Flüchtlingspolitik der Visegrád-Staaten: „Niemand hat euch eingeladen“

Ostbahnhof in Budapest, 03.09.2015
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Eine Wand im Ostbahnhof Budapest, beschrieben von Menschen auf der Flucht

Es bleibt zu hoffen, dass sich gegen den ignoranten, abweisenden Umgang der osteuropäischen Regierungen mit Flüchtlingen bald der solidarische, empathische Zugang durchsetzt, den Teile der Bevölkerung in den letzten Wochen bewiesen haben.

Gegen Flüchtlingsquoten

Nachdem vom Ostbahnhof in Budapest tagelang Bilder um die Welt gegangen waren, die eine schnelle, koordinierte Flüchtlingshilfe der EU ohne Worte zum Gebot der Stunde erklärten, bekräftigten die Regierungen Ungarns, Polens, Tschechiens und der Slowakei erneut ihr vehementes „Nein“ zu den von der EU-Kommission vorgeschlagenen Flüchtlingsquoten.  

„Verpflichtende Quoten sind inakzeptabel“, heißt es in der gemeinsamen Erklärung der vier Visegrád-Staaten vom 04. September. Solidarische Hilfe solle „auf freiwilliger Basis“ erfolgen. Freiwillig will Polen in den nächsten zwei Jahren 2.000 Flüchtlinge aufnehmen, Tschechien 1.500 und die Slowakei 200. Und selbst diesen im Vergleich zu anderen Ländern verschwindend kleinen Zahlen stimmten alle drei Regierungen erst nach erhitzten Debatten zu.

Frappierender noch als die Selbstverständlichkeit, mit der die vier Staaten für sich in Anspruch nehmen, die Aufnahme von insgesamt 160.000 Flüchtlingen in der EU weitgehend anderen zu überlassen, sind die Argumente, mit denen sie dies tun. 

Polen lehne „Wirtschaftsmigranten“ ab, so die polnische Regierungschefin Ewa Kopacz. Zudem habe man bereits jetzt Zehntausende Ukrainer im Land.

Tschechien sei ohnehin nur ein Transitland, die absolute Mehrzahl der Flüchtlinge wolle nach Deutschland, man wisse nicht, wie man sie in Tschechien halten solle, argumentiert der tschechische Innenminister Milan Chovanec.

Die Slowakei behielt sich vor, nur christliche Flüchtlinge aufzunehmen. Und Robert Fico stellt als Begründung für die Ablehnung von Flüchtlingsquoten seinem eigenen Land ein Armutszeugnis in puncto Integrationsfähigkeit aus: „Wie sollen wir denn Menschen mit einer ganz anderen Lebensweise und Religion integrieren, wenn wir nicht in der Lage sind, unsere eigenen Roma-Mitbürger zu integrieren?“
Viktor Orbán wies letzte Woche in Brüssel gar jegliche Verantwortung für die Aufnahme von Flüchtlingen von sich und bezeichnete diese als „deutsches Problem“.

Flüchtlinge sind nicht willkommen

Statt zu überlegen, wie sich über Hunderttausend Flüchtlinge, die die lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer geschafft haben,  am besten integrieren lassen, setzen die Visegrád-Staaten auf Abschottung der EU-Außengrenzen zum Schutz vor neuen Flüchtlingsströmen, notfalls mit militärischen Mitteln.  

Diejenigen Länder, die 1989 die Öffnung der Grenzen innerhalb Europas so euphorisch bejubelten, wollen jetzt alles dafür tun, um diese Grenzen für Einwanderer verschlossen zu halten. Man dürfe Flüchtlinge nicht „an den gedeckten Tisch“ einladen, sagte Viktor Orbán mit Blick auf die deutsche Asylpraxis gegenüber Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien. Das Signal müsse vielmehr sein: „Kommt nicht“. Den Bau eines 175 Kilometer langen Zauns an der Grenze zu Serbien hält er für moralisch richtig, weil dieser die Flüchtlinge vor falschen Illusionen schütze.

Tschechiens Präsident Miloš Zeman teilte über das Boulevardblatt „Blesk“ seine Botschaft an die Flüchtlinge im Land mit: „Niemand hat euch hierher eingeladen. Wenn ihr schon hier seid, dann müsst ihr unsere Regeln respektieren. Und wenn euch das nicht gefällt, dann geht weg “.

