Wurden die Chancen von 1989 und 1991 weltpolitisch verspielt?

Nach dem Ende des Kalten Krieges verschob sich das globale Machtgefüge. Die bipolare Weltordnung hatte ausgedient. Es schien, als wäre auch die klassische Machtpolitik der letzten Jahrhunderte einer neuen Politik gewichen. Doch die aktuelle Ukrainekrise zeigt: Es gibt viel Neunzehntes im Einundzwanzigsten Jahrhundert.

Berliner Mauer mit der Aufschrift "Danke Gorbi"
Teaser Bild Untertitel
Zeitenwende: Ein Teil der nun offenen Berliner Mauer am 03. Oktober 1990

„Wer sich nicht selbst verleugnen will, muss in allem was er sagt, mit dem Respekt vor dem Realen beginnen (ich sage nicht: mit der Unterwerfung unter es).“ Jacques Decour

Die Auflösung der Sowjetunion 1991 sei die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts, meint der russische Präsident Wladimir Putin. Das ist falsch. Für die baltischen Länder war es die Befreiung, für die anderen neuen Staaten entstand die Möglichkeit, in politischer Unabhängigkeit ihr Geschick in die eigenen Hände zu nehmen. Einige erzielten dabei mehr oder weniger Erfolg.

Die beiden im Westen von Russland gelegenen großen Staaten, Belarus und die Ukraine, die mit Russland zusammen den Kern der GUS, der Gemeinschaft unabhängiger Staaten hätten bilden sollen, konnten mit ihrer politischen Unabhängigkeit bisher zu wenig anfangen. Russland gelang es nicht, die politische, wirtschaftliche und kulturelle Attraktionskraft zu entwickeln, die es ihm erlaubt hätte, den Integrationsraum, den die GUS der Möglichkeit nach darstellte, friedlich und ohne Druck zu gestalten. Schlecht war nicht die Auflösung der Sowjetunion, sondern dass entscheidende Staaten, so wenig mit ihrer neuen Unabhängigkeit anzufangen wussten.

Wirkliche geopolitische Katastrophen

Die geopolitische Katastrophe im Osten Europas beginnt erst jetzt mit dem immer brutaleren Bemühen Russlands, die postimperialen Räume der ehemaligen Sowjetunion mit großrussisch-chauvinistischem Impetus wieder zusammen zufassen und der zentralen Herrschaft Moskaus zu unterwerfen. Das ist die Katastrophe, die in der östlichen Nachbarschaft der EU heraufzieht. Hier wird im 21. Jahrhundert auf die Mächtepolitik des 19. Jahrhunderts zurückgegriffen, in der es keine Schranken der Expansion gab außer der, die die Rivalität der anderen großen Mächte zog.

Die großen Mächte und ihre Rivalität gibt es immer noch. Aber man konnte die begründete Hoffnung haben, dass sie heute ihre Schranken finden in den Kooperationszwängen und integrativen Tendenzen, die mit der Globalisierung Hand in Hand gehen. Die Spannungen ergeben sich nicht aus unlösbaren Interessengegensätzen zwischen Mächten, sondern aus opportunistischen und voluntaristischen Entscheidungen der Machthaber.

Der geopolitischen Katastrophe im Osten ging die Katastrophe im Westen voraus und wurde zu einem wesentlichen Faktor bei den russischen Bemühungen das Imperium zu erneuern. Die Katastrophe im Westen war in dem Konstrukt der „einzig verbliebenen Supermacht“[1] theoretisch angelegt und wurde nach den Anschlägen vom September 2001 durch die Regierung von Bush jr. im „Krieg gegen den Terror“ praktisch in Gang gesetzt.

Nichts war zwangsläufig

Um sich beide Katastrophen in ihrem Zusammenhang zu vergegenwärtigen, muss man ins Jahr 1989 zurückgehen, als das Sowjetimperium am Freiheitsstreben der ostmitteleuropäischen Staaten und seiner eigenen Haltlosigkeit zerbrach. Unter Gorbatschow versuchte die Sowjetunion zu retten, was zu retten sein mochte, vor allem aber die internationale Stellung, die es als die andere Supermacht des Kalten Krieges errungen hatte.

