Seine erste Leserin und Diskutantin

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Stürmung der Stasizentrale 1990: Auch Lilo und Jürgen Fuchs wurden Opfer der Stasiverfolgung

Lilo Fuchs war die Ehefrau des bekannten DDR-Bürgerrechtlers Jürgen Fuchs. Gemeinsam engagierten sie sich für eine "menschenfreundliche Gesellschaft" und ertrugen die Verfolgung durch die Stasi.

Am späten Samstagnachmittag ist die Stelle für Krisenintervention im Berliner Stadtteil Moabit noch geöffnet. Lilo Fuchs* setzt die türkische Teekanne auf. Fünf Tage in der Woche ist das „Treffpunkt-Café“ in der Waldstraße, Krisenintervention und Beratung für Menschen mit sozialen und psychischen Problemen, geöffnet. Montags kommen junge Erwachsene, mittwochs eine Gruppe von Frauen. „Die Frauen sind in den Anfangsjahren zu kurz gekommen“. Lilo Fuchs und ihr 1999 verstorbener Mann Jürgen haben hier seit 1980 einen Treffpunkt für Kinder und Jugendliche, überwiegend mit Migrationshintergrund, aufgebaut. Das Projekt war einer Forschungseinrichtung der Technischen Universität zugeordnet. Nach deren Schließung im Jahr 2004 konnte Lilo in der Kontakt- und Beratungsstelle für Erwachsene mit dreißig Stunden in der Woche weiterarbeiten. Lilo und Jürgen Fuchs hatten sich zuvor eine Stelle geteilt – das jüngste ihrer drei Kinder war sieben Jahre alt, als Jürgen Fuchs starb. Woran ihr Mann, dessen Erkrankung 1994 erkannt wurde, schließlich gestorben ist, könnte noch immer in den Akten zu finden sein. Schon vorher war das Ministerium für Staatssicherheit operativ tätig geworden: eine Bombe vor dem Haus, das Abdrängen des Autos von der Fahrbahn, verschiedene Formen der „Zersetzung“.

Vertreibung

Als Lilo Fuchs 24 Jahre alt war, wurde sie mit Mann und Kind „vertrieben“ – sie benutzt dieses Wort, das seit Mai 1945 in ihrer aus Ostpreußen stammenden Familie eine Rolle spielt. „Ich bin jetzt schon mehr Jahre hier im Westen als in der DDR. Wir waren zwölf Jahre lang ausgesperrt. Niemand konnte hierher kommen, wir konnten nicht hingehen.“ Sie hatte dort nicht weggehen wollen, absolut nicht. Aber sie hatte keine Wahl, nachdem Jürgen Fuchs 1976 ins Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen gebracht worden war. Sie hatten das System verbessern, in einer „menschenfreundlicheren Gesellschaft“ leben wollen. Lilo Fuchs war nie in der SED, anders als ihr Mann, der kurzzeitig in der Partei war, weil er hier für mehr Offenheit in den Diskussionen eintreten wollte. „Junge Pioniere und später FDJ – das ja! Ich fand als Sechsjährige, dass mir die weiße Pionierbluse gut steht.“ Später gehörte Lilo zu einer Sing-Gruppe; statt Agitprop-Liedern wollten sie lieber Eichendorff-Texte und internationale Lieder singen. Seit der Schulzeit war sie in Kultur-Aufgaben engagiert. Die Gruppe wurde zu den Weltfestspielen 1973 nicht zugelassen, und Lilo fuhr empört auf eigene Faust dorthin.

Wie auch Jürgen Fuchs hatte sie Eltern aus der ideologisch „richtigen“ Klasse, beide waren sie Arbeiterkinder. „Wir kannten den Blick von unten, konfrontierten andere mit der Realität. Meine Eltern haben sich in Thüringen kennengelernt, waren beide da Gestrandete. Sie waren nicht in der Partei, das war nicht nötig.“ – „Als Schlosser kann ich in ganz Zeiss die Büros lahmlegen“, hatte der Vater, der beim firmeneigenen Heizkraftwerk arbeitete, gelegentlich geäußert. Als Schülerin hatte die Tochter gute Noten, lernte gern und kannte eigentlich keine Schwierigkeiten.

Gerulf Pannach und Christian Kunert, die beide mit der Renft-Combo zusammenarbeiteten, Bettina Wegener, Jürgen Fuchs – sie lasen, schrieben, sangen, „wollten mit künstlerischen Mitteln Wirklichkeit beschreiben und Fragen aufwerfen“. – „Jürgen hatte Lenin genau gelesen. Das muss man sich mal vorstellen, er konnte wichtige Passagen zitieren“, meint Lilo Fuchs. „Dass die uns zu Staatsfeinden erklärt haben! Sie haben uns raus verfrachtet – hätten wir nicht auch dort eine Beratungsstelle entwickeln und aufbauen können? Wir wollten nicht in den Westen – wir hätten gute Arbeit leisten können. Wie viele weggeworfene Talente … Wir wollten nicht in die Fremde. Wie viel Geld und Gewaltmittel gegen uns paar kleine Hanseln … das kam uns absurd vor … das ganze Ausmaß dieses Apparates ist uns erst im Westen klar geworden. Leute kamen aus der Haft zu uns und erzählten – auch Leute aus anderen osteuropäischen Ländern. Gott sei Dank sind wir rausgeflogen – das hatten wir anfangs noch gar nicht ganz erfasst: Die hätten uns fertiggemacht.“

