporter. Der Babar Cruise Missle kann sowohl mit konventionellen als auch mit nuklearen Sprengsätzen bestückt werden

Drei Jahre lang hat Pakistan im Alleingang – und erfolgreich – die Genfer Abrüstungskonferenz daran gehindert, über die Frage einer Obergrenze für spaltbares Material zu diskutieren. In diplomatischen Kreisen hat sich das Land damit logischerweise den Ruf eines Quertreibers eingehandelt, der alle Bemühungen in diese Richtung torpediert. Zu seiner Verteidigung führt Pakistan an, es sehe sich bedroht durch eine Invasion von Seiten Indiens, und dies bewege es dazu, sich auf einen taktischen Atomkrieg vorzubereiten.

Gefechtsköpfe von unter einer Kilotonne sind teuer; obwohl sie eine zehn- bis fünfzehnmal geringere Zerstörungskraft haben als ein sogenannter „City-Buster“, wird für ihre Herstellung drei- bis viermal so viel spaltbares Material benötigt. Für ein Land, dessen Vorräte an spaltbarem Material begrenzt sind, spielt diese Tatsache eine Rolle – und es erklärt Pakistans Widerstand gegen den Fissile Material Cut-off Treaty (FMCT). Pakistan führt zudem ins Feld, der Atomvertrag zwischen den USA und Indien[1] sei, im Verein mit älteren Problemen, welche die Überprüfung sowie vorhandene Waffenbestände betreffen, Gründe für seinen Widerstand gegen den FMCT.

Pakistans derzeitiger Bestand an Nuklearwaffen, dem Vernehmen nach der am schnellsten wachsende der Welt, liegt angeblich bei 100 bis 120 Gefechtsköpfen. Die zur Abschreckung „notwendige“ Zahl wird von Verteidigungsexperten generell offengelassen; genaue Zahlen sind fast nie zu finden. Entsprechend sind die Zahlen, die ein pensionierter pakistanischer Luftwaffenoffizier nannte, von einigem Interesse: „Wir gehen davon aus, dass unser Abschreckungspotential mindestens auf die Zerstörung zweier Städte des Feindes ausgelegt sein und dass dazu jede dieser Städte von fünf Atombomben getroffen werden muss; weiter davon, dass wir in der Lage sind, mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit die feindliche Verteidigung zu überwinden und schließlich, dass der Feind über die Fähigkeit verfügt, 50 Prozent unseres Nuklearwaffenbestands durch einen Erstschlag zu vernichten. Legt man diese Faktoren zugrunde, ergibt sich folgende Kalkulation für die Zahl der Waffen, die nötig sind, um ein Mindestmaß an Abschreckung zu gewähren:

  • Anzahl der erforderlichen Bomben, um zwei Städte zu zerstören (bei fünf pro Stadt): zehn Bomben pro Stadt
  • Rechnet man die Fähigkeit des Feindes ein, 50 Prozent abzufangen: 20 Bomben
  • Der Feind kann 50 Prozent unseres Bestands durch einen Erstschlag ausschalten. Demnach benötigen wir 40 Bomben, um unter den genannten Bedingungen ein Mindestmaß an Abschreckung zu haben.“[2]

Diese relativ bescheidene Anzahl von 40 Bomben wird jedoch zu atemberaubenden tausend, wenn derselbe Autor von anderen Prämissen ausgeht: „Wir wollen jetzt einmal annehmen, dass der Feind seine Angriffs- und Verteidigungdmaßnahmen verstärkt hat. Er kann nun – wegen eines verbesserten NMD-Systems [National Missile Defense System] – 90 Prozent unserer Nuklearwaffen abfangen. Zudem hat er seine Schlagkraft durch eine höhere Anzahl von Nuklearwaffen mit größerer Zielgenauigkeit gestärkt und kann jetzt durch einen Erstschlag 90 Prozent unseres Nuklearwaffenbestands vernichten. Nun sieht die Kalkulation wie folgt aus:

  • Anzahl der erforderlichen Bomben, um zwei Städte zu zerstören (bei fünf pro Stadt): 10 Bomben
  • Rechnet man die Fähigkeit des Feindes ein, 90 Prozent abzufangen: 100 Bomben
  • Rechnet man eine Gegenschlagsfähigkeit des Feindes von 90 Prozent ein: 1000 Bomben.“[3]

Hier zeigt sich eine kranke Logik. Spielt man nur nach Belieben mit den Prämissen, erhält man auch beliebige Ergebnisse – letztlich jedes Ergebnis, das man sich wünscht – und dabei sieht es so aus, als sei dies alles logisch hergeleitet.