Nachdem China sich mit der blutigen Niederschlagung der Freiheitsbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens selbst bloß gestellt hatte, versuchte Gorbatschow sich mit seiner Vorstellung des „Europäischen Hauses“, das Ost und West zusammenzubringen sollte, als internationale Ordnungsmacht zu behaupten. Mit der OSZE gab es schon den organisatorischen Rahmen für diese Gemeinschaft des Nordens. Sie musste sich auch in den Vereinten Nationen (UN) bewähren. Die Probe aufs Exempel kam sehr schnell, als Saddam Hussein glaubte, die Erschütterung der Blockordnung ausnützen und Kuwait als „historisch angestammte“ Provinz dem Irak einverleiben zu können. Saddam Husseins Argumente klangen damals ganz ähnlich wie Putins „historische Wahrheit“ bezüglich der Krim heute.

Saddam Hussein hatte nicht damit gerechnet, dass mit der neuen Mächtekonstellation, sich im Ordnungsrahmen der UN mit der politischen Übereinstimmung von Ost und West eine globale Ordnungsmacht entwickeln konnte. Der Sicherheitsrat kam in die Lage, die Souveränität und territoriale Integrität auch kleiner Staaten gegen einen ungleich mächtigeren Okkupanten zu verteidigen, zur Not auch militärisch. Wie Bahman Nirumand damals in der Einleitung zu einem von ihm herausgegebenen Sammelband schrieb, fehlte Saddam Husseins Attacke der Spielraum, der auf der Grundlage des Ost-West-Gegensatzes zur Verfügung gestanden hatte. „Der einstimmige Beschluß der Vereinten Nationen und die darin vereinbarten Boykottmaßnahmen gegen den Irak zeigen deutlich, dass dieser Spielraum nicht mehr existiert. Dieselbe Feststellung ist in der sowjetischen Tageszeitung Iswestija nachzulesen. Dort heißt es: Die Weltorganisation ist nicht mehr in zwei Lager gespalten, deren Gegensätze und Feindseligkeiten von einigen Dritte-Welt-Ländern zum eigenen Vorteil ausgenützt werden können.‘“[2] Grundlage der Einigkeit war, dass Saddam Hussein mit seiner Annexion eines kleineren UN-Mitgliedes die Basis der UN-Ordnung selbst angegriffen hatte. Zum ersten Mal funktionierte das im Sicherheitsrat der UN institutionalisierte „Konzert der Mächte“ entsprechend der ihm zugedachten Funktion. Auch die Volksrepublik China spielte mit. Die Einigkeit hielt auch im Krieg.

Im ersten Irakkrieg waren die USA zurückhaltend

Obwohl die USA der entscheidende militärische Akteur bei der Befreiung Kuwaits und der Vertreibung der irakischen Invasionstruppen waren, leiteten sie damals daraus nicht etwa das Recht ab, das Mandat der UN zu überschreiten, nach Bagdad vorzudringen und Saddam Hussein zu stürzen. Die Kritik an dieser dem UN-Mandat entsprechenden Zurückhaltung wurde zum Anstoß für das Ceterum censeo der Neocons. Ihr Ziel blieb die Zerschlagung des irakischen Regimes und der Sturz Saddam Husseins. Mit dem 11. September 2001 sahen sie ihre Stunde gekommen.

Die „einzig verbliebene Supermacht“ stellte spätestens mit dem zweiten Irakkrieg den eigenen Willen über die Verpflichtungen in den UN. Der „unipolar moment“ (Charles Krauthammer) sollte entschlossen genutzt werden, um aus ihm mehr als einen Moment zu machen. Im Irakkrieg zur Verteidigung Kuwaits und danach standen sich in den USA zwei grundsätzliche Konzeptionen ihrer zukünftigen internationalen Politik gegenüber: Einerseits die der „einzig verbliebenen Supermacht“, die sich allein aus Opportunitätserwägungen Beschränkungen bei der Durchsetzung als wesentlich verstandenen eigenen Interessen aufzuerlegen gedachte, und andererseits die einer auf Zusammenarbeit und Verständigung mit den anderen Großmächten angelegte Politik.