Kaum Ausländer/innen und Asylbewerber/innen

Das Signal einer drohenden „Überfremdung“, das die Regierungschefs der Visegrád-Länder aussenden, steht in krassem Gegensatz zur Realität. Der Anteil von Ausländer/innen an der Gesamtbevölkerung liegt hier deutlich unter dem EU-Durchschnitt. In der Slowakei leben gerade einmal 1,4 Prozent Ausländer/innen, ähnlich in Ungarn. In Tschechien sind es vier Prozent.

Alle drei Länder verfolgen eine restriktive Asylpolitik. Es gibt nur wenige Asylbewerber/innen. In der Slowakei wurden in der ersten Jahreshälfte 2015 gerade einmal sechs Asylanträge bewilligt. Die ungarische Regierung hat kürzlich das Asylrecht verschärft. Demnach können Flüchtlinge im Eilverfahren ab Mitte September nach Serbien abgeschoben werden, das jetzt als „sicheres Drittland“ gilt.

Keine „Multikulti“-Gesellschaft

Die ablehnende Haltung gegenüber Flüchtlingen auf politischer Ebene wird von einer großen Mehrheit der Bevölkerung aller drei Länder begrüßt.

Über 90 Prozent der tschechischen Bevölkerung sind nach einer neuen Umfrage der Agentur Focus dafür, Flüchtlinge abzuschieben. Sieben von zehn slowakischen Bürger/innen lehnen verbindliche Flüchtlingsquoten ab.

Und der ungarischen Gesellschaft diagnostizierte der Schriftsteller Rudolf Ungváry kürzlich im Deutschlandfunk eine „Art Schweigezustand“, der sie zur Manipuliermasse für die Regierung mache.

Als Ursachen für die ablehnende Haltung gegenüber Ausländer/innen diagnostizieren Soziolog/innen eine weitverbreitete Angst vor dem Fremden, eine weitgehend homogene Gesellschaft und die fehlende Erfahrung im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturkreisen.  „99 Prozent der Tschechen haben noch nie einen Flüchtling gesehen. Und trotzdem sind 81 Prozent gegen Flüchtlinge“, sagt Martin Rozumek, Leiter der „Organisation zur Hilfe von Flüchtlingen“ (Organizace pro pomoc uprchlíkům).

Hinzu kommt eine öffentliche Debatte, in der vielfach nicht zwischen politischen Flüchtlingen und illegalen Migranten unterschieden und in der Islam mit Islamismus gleichgesetzt wird. Dominiert wird diese Debatte seit Wochen von dem „Block gegen den Islam“, einer Facebook-Initiative, die sich innerhalb kurzer Zeit zu einer landesweiten Plattform ausweitete. Eine Petition gegen die Aufnahme von 1.300 Flüchtlingen in Tschechien wurde im Juni von 46.000 Menschen unterzeichnet. Die Anhänger/innen des „Blocks gegen den Islam“ lehnen nicht nur radikale Muslime, sondern den Islam insgesamt ab. Dabei leben in Tschechien nur rund 10.000 Muslime, das sind 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Geschürt wird die anti-islamische Stimmung durch das populistische Verhalten führender Politiker/innen aller drei Länder. Er habe den „dringenden Verdacht“, so etwa der tschechische Präsident Zeman, dass es sich bei den meisten Flüchtlingen um Wirtschaftsmigranten handele, die nicht zum Arbeiten nach Tschechien kämen. Mit den Flüchtlingen könnten Infektionskrankheiten und „schlafende Zellen“ von Terrororganisationen ins Land kommen, so Zeman.