Auf der indischen Seite kann man vergleichbare logische Kapriolen finden. Wie Pakistan weigert sich auch Indien, einer Obergrenze für seinen Nuklearwaffenbestand zuzustimmen. Ganz im Gegenteil heizt Indien Pakistans Ängste weiter an, indem es lautstark mit seinen militärischen Fortschritten prahlt. Die Ankündigung[4] der Defense Research and Development Organization (DRDO) von 2012, dass „für Delhi und Mumbai, die beiden wichtigsten Metropolen Indiens, ein Raketenabwehrschirm aufgebaut werden soll“, schürt die Ängste der Pakistani. Die meisten Fachleute sind allerdings der Ansicht, eine solche Raketenabwehr sei technisch nicht möglich, da die Vorwarnzeit nur vier bis sechs Minuten betrage, Scheinanlagen ohne großen Aufwand errichtet werden könnten und auch elektronische Störmanöver denkbar seien. Mit Raketen einen Feind anzugreifen, ist verhältnismäßig einfach, jedoch ist es sehr schwierig, bestimmte Ziele gegen Raketen in der mittleren Flug- bzw. der Endphase zu schützen. Ein Bericht der American Physical Society konstatiert, selbst die Zerstörung von Raketen während der Startphase (wenn sie ein wesentlich einfacheres Ziel bieten) sei ausgesprochen schwierig.[5]

Der Wettlauf zwischen China und Indien

Da Indien sich mit China in einem Wettlauf um Macht und Einfluss befindet, hängt es seinen historischen Rivalen, Pakistan, zunehmend ab. Selbst mit einer minimalen Abschreckungsfähigkeit gegenüber China, ist Indien Pakistan weit voraus.

Als Indien im Juli 2009 mit der Seeerprobung seines Atom-U-Boots Arihant begann, einem U-Boot mit 7.000 Tonnen Verdrängung und der Fähigkeit, ballistische Raketen in getauchtem Zustand abzufeuern, hob es den Konflikt mit Pakistan auf eine neue Stufe. Dieses U-Boot, das inzwischen einsatzbereit ist, ist das erste von fünf solchen Schiffen, und es ist geplant, diese Flotte durch atomgetriebene Jagd-U-Boote zu ergänzen. Bereits im Jahre 2012 nahm Indien das atomgetriebene Jagd-U-Boot INS Chakra in Betrieb. Mit dem Stapellauf des in Eigenregie gebauten Flugzeugträgers INS Vikrant im August 2013 – er soll bis 2018 in Dienst genommen werden – verfügt Indien über eine Hochseekriegsmarine, mit der es auf allen Weltmeeren seine strategischen Interessen vertreten kann. Auch Indiens DRDO meldet Erfolge: Nach dem Erstflug der Agni V-Rakete, die eine Reichweite von 5000 km hat, sagte der Chef der DRDO, V. K. Saraswat, man werde in Zukunft in der Lage sein, Varianten der Agni mit Mehrfachgefechtsköpfen (MIRVs) zu bestücken. Am 10. Mai 2012 erklärte er: „Wofür ich früher vier Raketen benötigt habe, genügt jetzt eine. Vom Zerstörungspotential her erhöht das unsere Schlagkraft.“[6]

