Bildungsgerechtigkeit 4.0

Jugendliche am Computer

Auf dem rasanten Weg in die Wissens- und Informationsgesellschaft haben wir schon jetzt viele Menschen verloren - auch darunter viele Jugendliche. Fast 30 Prozent der Jugendlichen in Deutschland verfügen nur über unzureichende Computer- und IT-Kompetenzen und werden es schwer haben, erfolgreich am privaten, beruflichen sowie gesellschaftlichen Leben des 21. Jahrhunderts teilzuhaben. Professorin Brigit Eickelmann hat die Ergebnisse der Studie ICILS 2013 für die Heinrich-Böll-Stiftung gezielt unter dem Aspekt "Bildungsgerechtigkeit" ausgewertet.

ICILS 2013: Grundlage für eine neue Debatte zur Bildungsgerechtigkeit

Ein kompetenter Umgang mit neuen Technologien und digitalen Informationen gilt unumstritten als eine zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche gesellschaftliche Teilhabe. Mit den rasanten technologischen Entwicklungen und der fortgeschrittenen Technisierung aller Lebens- und Arbeitsbereiche nimmt die Bedeutung der Fähigkeiten, medial vermittelte Informationen auszuwählen, zu verstehen, zu nutzen und zu kommunizieren, unaufhaltsam zu. Wie kann es einer Gesellschaft gelingen, ihre Heranwachsenden möglichst chancengerecht auf die neuen Anforderungen vorzubereiten? Wie gehen weltweit Schul- und Bildungssysteme mit der damit verbundenen Verantwortung um und schaffen strukturelle technologische Möglichkeiten, Kindern und Jugendlichen den kompetenten Umgang mit neuen Technologien und digitalen Informationen zu vermitteln?

Die Studie ICILS 2013 (International Computer and Information Literacy Study), die durch den Einsatz computerbasierter Tests erstmals ermitteln konnte, über welche computer- und informationsbezogene Kompetenzen (im Sinne von digitalen Kompetenzen) Jugendliche in Deutschland im internationalen Vergleich verfügen, hat dem deutschen Bildungssystem einen Spiegel vorgehalten: Anhand einer repräsentativen Stichprobe konnte die Studie aufzeigen, dass Jugendliche in Deutschland im internationalen Vergleich mit 523 Leistungspunkten nur auf einem mittelmäßigen Kompetenzniveau abschneiden und sich überdies keine nennenswerte Leistungsspitze in Deutschland herausgebildet hat (vgl. Abbildung 1).

Mindestens genauso besorgniserregend ist der Umstand, dass fast 30 Prozent (genauer: 29.2%) der Achtklässlerinnen und Achtklässler in Deutschland auf der Kompetenzskala lediglich die beiden untersten Kompetenzstufen I und II erreichen. Diese Jugendlichen verfügen damit nur über äußerst geringe computer- und informationsbezogene Kompetenzen und werden es aufgrund fehlender digitaler Fähigkeiten zukünftig voraussichtlich schwer haben, erfolgreich am privaten, beruflichen sowie gesellschaftlichen Leben des 21. Jahrhunderts teilzuhaben.

Abb. 1: Prozentuale Verteilung der Jugendlichen in Deutschland auf die Kompetenzstufen Computer- und informationsbezogener Kompetenzen

Die Jugendlichen auf den unteren beiden Kompetenzstufen verlieren derzeit in Deutschland auf dem Weg in die Wissens- und Informationsgesellschaft den Anschluss. Der hohe Anteil dieser Jugendlichen macht eines deutlich: Die weit verbreitete Annahme, Kinder und Jugendliche würden durch das Aufwachsen in einer von digitalen Technologien geprägten Umwelt automatisch zu kompetenten Nutzerinnen und Nutzern digitaler Technologien, trifft nicht zu. Die bisher fehlende systematische Verankerung digitaler Kompetenzen im deutschen Schulsystem und die nun mit ICILS 2013 erstmals vorliegenden belastbaren empirischen Ergebnisse stoßen damit eine neue Debatte über Bildungsziele an, die im Hinblick auf Bildungsgerechtigkeit international auch vor dem Hintergrund einer digitalen Kluft oder auch digitalen Spaltung diskutiert wird.

Wenngleich das deutsche Bildungssystem sich von dem ersten PISA-Schock, der ähnliche Ergebnisse für den bereichsspezifischen Kompetenzerwerb in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften aufgedeckt hat, soweit erholt zu haben scheint, sei darauf hingewiesen, dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sehr niedrigen digitalen Kompetenzen höher ist als der, der in den bisherigen PISA-Studien für bereichsspezifische Kompetenzen zu beobachten war.