Die zweite Variante wurde von „Realisten“ wie John J. Mearsheimer und Stephen M. Walt vertreten und von Richard Haass nach seinem Ausscheiden als Chef des Planungsstabs im State Department ausdrücklich als „Konzert der Mächte“ konzeptionell ausgearbeitet. Im Rahmen des „Krieges gegen den Terror“ und vor allem 2003 mit dem neuen Krieg gegen den Irak, setzten sich die Ideologen der „einzig verbliebenen Supermacht“ durch. Seither ist nichts mehr, wie es nach 1989 vielleicht hätte werden können. Und leider funktionierten die Gegengewichte der amerikanischen Intelligenz und der starken amerikanischen Zivilgesellschaft nach dem 11. September 2001 für längere Zeit überhaupt nicht mehr.

Dissonanzen statt Konzert haben Tradition

Man kann die letzten beiden Jahrhunderte als eine Geschichte der gescheiterten Versuche lesen, die Rivalität der großen Mächte zu moderieren und Kriege zu vermeiden oder doch so zu beenden, dass sie das System der großen Mächte nicht selbst zu Grunde richteten. Die Mittel waren Allianzen und die Bemühung um Gleichgewicht. Priorität hatten dabei allerdings die Versuche der Mächte ein eigenes Übergewicht herzustellen.

Die Beschränkung der Rivalität setzte also auf Rivalität. Das europäische „Konzert der Mächte“ zerbrach endgültig mit dem Ersten Weltkrieg. Das „multipolare“ System der Mächte erlaubte keine wirksame Institutionalisierung des „Konzerts“ und die Überwindung der Geheimdiplomatie, in der sich die Rivalität der Mächte in einem Dickicht von Intrigen austoben konnte. Eine wichtige Entwicklung des europäischen Mächtesystems, die in den Ersten Weltkrieg führte, war die zunehmende Polarisierung eines ursprünglich multipolaren und komplex interaktiven Systems.

Die immer stärker bipolar funktionierenden Interessenverflechtungen und Bündnisverpflichtungen setzten einen politisch-militärischen Mechanismus in Gang, an dem die „Welt von Gestern“ (Stefan Zweig) 1914 zerbrach. Sie war allenfalls von einer gemeinsamen politischen Kultur der Eliten zusammengehalten. Sie endete in konträren und doch tief verwandten Hasstiraden, in Prosa oder Gedicht, als Begleitmusik zum Krieg. Auch der Internationalismus der Arbeiterbewegung konnte diesem Mechanismus nichts entgegensetzen. Zu Recht sieht Christopher Clark in dieser Polarisierung des geopolitischen Systems in Europa „eine entscheidende Voraussetzung für den Krieg, der 1914 ausbrach“.[3]

Der UN-Sicherheitsrat institutionalisierte das Konzert der Mächte

Die Institutionalisierung des „Konzerts der Mächte“ gelang erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Initiative ging von den USA mit der Gründung der UN aus. Im Sicherheitsrat blieb die europäische Idee des Konzerts erhalten, die wichtigsten Mächte waren nun die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, also die USA und die zur anderen Supermacht hervorragende Sowjetunion. China geriet im Vorgriff auf seine potentielle Macht in den Sicherheitsrat, Großbritannien und Frankreich wurden qua traditioneller Stellung und in Referenz an den europäischen Ursprung der Idee des Konzerts ständige Mitglieder des Sicherheitsrates.

Mit den UN und ihrem Sicherheitsrat wurde das europäische Konzert der Mächte neu orchestriert und partiell globalisiert. An den Dissonanzen des Kalten Krieges verlor es den Takt. Der Ordnungsrahmen der UN wurde aber nicht aufgekündigt und spielte eine wichtige Rolle bei der Entkolonialisierung. Der Sicherheitsrat blieb während des Kalten Krieges zwar im Amt, die ihm zugedachte Rolle der globalen Ordnungsmacht in diesem Rahmen konnte er jedoch nicht wahrnehmen. Insofern zeigte sich in der UN-Aktion zur Beendigung der Annexion Kuweits durch den Irak ein nichtpolares Momentum, das insbesondere, weil es die Institutionen der UN bereits gab, keineswegs vergänglich bleiben musste.