Die florierende indische Wirtschaft, deren Wachstum sich erst seit Kurzem verlangsamt, stützt die rasante Aufrüstung des Landes. Mit nur einem Sechstel der Indien zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel, kann Pakistan bei der Aufrüstung nicht Schritt halten. Allerdings zeigt die Geschichte, dass jeder Schritt Indiens in Pakistan eine Reaktion erzeugt. Wie zu erwarten, haben die Meldungen über Indiens neue Waffensysteme in Pakistan für Unruhe gesorgt. Tariq Osman Hyder, ein ehemaliger Diplomat, der zwischen 2004 und 2007 bei den Verhandlungen mit Indien über konventionelle und nukleare Raketen die pakistanische Delegation leitete, reagiert wie folgt: „Was soll Pakistan tun? Erstens muss es eine eigene U-Boot-Flotte für den nuklearen Gegenschlag entwickeln, etwas das man sicher bereits in Betracht gezogen hat, da wir über das indische Programm schon lange informiert sind. Zweitens muss es seine konventionell ausgerüsteten U-Boote mit nuklear bestückten Marschflugkörpern bewaffnen. Drittens, die Unterstützung Russlands für Indien bei diesem Projekt und das Fehlen jeglichen Protestes von Seiten der USA oder Anderer hat gezeigt, dass es sich mit dem internationalen Nuklearwaffensperrvertrag vereinbaren lässt, Atom-U-Boote sowie die Technik, sie herzustellen, zu leasen. Pakistan sollte folglich prüfen, was man in diesem Sinne machen kann.“[7]

Im Kern bedeutet dies, der nukleare Rüstungswettlauf zwischen Pakistan und Indien wird sich absehbar fortsetzen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen Sonderweg des Indischen Subkontinents. Eskalation liegt in der Natur der nuklearen Bestie: Im Kalten Krieg erreichte im Jahr 1967 die Zahl der Gefechtsköpfe der USA einen Spitzenwert von 31 255.[8] Nur eine dieser Bomben – selbst eine der kleineren – würde, auf eine Stadt abgeworfen, Hunderttausende Menschen töten, und der Fallout würde die Stadt auf Jahre unbewohnbar machen.

Praful Bidwai, ein scharfsinniger Beobachter der indischen Atomszene, resümiert die aktuelle Lage in Südasien so: „Aktuell weigern sich beide Länder, Obergrenzen für die Anzahl ihrer Waffen festzulegen. Dasselbe gilt für Trägersysteme, und der Begriff „Flexible Response“ wird nicht definiert. Der Einsatz taktischer Nuklearwaffen, der vormals als Eskalation galt und jedes minimale Abschreckungspotential weit übersteigt, ist heute fester Bestandteil der indischen Militärdoktrin. Alles in allem bedeuten Indiens Militärstrategie und Pakistans Pläne, dass jeder größere indisch-pakistanische Konflikt unweigerlich zum Einsatz von Nuklearwaffen führen wird.“[9]

Wo die wirklichen Gefahren liegen

Die größte Gefahr geht nicht von der steigenden Zahl an Nuklearwaffen aus, sondern von bestimmten strategischen Doktrinen. Indiens neuer Ansatz dafür, wie man auf einen neuerlichen Angriff durch Dschihadisten aus Pakistan - analog zu dem von Mumbai im Jahr 2008 - reagiert, wurde in der Cold Start-Doktrin festgeschrieben.[10] Diese fordert rasche Vorstöße nach Pakistan, eine Art von Salami-Taktik, wobei man einen konventionellen Krieg „im Schatten der nuklearen Drohung“ führen werde (eine interessante neue Formulierung – benutzt von General Deepak Kapoor im Januar 2010).

Durch WikiLeaks wissen wir, dass der US-Botschafter in Indien, Tim Roemer, in einer geheimen Depesche nach Washington, Cold Start beschrieb als „Plan nicht für eine umfassende Invasion und Besetzung Pakistans“, sondern „für ein rasches, zeitlich und räumlich begrenztes Vordringen auf pakistanisches Territorium“.[11] Weiter schrieb er, „alle in der Botschaft gehen davon aus, dass für Indien die Folgen eines solchen Vorgehens nicht nur positiv ausfallen dürften“. Er warnte Indien vor Cold Start und resümierte: „der indischen Führung ist zweifellos klar, dass, obgleich Cold Start darauf zielt, eine Strafaktion gegen Pakistan in Grenzen zu halten und keine nukleare Reaktion zu provozieren, sie nicht sicher sein können, ob sich die pakistanische Führung tatsächlich einer solchen Reaktion enthalten würde.“