Bildungsgerechtigkeit 4.0: Ansatzpunkte für gezielte Entwicklungen

Um besser verstehen zu können, wo sich im Sinne einer Verbesserung von Bildungsgerechtigkeit zukünftig Ansatzpunkte für mögliche Entwicklungen in Deutschland ergeben, werden im Folgenden zuerst die in ICILS 2013 festgestellten Disparitäten im Hinblick auf verschiedene Schülergruppen dargestellt. Weiterhin wird über die bisherige Berichterstattung hinausgehend mit diesem Beitrag erstmalig genauer aufgeschlüsselt, welche Jugendlichen sich hinsichtlich computer- und informationsbezogener Kompetenzen auf den untersten beiden Kompetenzstufen überproportional häufig befinden und welche Bildungsbenachteiligungen sich damit ganz konkret derzeit in Deutschland abbilden.

Disparitäten im Bereich digitaler Kompetenzen

Im Zuge des gesellschaftlichen Wandels werden benachteiligte Personengruppen vielfach anhand soziodemografischer Indikatoren wie Einkommen, Herkunft, Bildungsnähe, Alter und Geschlecht unterschieden. Während in der Diskussion anfänglich vor allem Ungleichheiten hinsichtlich des Zugangs zu digitalen Technologien im Mittelpunkt standen, werden in den letzten Jahren zunehmend auch digitale Kompetenzen in diese Betrachtungen einbezogen. Hier liefert ICILS 2013 die bisher fehlende Daten- und Informationsbasis.

1) Computer- und informationsbezogene Kompetenzen und soziale Disparitäten

Der Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status von Familien und Schülerleistungen wird in der Diskussion um Chancengerechtigkeit im Bildungssystem als soziale Disparität bezeichnet. Auf Kompetenzunterschiede in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften weisen seit Mitte der 1990er Jahre vor allem die Schulleistungsstudien TIMSS, PISA und IGLU hin. Für den Bereich der computer- und informationsbezogenen Kompetenzen als fächerübergreifende Schlüsselkompetenz stellt nun
ICILS 2013 stellt erstmalig eine Datengrundlage zur Verfügung, die entsprechende Analysen hinsichtlich sozialer Disparitäten ermöglicht.

Das Ergebnis zeigt: Unabhängig davon, welcher Indikator der Erfassung der sozialen Herkunft zugrunde liegt, weisen die Vergleiche der Kompetenzstände von Jugendlichen in Deutschland deutliche Unterschiede zuungunsten von Jugendlichen aus niedrigeren sozialen Lagen aus. Legt man beispielsweise den HISEI (Highest International Socio-Economic Index of Occupational Status) als Maß für den sozioökonomischen Status einer Schülerfamilie zugrunde, ergibt sich in Deutschland ein Kompetenzunterschied von 52 Leistungspunkten zwischen Jugendlichen aus privilegierten und wenig privilegierten sozioökonomischen Lagen (vgl. Abbildung 2).

Abb. 2: Anteile der Schülerinnen und Schüler nach HISEI-Wert im internationalen Vergleich (Angaben der Schülerinnen und Schüler in Prozent)

Für Deutschland ergibt sich weiterhin, dass 40.0 Prozent aller Jugendlichen aus Familien mit geringerem sozioökonomischen Status (niedriger HISEI-Wert) nicht die Kompetenzstufe III erreichen, während der Anteil mit nur 15.4 Prozent der Jugendlichen aus Familien mit hohem sozioökonomischen Status (hoher HISEI-Wert) deutlich geringer ist.

2) Kompetenzunterschiede nach Migrationshintergrund

Im Rahmen von ICILS 2013 wird der Migrationshintergrund der Schülerinnen und Schüler wie auch in anderen Schulleistungsstudien über zwei Indikatoren erhoben: (1) den Zuwanderungshintergrund sowie (2) die Familiensprache als die Sprache, die in der Familie am häufigsten gesprochen wird. In Deutschland erreichen Achtklässlerinnen und Achtklässler ohne Zuwanderungshintergrund einen Leistungsmittelwert von 538 Punkten, Schülerinnen und Schüler, deren Eltern beide im Ausland geboren wurden, erreichen im Mittel nur 499 Punkte und damit signifikant geringere Leistungen. Besonders beachtenswert ist, dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, der nicht über Kompetenzstufe II hinauskommt, bei mehr als zwei Fünfteln liegt (Zuwanderungshintergrund beide Elternteile im Ausland geboren: 40.6%; Familiensprache eine andere Sprache als Deutsch: 46.0%).