Der Westen nahm die GUS nie ernst

Trotz der deutschen Einigung und der Überwindung der Spaltung Europas durch den Zerfall des Sowjetimperiums haben wir, das heißt der Westen, das Ende der Sowjetunion und die Gründung der GUS nie verstanden und gewürdigt. Immerhin erlaubte letztere die Auflösung des Riesenstaates ohne Krieg um Grenzen und Territorien. In einem gemeinsamen Papier der französischen und deutschen außenpolitischen Planungsstäbe wurde 1999, statt einer grenzenlosen Erweiterungsfähigkeit der EU das Wort zu reden, eine Union der Unionen zwischen EU und GUS perspektivisch in Erwägung gezogen.

Wenn man das Stör- und Zerstörungspotential eines auf den imperialen Kurs zurückkehrenden Russlands in Betracht zog, musste einem klar sein, dass eine weitere Integration des OSZE-Raums auf der Unabhängigkeit der GUS-Staaten beharren und aufbauen musste, aber die Zusammenarbeit mit Russland nicht in Frage stellen konnte. Über eine Konzeption, die statt auf Schwächung der GUS auf deren Förderung, ihre Verrechtlichung und ihre Verknüpfung mit der EU setzen würde, wurde in der EU nie ernsthaft nachgedacht. Obwohl doch klar sein musste, dass der Versuch einer puren Eingliederung von GUS-Staaten in westliche Strukturen auf deren Spaltung hinausliefe.

Schon früh und zu Recht wurde betont, man müsse gegen russische Tendenzen angehen, frühere Herrschaftsbereiche als Einflusszonen wieder zu errichten und damit die Unabhängigkeit der GUS-Staaten zu untergraben. Das durfte einen nicht daran hindern, die tatsächlichen Einflüsse Russlands ernst zu nehmen, mit ihnen zu rechnen und möglichst vorteilhaft für die GUS-Staaten umzugehen. In der Ablehnung der potentiellen Neueinrichtung russischer Einflusszonen wurde der Einfluss Russlands aber völlig vernachlässigt. Er beruht weniger auf Gewaltandrohung als auf dem Fortbestand sowjetischer Prägungen, die nun aber großrussisch instrumentalisiert werden. Außerdem gibt es etwa in der Ukraine nicht nur ein Wohlstandsgefälle nach Westen, sondern auch eins nach Osten. Sie steht damit ständig vor einer Zerreißprobe.

Die Folge der politischen Nachlässigkeit ist, was man nicht haben wollte: russische Einflusszonen und die Gefahr der Zementierung von potentiellen Spaltungen in den westlichen GUS-Staaten. Putin bemüht für seinen Revisionismus gerne die Analogie zum Kosovo, wenn er etwa die Annexion der Krim zu rechtfertigen versucht. Eher trifft eine andere Analogie zu den jüngsten Balkankriegen zu: Putins sowjetische Nostalgie weicht offen großrussischem Gebaren und gleicht darin dem Umschwenken des serbischen Machthabers auf einen großserbischen Eroberungskurs, nachdem er erkannt hatte, dass Jugoslawien nicht zu halten war. Milosevic scheiterte mit diesem Vorgehen.

Russland will die Anerkennung als Weltmacht

Entscheidend für die Rückkehr auf den imperialen Kurs und die aggressive Kraftmeierei Russlands dürften allerdings nicht regionale Interessen sein, sondern die Bemühung auf der globalen Ebene von Seiten des Westens und der USA als Großmacht wieder ernst genommen, statt als eher vernachlässigbare Regionalmacht behandelt zu werden. Diese Melodie wurde Russland immer wieder vorgespielt, zuletzt bei der Intervention in Libyen, die weit über das UN-Mandat hinausging, besonders aberwitzig im syrischen Bürgerkrieg, wo inzwischen auch von den USA die Exilregierung als einzig legitime Vertretung des syrischen Volkes anerkannt wird. Damit wird jeder Vermittlung durch den Sicherheitsrat weiter der Boden entzogen. Der syrische Bürgerkrieg wird ausdrücklich zum Stellvertreterkrieg.

Heute muss man feststellen, dass die Chancen von 1989/91, im Rahmen der UN mit dem Sicherheitsrat eine globale Ordnungsmacht zu schaffen, vorläufig verspielt sind. Es zeichnete sich damals eine globalisierte, natürlich widersprüchliche und teilweise gegensätzliche, aber nicht polarisierte Welt als Möglichkeit ab. Für sie hätte sich jeder politische Einsatz gelohnt. Statt dessen wurde gegen die Konzeption einer multipolaren Welt, wie sie China, Russland, aber auch Frankreich und viele deutsche Politiker vertraten, von den USA die unipolare Konzeption der "einzig verbliebenen Supermacht" als globale Ordnungsmacht ins Spiel gebracht – praktisch, nicht nur theoretisch.