Wie Pakistan auf einen indischen Angriff reagieren würde, ist vorhersehbar: Man würde für einen taktischen Atomkrieg mobilmachen. Angenommen, es käme zu einem zweiten Mumbai, und die Spannungen erreichten wiederum ein bedrohliches Niveau, wie könnten dann mögliche pakistanische Reaktionen auf eine Operation Parakram, Cold Start o.ä. aussehen? Mit folgenden Eskalationsstufen wäre zu rechnen, wobei unter Umständen hier und da eine Stufe übersprungen werden könnte:

  1. Energische Bekenntnisse der politischen und militärischen Führung Pakistans, vergleichbar denen bei früheren Krisen, verbunden mit der unverhüllten Drohung, ein Atomkrieg stehe unmittelbar bevor.
  2. Mobilisierung einiger Raketen sowie von Flugzeugen, die mit Nuklearwaffen bestückt werden können. Dies ließe sich in Indien durch RISAT (Radar Imaging Satellite) feststellen, denn dieser Satellit auf einer Umlaufbahn von 870 km Höhe verfügt über Synthetic Aperture Radar, mit dem bei jeder Wetterlage sowie tags und nachts Aufnahmen gemacht werden können.[12] Zu erwarten ist, dass Indien mit einer vergleichbaren Mobilisierung reagieren würde. Pakistan seinerseits ist bei der Aufklärung allerdings auf Unterstützung aus China angewiesen, da das Land über keinen entsprechenden Satelliten verfügt.
  3. Ein unterirdischer Atomtest Pakistans. Technisch ist ein solcher Test möglich, und man nimmt an, dass Pakistan bereits einen Ort dafür gewählt und vorbereitet hat (vermutlich wieder in Belutschistan). Da Pakistan den Kernwaffenteststopp-Vertrag nicht unterschrieben hat, wäre dies kein Verstoß gegen internationales Recht. Indiens Reaktion dürfte ähnlich ausfallen: Jene indischen Wissenschaftler, die sich schon lange ein Feintuning für ihre thermonuklearen Waffen herbeisehnen, würden grünes Licht bekommen.[13]
  4. Pakistan wirft eine Atombombe über einer unbewohnten Wüstengegend des Landes ab. Der psychologische Effekt eines solchen Vorgehens wäre erheblich größer als bei einem unterirdischen Test; der Atomblitz würde von Flugzeugen und Satelliten registriert, und der Atompilz würde den Fallout weit in die gerade vorherrschende Windrichtung tragen. Natürlich müsste man in Betracht ziehen, dass selbst Wüstenregionen nicht vollkommen unbewohnt sind, aber Pakistan wird das wohl kaum daran hindern, so vorzugehen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Indien es Pakistan in diesem Falle nachtun würde (unterirdische Atomtests wären jedoch denkbar). Pakistans Aktion würde wohl nicht als Verletzung eines NFU-Prinzips (No First Use = Verzicht auf den Ersteinsatz) gelten.[14] Eine solche Aktion sorgte jedoch für viel Wirbel, und wahrscheinlich würde Pakistan für eine solche nukleare Eskalation des Konflikts weltweit verurteilt werden. Indien seinerseits würde dann versuchen, einen totalen internationalen Boykott gegen Pakistan zu erwirken.
  5. Einsatz taktischer Nuklearwaffen gegen nach Pakistan vordringende indische Truppen. Die Entwicklung von Nuklearwaffen kurzer Reichweite wie Nasr und Abdali deutet darauf hin, dass die pakistanischen Militärplaner dies für ein denkbares Szenario halten und sich entsprechend vorbereiten. In einer Pressemitteilung der pakistanischen Inter-Services Public Relations (ISPR) vom Mai 2012 war zu lesen: „Nasr hat eine Reichweite von 60 km und ist versehen mit nuklearen Sprengköpfen mit adäquater Sprengkraft, hoher Zielgenauigkeit und geringer Verweildauer in der Feuerstellung. Mit diesem System kann auf drohende Gefahren rasch reagiert werden.“[15] Indiens Reaktion auf einen Angriff mit taktischen Nuklearwaffen könnte so aussehen: a) Ein Generalangriff mit konventionellen Waffen und eine Sperrung pakistanischer Häfen. b) Ein einzelner Atomangriff auf ein militärisches Ziel in Pakistan. Im zweiten Fall stellte sich die Frage, ob eine weitere Eskalation dann noch zu verhindern wäre.
     