3) Geschlechterunterscheide im Hinblick auf digitale Kompetenzen

Der kompetente Umgang mit neuen Technologien und digitalen Informationen stellt sowohl für Jungen als auch für Mädchen eine wichtige Voraussetzung für Chancengerechtigkeit und Bildungspartizipation sowie für die Erfüllung von persönlichen und beruflichen Zielsetzungen dar. Trotz der in ICILS 2013 festgestellten durchschnittlich häufigeren Nutzung von neuen Technologien durch Jungen – sowohl zu Hause als auch in der Schule – verfügen Jungen in Deutschland im Mittel über geringere computer- und informationsbezogene Kompetenzen als Mädchen. Die mittlere Leistungsdifferenz beträgt 16 Punkte und ist statistisch signifikant.

Rund ein Drittel (32.9%) der Jungen in der achten Klasse in Deutschland zeigt Leistungen, die lediglich den unteren beiden Kompetenzstufen I und II zugeordnet werden können. Vertiefende Analysen zeigen, dass insbesondere Jungen aus Familien mit wenigen kulturellen und ökonomischen Ressourcen, die Schulen besuchen, die nicht oder nicht ausschließlich einen gymnasialen Bildungsgang anbieten, derzeit zu der Schülergruppe zählen, die zu einem hohen Anteil besorgniserregend geringe computer- und informationsbezogene Kompetenzen aufweisen.

Wen schließt das Bildungssystem derzeit im Hinblick auf eine chancengerechte Teilhabe im Bereich digitaler Kompetenzen aus?

Vertiefend – und an dieser Stelle erstmals veröffentlicht – kann der Frage nachgegangen werden, welche Jugendlichen sich zu überproportional hohen Anteilen, im Vergleich zu ihren Anteilen an der Gesamtstichprobe, auf den beiden unteren Kompetenzstufen befinden.

Soziale Disparitäten und Bildungsbenachteiligungen: Hinsichtlich sozialer Disparitäten zeigt sich, dass Jugendliche aus sozioökonomisch wenig privilegierten Lagen mit einem Anteil von 52.8 Prozent den größten Anteil an Jugendlichen auf den unteren beiden Kompetenzstufen im Vergleich zu Jugendlichen aus sozioökonomisch besser gestellten Familien ausmachen. Damit sind sie dort überproportional häufig vertreten; ihr Anteil an der Gesamtstichprobe beträgt in der Altersgruppe 34.8 Prozent (vgl. Abbildung 3).

Abb. 3: Verteilung der Jugendlichen auf die unteren beiden Kompetenzstufen (I und II) für Deutschland nach sozioökonomischem Status

Migrationsbedingte Disparitäten und Bildungsbenachteiligungen: Auch hinsichtlich des Anteils von Jugendlichen mit Migrationshintergrund auf den unteren beiden Kompetenzstufen zeigt sich, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund hier überrepräsentiert sind und ihr Anteil fast um 15 Prozent höher liegt als sich dies in der Gesamtverteilung ausmachen lässt (vgl. Abbildung 4).

Abb. 4: Verteilung der Jugendlichen auf die unteren beiden Kompetenzstufen (I und II) für Deutschland nach Migrationshintergrund

Die sich aus der Betrachtung der Verteilung nach Zuwanderungshintergrund ergebende Bildungsbenachteiligung für Jugendliche mit Migrationshintergrund lässt sich auch ableiten, wenn man die Unterscheidung nach der am häufigsten in der Schülerfamilie gesprochenen Sprache trifft (vgl. Abbildung 5). Es zeigt sich, dass der Anteil der Jugendlichen, deren Familiensprache nicht Deutsch ist und die nur digitale Kompetenzen im Bereich der untersten beiden Kompetenzstufen erreichen, mit 24.4 Prozent deutlich größer ist, als dies die Verteilung in der Gesamtstichprobe (14.0%) erwarten ließe.

Abb. 5: Verteilung der Jugendlichen auf die unteren beiden Kompetenzstufen (I und II) für Deutschland nach Familiensprache

Geschlechterbedingte Disparitäten und Bildungsbenachteiligungen: Betrachtet man die Anteile der Jungen und Mädchen, die nur Leistungen unterhalb der Kompetenzstufe III erreichen (vgl. Abbildung 6), so wird deutlich, dass hier die Jungen im Vergleich zur Verteilung in der Gesamtstichprobe überrepräsentiert sind und hier ihr Anteil um immerhin 7.5 Prozent höher liegt.

Abb. 6: Verteilung der Jugendlichen auf die unteren beiden Kompetenzstufen (I und II) für Deutschland nach Geschlecht

Wie soll es weitergehen?