Eine nichtpolare Konstellation wurde gar nicht in Betracht gezogen. In dem Maße, wie sich die unipolare Konzeption als gefährliche Illusion erweist, feiert die Multipolarität Wiederauferstehung. Ob solche Vorstellungen, unipolar oder multipolar zutreffend sind oder nicht, - entscheidend ist, dass sie handlungsleitend wirken. Und in jeder multipolar verstandenen Weltordnung droht die bipolare Vereinfachung mit ihren bündnispolitischen Mechanismen.

Russland versucht sich nun gegen den Westen bei China rückzuversichern. Damit verknüpft sich der Konflikt in Europa mit den Konflikten in Ostasien. Immer sind die USA dabei eine entscheidende Macht. Berechenbar sind sie nicht immer. In der Wendung zu China wird Russland auf Dauer zum eurasischen Juniorpartner Chinas werden. Für den Gegensatz zwischen den USA und China entstehen damit neben den Glutkernen in Asien auch welche in Europa.

Wenig Neues unterm Himmelszelt

Spätestens jetzt wird es Zeit, an die Kanzlerin zu denken. In einem Interview mit der FAZ antwortet sie auf die Frage, worum es Putin mit der Ukraine gehe, welche Ziele er ihrer Ansicht nach verfolge: „Russland wendet sich derzeit wieder altem Denken in Einflusssphären zu. Das passt nicht in unsere Zeit der internationalen Kooperation und des Interessenausgleichs, wie es sich mit dem Ende des Kalten Kriegs herausgebildet hat. Zusammenarbeit auf der Basis des Völkerrechts und internationaler Abmachungen bringt allen Seiten Vorteile, auch Russland.“[4]



Die Wahrheit ist leider, dass das Verlassen der Basis des Völkerrechts und internationaler Abmachungen durch die „einzig verbliebene Supermacht“ bereits allen, also auch Russland Nachteile gebracht hat. Letzten Endes gibt es in der Welt der Mächte des 21. Jahrhunderts, wenn der UN- und OSZE-Rahmen nicht genutzt wird, wenig Neues gegenüber der Mächtepolitik, die in den ersten Weltkrieg geführt hat. Die einzig ernsthafte Neuigkeit der Staatenwelt bleibt dann die Europäische Union. In ihr fanden die auf ihre Mutterländer zurückgestutzten ehemaligen europäischen Weltmächte eine Form, in der sie ihre Rivalitäten durch Integration einhegen konnten. Die EU als eine neuartige Macht unterscheidet sich grundsätzlich von traditionellen Großmächten. Das bildet ihre innere Stärke und ihre äußere Attraktionskraft, aber es macht sie auch schwach gegenüber der schon wieder oder immer noch vorherrschenden Großmächtepolitik. Als Staaten- und Bürgerunion kann sie ihre Macht nicht zentralistisch und schlagartig entfalten. Sollte sie das versuchen, gerät sie in Spaltungsgefahr.



Sie ist also tatsächlich auf neues Denken angewiesen. So kommen Politiker der EU leicht in den Ruf naiver Phraseure, wenn sie immer wieder Formen der Verständigung suchen, wo andere keine Verständigung, sondern siegen wollen. So gelten europäische, erst recht deutsche Politiker als von der Venus statt vom Mars. „Fuck the EU“ meinte Obamas Europaberaterin Victoria Nuland laut dem Mitschnitt eines im Internet veröffentlichten Gesprächs mit dem US-Botschafter in Kiew.[5]

Die EU müsste, nimmt man die Kanzlerin ernst, als Kraftwerk neuen Denkens wirken. Einst waren die USA, als sie sich von den europäischen Machtspielen trennten, die große neue Kraft. Indem sie mit den Weltkriegen endgültig in die alten europäischen weltpolitischen Rivalitäten hineingezogen wurden, sind sie ihrerseits zur oft arroganten Weltmacht geworden. Als außenpolitisches Vorbild für die EU sind sie eher untauglich.