Obwohl um taktische Nuklearwaffen viel Aufhebens gemacht wird, sind sie möglicherweise keine besonders effektive Waffe – bei einer Invasion kann man davon ausgehen, dass Kampfeinheiten so gut verteilt und mobil genug sind, dass sie kein gutes Ziel für einen Atomangriff abgeben.[16] Allein die Tatsache aber, dass Nuklearwaffen eingesetzt wurden – und sei es auch nur auf pakistanischem und nicht auf indischem Gebiet –, bedeutete einen Tabubruch und Gefahrenstufe Rot; Städten in beiden Ländern drohte dann tödliche Gefahr.
 

Was ist zu tun?

Vor dem Hintergrund der Rivalität mit China ist Indien vermutlich nicht bereit, auch nur die geringste Rücksicht auf Pakistans Ängste zu nehmen und das Tempo zu drosseln, in dem neue konventionelle und nukleare Waffen beschafft werden. Ein auf beiden Seiten tief verwurzelter Hass macht es wesentlich wahrscheinlicher, dass es zu einem militärischen Konflikt zwischen Indien und Pakistan kommt, als zu einem zwischen Indien und China. Seit Januar 2013 kommt es zu Artilleriebeschuss entlang der Demarkationslinie in Kaschmir, und dies hält an, obgleich führende Personen auf beiden Seiten zugesagt hatten, für ein Ende zu sorgen. Und obwohl Pakistan von den pakistanischen Taliban angegriffen wird, unterstützt es weiterhin Dschihadisten, die den Krieg nach Indien tragen wollen.

In gegenwärtiger Lage, in der der pakistanische Staat immer schwächer wird und die Einheit des Militärs zerfällt, sollte die indische Führung sich aggressiver Äußerungen enthalten, da diese eine ohnehin schon kritische Lage noch weiter anheizen und den Hardlinern in die Hände spielen würde. Viele in Indien plädieren dafür, Pakistan im Falle einer Aggression zu bestrafen, jedoch so dosiert, dass eine nukleare Auseinandersetzung vermieden wird. Einige schlagen vor, Indien solle förmlich erklären, ein Atomangriff auf indische Truppen, selbst wenn er auf pakistanischem Territorium erfolge, sei das Signal für den Beginn eines Atomkriegs. Sie hoffen so, Pakistan vom Einsatz taktischer Nuklearwaffen abhalten zu können. Dies jedoch ist ein Spiel mit dem Feuer. Im „Nebel des Krieges“ – und da mobile Waffensysteme wesentlich schwieriger zu befehligen und zu kontrollieren sind als stationäre – kann es zu einer Vielzahl unvorhergesehener Vorfälle kommen.

Ist die erste Atomwaffe erst einmal eingesetzt, was kann dann noch getan werden, um eine Katastrophe – den Einsatz aller Nuklearwaffen – zu verhindern? Es fällt schwer, hier zuversichtlich zu sein, denkt man nur an die extremen Gefühlslagen beider Seiten. Indien und Pakistan würden gut daran tun, in diesen ruhigeren Zeiten eine solche mögliche Lage zu durchdenken und zu überlegen, wie sich ein nuklearer Konflikt beherrschen lässt, sollte er, aus welchem Grunde auch immer, ausbrechen.