Beginn der Bedrohung

Als die Bedrohung durch die Stasi in Jena anfing, war Lilo Fuchs bereits mit dem ersten Kind schwanger. Die Verteidigung ihres Psychologie-Diploms an der Friedrich-Schiller-Universität wird verschoben, Jürgen Fuchs wird ohne Abschluss zwangsexmatrikuliert.
Das Paar hatte sich an der Universität in Jena kennengelernt, 1971; geheiratet 1974; das erste Kind kam 1975. Jürgen Fuchs ist zunächst ein guter Student und ein offiziell geförderter junger Autor. Als er beginnt Fragen zu stellen, sich zu engagieren, seine Sympathie für den Prager Frühling zu zeigen, wird der Geheimdienst aufmerksam. Der als Regimekritiker auch im Westen bekannte Robert Havemann bietet der jungen Familie 1975 an, nach Grünheide bei Berlin zu kommen. „Wolf Biermann holte uns mit seinem Auto und einem Hänger in Jena ab. Alles passte mit einer Fahrt hinein.“ Biermann wird im November 1976 ausgebürgert. Jürgen Fuchs unterschreibt dagegen eine Petition. 1976: Lilo Fuchs fährt täglich nach Fürstenwalde in eine Klinik, sie muss Geld verdienen. 1976: Jürgen Fuchs ist ab dem 19. November im Gefängnis Hohenschönhausen in Berlin. 1977: Vertreibung und Ausbürgerung der Familie. Dass sie zusammen waren, hat beide stark gemacht: „Gemeinsam haben wir es ausgehalten. Diese Härte hat uns zusammengeschweißt.“ Bewusst bleiben sie in Westberlin, wollen sich nicht „wegdrängeln“ lassen. „Wir nutzten jede Möglichkeit, geistige Waffen in die DDR zu transferieren.“

Nach 1989 treffen sich die Familien wieder: „Als wir sie verlassen hatten, waren manche noch Kinder, jetzt waren das Erwachsene.“ Ihre Mutter sah Lilo Fuchs nicht mehr. Nachdem diese ihre Tochter, deren Mann und das Enkelkind 1982 einmalig im Westen hatte besuchen können, war sie zum Stasi-Verhör gebracht worden. Stunden später war der Gashahn in der Küche aufgedreht. Sie habe sich umgebracht, hieß es amtlicherseits.

1992 nimmt Lilo Fuchs zusammen mit ihrem Mann an einer ersten Sichtung der Stasi-Akten teil. Das dritte Kind ist unterwegs. Später wird Jürgen Fuchs über ein Jahr hinweg zwei Tage wöchentlich in der Behörde recherchieren; er muss schreiben, will vieles öffentlich machen. Jürgen Fuchs hat in Lilo eine Erstleserin, Ersthörerin, Erstdiskutantin – immer ist etwas zu entscheiden, möglichst schnell; er will eingreifen, will intervenieren, Freunde informieren, kann keine Ruhe geben; glaubt, dass noch etwas unternommen werden muss.
Immer ging es auch darum, sich um Freunde zu kümmern. Nach 1989 war das, was zu leisten war, noch dringlicher geworden. „Es musste festgehalten werden, die Wahrheit musste ausgegraben werden.“ Seit dem Tod von Jürgen fehlen ihr diese Gespräche. „Ich bin nicht die, die öffentlich redet. Aber es ist gut, dass wir nicht ganz verloren haben, dass wir einen kleinen Beitrag leisten konnten zusammen mit den vielen, vielen anderen; dass etwas Gutes im Deutschen geworden ist … im Gesamtdeutschen. Der Preis, den das gekostet hat, der war sehr hoch.“ Lilo Fuchs „trug mit“. „Ich war immer ‚mit‘. Das bin ich auch jetzt. Ich bleibe verbunden. Ich bin da.“

* Liselotte Fuchs geb. Uschkoreit, in Jena 1953 geboren. Psychologin, lebt und arbeitet in Berlin; drei erwachsene Kinder.
 

Dieser Beitrag stammt aus dem soeben im Mitteldeutschen Verlag erschienenen Buch „Im Dialog mit der Wirklichkeit – Annäherungen an Leben und Werk von Jürgen Fuchs“, hrsg. von Ernest Kuczynski.

Die Heinrich-Böll-Stiftung lädt am 8. September 2014 zur Buchvorstellung und Diskussion über Leben und Werk des prominenten DDR-Bürgerrechtlers ein. Lilo Fuchs wird zu Gast sein und Texte ihres verstorbenen Ehemannes lesen. Weitere Informationen zur Veranstaltung finden Sie hier.