Die Ergebnisse von ICILS 2013 weisen mit den hier dargestellten Analysen nochmals darauf hin, dass in Deutschland für den Kompetenzbereich der digitalen Kompetenzen fast 30 Prozent der Jugendlichen – und damit mehr als für jeden anderen bisher in Schulleistungsstudien betrachteten Kompetenzbereich – nur über sehr geringe Kompetenzen verfügen. Für diese Jugendlichen kann davon ausgegangen werden, dass sie nicht an den aktuellen Entwicklungen, die mit den technologischen Fortschritten scheinbar unaufhaltsam einhergehen, teilhaben werden. Insbesondere ergeben sich Bildungsbenachteiligungen für Jugendliche aus sozial weniger privilegierten Lagen und es finden sich sowohl Jugendliche mit Migrationshintergrund als auch Jungen im Vergleich zu Mädchen überproportional häufig auf den untersten der in ICILS 2013 gebildeten Kompetenzstufen der computer- und informationsbezogenen Kompetenzen.

Ausgehend von diesen Ergebnissen erscheint sich eine Dringlichkeit für Entwicklungsmaßnahmen mit dem Ziel zu ergeben, die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland im Bereich digitaler Kompetenzen zu fördern. Ein Ausgleich von Bildungsbenachteiligungen kann durch die verbindliche Verankerung des Aufbaus computer- und informationsbezogener Kompetenzen in der Schule sowie durch die gezielte, schulformübergreifende und von Evaluationen begleitete Erprobung und Implementation von Fördermaßnahmen sein.

Diesbezüglich bieten sich folgende weitere Entwicklungsperspektiven:

  • Einen wichtigen Ansatz bietet die Möglichkeit, von erfolgreichen Schulen zu lernen, also von Schulen die in Sachen digitale Bildungsgerechtigkeit bereits gute Arbeit leisten und diesbezüglich (Förder-)Konzepte entwickelt haben. Dazu gehört, ihre Arbeitsweise unter Aspekten von Schulentwicklungsprozessen genauer zu analysieren und ihre Ansätze im Sinne von Best-Practice-Beispielen für andere Schulen durch entsprechende Begleitforschung nutzbar zu machen.
  • Wie in anderen Ländern bereits praktiziert könnten 1:1-Ausstattungsansätze greifen, um Jugendlichen aus benachteiligten Lagen eine bildungsbezogene Nutzung neuer Technologien zu ermöglichen und zudem so für alle Schülerinnen und Schüler schulisches Lernen besser mit außerschulischem Lernen zu verzahnen.
  • Jugendliche mit Migrationshintergrund könnten besser gefördert werden, indem die Potenziale digitaler Medien im Hinblick auf ihre Interaktivität, Multimedialität (Kombination verschiedener Medien durch computerbasierte Angebote) und Multicodierung (Kombination von verschiedenen Darstellungsweisen, zum Beispiel Texte und Bilder) besser genutzt werden, auch um an den verschiedenen sprachlichen Hintergründen sinnvoll anzuknüpfen. Diesbezüglich kann auch die Verfügbarkeit von Internetressourcen gezielt zur individuellen Förderung genutzt werden.
  • Gezielte schulische Förderung von Jungen sowie Förderung der computer- und technologiebezogenen Perspektiven von Mädchen, um beide Gruppen einerseits im kompetenten Umgang mit digitalen Medien zu fördern und anderseits ihre berufliche und gesellschaftliche Teilhabe sowie ihre Potenziale, u.a. im MINT-Bereich, besser auszuschöpfen.

Mittel- und langfristig lassen sich Veränderungen im Hinblick auf eine Verbesserung der Bildungsgerechtigkeit im Kontext digitaler Kompetenzen nur erzielen, wenn dieser Kompetenzbereich in schulische Curricula als fächerübergreifende Kompetenz verankert wird und die fachspezifische Nutzung neuer Technologien in die Fächer integriert wird. Dazu bedarf es einer Weiterentwicklung der Lehrerbildung, die an technologische und vor allem an pädagogische Entwicklungen international wieder anschlussfähig zu gestalten ist. Die Ergebnisse der ICIL-Studie für Deutschland machen deutlich, dass bei all diesen Entwicklungen dem Aspekt der Bildungsgerechtigkeit eine entscheidende Rolle zukommt.

Zum Weiterlesen:
Der nationale Berichtsband zur Studie ICILS 2013 steht auf den Seiten des Waxmann-Verlags zum kostenlosen Download zur Verfügung.
Eickelmann, B., Gerick, J. & Bos, W. (2015). Impulse für eine Schule der Zukunft – Zentrale Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie ICILS 2013. Zeitschrift Schul-Management, 46 (1), 22–26.
Eickelmann, B., Bos, W. & Gerick, J. (2015). Wie geht es weiter? Zentrale Befunde der Studie ICILS 2013 und mögliche Handlungs- und Entwicklungsperspektiven für Einzelschulen. SchulVerwaltung NRW.