Zumindest sollten sich beide Länder zu einer Politik des angemessenen Gegenschlags bekennen. Anstatt kalkuliert den Wilden Mann zu spielen, wäre es besser, auf eine Strategie des „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ zu setzen. Eben deshalb muss auch die nukleare Krisendiplomatie am Leben erhalten werden. Sollte während einer Krise die Kommunikation zwischen Indien und Pakistan abbrechen, ist es entscheidend, dass eine dritte Seite eingreift und eine Katastrophe verhindert. Das Thema ist kompliziert: Bis zum Rücktritt Musharrafs war Pakistans Atomprogramm für die USA relativ transparent, das indische relativ undurchsichtig. Pakistan glaubt fest daran, dass die USA einen pakistanisch-indischen Konflikt unter Kontrolle halten werden – trotz der Tatsache, dass die USA dem Land während der Kriege von 1965 und 1971 nicht zur Hilfe gekommen sind. Indien seinerseits war lange davon ausgegangen, die USA würden Pakistan bevorzugen, und misstraute ihnen deshalb. Ereignisse in den beiden letzten Jahrzehnten haben jedoch Indien näher an die USA rücken lassen, während Pakistan sich von ihnen entfernte. Dies hat die Bedeutung der US-Diplomatie bei der Vermittlung in Konflikten zwar verringert, dennoch ist sie nach wie vor der wirksamste Weg, der in einem solchen Falle zur Verfügung steht.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Jochen Schimmang.

 

Mehr zum Thema:

Die Zukunft der Rüstungskontrolle: Kooperative Rüstungsbegrenzung und Abrüstung in Zeiten des globalen Wandels
Die internationale Expertenkonferenz der Heinrich-Böll-Stiftung fand statt am 9. und 10. September 2013 in Berlin in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Berlin, und dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Weitere Informationen und Hintergründe zur Thematik finden Sie auch in unserer englischsprachigen Publikation The Future of Arms Control im Rahmen unserer Publikationsreihe Schriften zur Demokratie.

 

 

 

 

Endnoten:

[1] Washington Post (2011): ‚New estimates put Pakistan’s nuclear arsenal at more than 100, 31. Januar 2011. Siehe zudem Bajoria, Jayshree; Pan, Esther (2010): The U.S.-India Nuclear Deal (backgrounder)’, Conference on Foreign Relations, November.
[2] Hussain, Jamal (Air Commodore, retired) (2003): Deterrence in a Nuclear Environment. http://www.defencejournal.com/2003/mar/deterrence.htm
[3] Ebd.
[4] Times of India (2012): ‚Delhi, Mumbai selected for ballistic defense missile shield’, 24. Juni 2012.
[5] Report of the American Physical Society Study Group on Boost-Phase Intercept Systems for National Missile Defense Scientific and Technical Issues 2004, Rev. Mod. Phys. 76, S. S1-S424.
[6] The Economic Times (2012): ‚Agni-V may be equipped with multiple warheads: DRDO chief’, 10. Mai 2012.
[7] Hayder, Tariq Osman (2009): ‚Strategic stability in South Asia’, The News, 1. August 2009.
[8] Wikipedia: „Nuclear Weapons and the US“.
[9] Bidwai, Praful (2012): ‚India: A dangerous high’, Frontline, vol. 29 – Issue 09, Mai 2012, S. 5-18.
[10] Pant, Harsh V. (2010): India’s Controversial New War Doctrine, ISN Security Watch, 25. Januar.
[11] Dawn (2010): ‚India ‚unlikely’ to deploy Cold Start against Pakistan“, 3. Dezember.
[12] The Hindu (2012): ‚RISAT-1’s radar can see through clouds and work in darkness’, 25. April.
[13] Hindustan Times (2009): ‚No CTBT, India needs more nuclear tests: Santhanam’, 27. August.
[14] Auch China vertritt die Position, dass auf eigenem Territorium eingesetzte Nuklearwaffen keinen Ersteinsatz darstellen.
[15] ‚Hatf  IX Nasr Missile Tested by Pakistan’, 29. Mai 2012. ISPR, http://www,defence.pk/forums/pakistan-strategic-forces/183325-half-ix-nasr-missile-tested-pakistan-9html#xzz1y5f4umIA
[16] Mian, Zia; Nayyar, Abdul H. (2013) in: Hoodbhoy, Pervez (ed.): Confronting the Bomb – Pakistani and Indian Scientists Speak Out, Oxford University Press.