„Wo ist der tschechische Gauck?“, fragte die Zeitung Lidové noviny kürzlich. Und der slowakische Journalist Matúš Kostolný beklagte Ende August im Tschechischen Fernsehen:

„Die politische Elite in der Slowakei, mit Ausnahme von Präsident Kiska, verbreitet massiv eine Stimmung von Angst und Panik gegenüber Flüchtlingen. Von einem Staatsmann erwarte ich, dass er versucht, das Beste in den Menschen zu suchen. Unser Ministerpräsident flirtet stattdessen mit den niedersten Instinkten der Menschen.“

Gegenöffentlichkeit/ „HellesVisegrád“

Auch wenn die breite Mehrheit der Bevölkerung die politische Linie ihrer Regierungen mitträgt, gibt es auch ein „helles“ Ungarn, ein „helles“ Tschechien und eine „helle“ Slowakei [1].  In Ungarn kümmerten sich während des humanitären Dramas am Ostbahnhof Freiwillige um die erschöpften Flüchtlinge , die die Regierung einfach sich selbst überlassen hatte.

In Tschechien wurde ein Appell von Akademiker/innen gegen Fremdenfeindlichkeit innerhalb weniger Tage von rund 10.000 Menschen unterstützt, darunter auch eine Ministerin und zwei Minister aus der Regierung.

„Mit diesem Appell machen wir das, was eigentlich die Politiker tun sollten: Die Emotionen und die Hysterie besänftigen, die hier um die Flüchtlingsfrage aufgekommen sind“, sagt der Molekularbiologe Václav Hořejší, einer der Initiator/innen. Auch die Medien werden in dem Aufruf kritisiert:

„Über Immigranten wird geschrieben wie über Schädlinge oder Parasiten, die über unsere Heimat herfallen, um unser Sozialsystem auszuplündern. Muslime werden in einen Topf geworfen mit Terroristen. Das spiegelt weniger die Realität der Flüchtlingskrise wider als die Krankheit unserer Gesellschaft, die Menschlichkeit und gesunden Menschenverstand verliert.“

In der Slowakei unterzeichneten nach dem Tod von 71 Flüchtlingen in einem LKW über 11.000 Menschen einen „Appell an die Menschlichkeit“. „Die Flüchtlingskrise ist kein abstraktes politisches Problem mehr“, heißt es in dem Text.  „Sie spielt sich vor unserer Haustür ab. Wer mit eigenen Augen Menschen sterben sieht, kann nicht gleichgültig bleiben.“

Die Unterzeichner/innen fordern die slowakische Regierung auf, unverzüglich einen „Aktionsplan zur Flüchtlingshilfe“ vorzubereiten und diejenigen Gemeinden und Personen zu unterstützen, die spontan Hilfe für Flüchtlinge organisieren. 

Kritiker/innen der Flüchtlingspolitik ihrer Regierung erinnern auch an die eigenen Migrationserfahrungen ihrer Länder. Unter dem kommunistischen Regime, insbesondere nach dem Ende des „Prager Frühlings“, waren  Hunderttausende Tschechen und Slowaken ins Ausland emigriert.

Ausblick

Es bleibt zu hoffen, dass sich gegen den ignoranten, abweisenden Umgang der osteuropäischen Regierungen mit Flüchtlingen bald der solidarische, empathische Zugang durchsetzt, den Teile der Bevölkerung in den letzten Wochen bewiesen haben. Denn die Flüchtlingsdebatte zeigt nicht zuletzt auch, inwieweit sich die postkommunistischen Gesellschaften 25 Jahren nach dem Mauerfall nach außen geöffnet haben, hin zu einem multikulturelleren Selbstverständnis. Oder, wie es der slowakische Präsident Andrej Kiska gestern in einer Erklärung formulierte, in der er in bemerkenswerter Deutlichkeit für einen menschlicheren Umgang mit der Flüchtlingskrise plädierte: „Die Flüchtlingsdebatte ist ein Wettkampf um das Herz und den Charakter unseres Landes“. Die EU täte gut daran, in ihre gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik künftig stärker Akteur/innen aus dem NGO-Bereich der osteuropäischen Länder einzubeziehen, statt auf ein Umdenken der nationalstaatlich denkenden politischen Eliten zu warten.  

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[1] In Analogie zu dem von Bundespräsident Joachim Gauck geprägten Begriff von einem „hellen Deutschland“ und von „Dunkeldeutschland“. Bei dem Besuch einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin hatte Gauck Ende August die Ausschreitungen vor Flüchtlingsheimen scharf verurteilt, sie repräsentierten „Dunkeldeutschland“. Das Engagement zahlreicher Freiwilliger für Flüchtlinge hingegen sei Ausdruck eines „hellen Deutschlands“.

 

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