Wenn denn davon die Rede ist, Deutschland müsse mehr außenpolitische Verantwortung übernehmen, sollte dieser Vorsatz darin bestehen, in der EU mehr Verantwortung zu übernehmen, um sie darin zu stärken, den Rahmen der internationalen Organisationen, insbesondere der UN und der OSZE zu verteidigen und auszubauen. Für die großen Mächte erscheinen solche Organisationen oft als Schranken ihrer Macht, für die EU dagegen sind sie Garanten ihrer außenpolitischen Kraftentfaltung.



Die Vorstellung eines neuen Denkens stammt ja von Gorbatschow. Er war dann einer der ersten Russen, die sich vom Westen übervorteilt sahen. Man musste blauäugig sein, um in der Serie von Reden Putins im Deutschen Bundestag und auf der Münchner Sicherheitskonferenz nicht die Anzeichen zu erkennen, dass hier jemand immer ungeduldiger auf die Gelegenheit wartete, es den Triumphatoren des Kalten Krieges einmal zu zeigen.

Putin braucht kein Verständnis. Es geht darum, rechtzeitig zu erkennen, wenn ein potentieller Gegner und möglicherweise Feind zu einem Gegenschlag ausholt. Man kann daran arbeiten, ihm keine Gelegenheit zu geben. Jedenfalls sollte man nicht unvorbereitet dastehen, wenn er die Gelegenheit nutzt, die man selbst geschaffen, aber nicht erkannt hat. In der Abwehr möglicher russischer Einflusszonen, wollte die EU ihren Einfluss strukturell ausbauen, ohne umgekehrt mit den russischen Einflüssen ernsthaft zu rechnen. Putin verstehen, heißt einen potentiellen Feind ernst nehmen, statt ihn zu unterschätzen.



In einem Streitgespräch über den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zwischen den Historikern Gerd Krumeich und Christopher Clark[6] meinte der erste: „Allen Beteiligten mangelt es völlig an Empathie. Da tritt die generalisierende Dummheit in Kraft: Alle bestehen auf ihrem Standpunk und übersehen dabei, dass der Gegner auch einen Standpunkt hat.“



„Ja! Politischer Autismus“, schließt sich Clark an. Wenigstens darin sind sich die beiden Historiker einig. Hoffentlich kommen künftige Historiker nicht zu einem ähnlich vernichtenden Urteil, wenn sie untersuchen müssen, wie und warum das „Fenster der Gelegenheit“, das sich 1989/91 weltpolitisch geöffnet hatte, zuschlug. Empathie muss übrigens nichts mit Sympathie zu tun haben


Endnoten

[1] Kritisch dazu etwa Charles William Maynes, The Perils of (ana for) an Imperial America, in: Foreign Affairs (Summer 1998) 111, S. 36 ff; s. zur Problematik insgesamt auch Joscha Schmierer, Keine Supermacht, nirgends. Den Westen neu erfinden, Berlin 2009

[2] Bahman Nirumand (HG.), Sturm im Golf. Die Irakkrise und das Pulverfaß Nahost, Reinbek bei Hamburg 1990 (rororo aktuell)

[3] Christopher Clark, Die Schlafwandler. WieEuropa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013.

Das Zitat findet sich auf Seite 170 in Kapitel 3 das „Die Polarisierung Europas 1887 – 1907“ beschreibt (S. 169-227). Clark weist darauf hin, dass die Polarisierung der Bündnisse zwar die Entstehung von Strukturen erklärt, innerhalb derer ein Kontinentalkrieg möglich wurde. Um aber die „konkreten Gründe zu erklären, weshalb es zu diesem Krieg kam“, müsse untersucht werden, inwiefern der „Entscheidungsprozess die Ergebnisse prägte und wie das lose Netzwerk kontinentaler Bündnisse mit den Konflikten auf der Balkanhalbinsel verflochten wurde.“ (S. 227) Heute kommt es darauf an im Auge zu behalten, wie mit der Unterhöhlung der UN- und OSZE-Institutionen im Zusammenhang mit konkreten Konflikten die Gefahr großer Kriege wieder aufkommt.

[4] FAZ vom 18.05.2014

[5] Spiegel online 06.02.2014

[6] Süddeutsche Zeitung vom 01.03.2014