Rot-grün in Niedersachsen: Zwischen Krisenmanagement und Zukunftsdebatte

Geflüchtete nach einem langen Fußmarsch in Mantamados (Lesbos), Griechenland, August 2015
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Die Flüchtenden haben einen langen Weg vor sich. (aufgenommen in Mantamados, Lesbos, Griechenland, August 2015)

Der Schwerpunkt der niedersächsischen Flüchtlingspolitik lag bislang in der Schaffung ausreichender Erstaufnahmekapazitäten. „Er wird sich in den nächsten Monaten verlagern auf die Integration der Menschen in die Gesellschaft“, heisst es in der Staatskanzlei. Man wolle den nach Niedersachsen kommenden Menschen möglichst rasch einen Zugang zur deutschen Sprache, in frühkindliche und schulische Bildung und Arbeit ermöglichen.

In Niedersachsen gibt es fünf Erstaufnahmeeinrichtungen (Bramsche, Braunschweig, Friedland, Oldenburg und Osnabrück, Stand 7.12.15)  und mehr als 30 Notunterkünfte. Weitere Einrichtungen werden dazukommen, etwa in Cuxhaven, Bad Bodenteich und Aurich. Das Land hat zwischen Anfang September und Anfang Dezember 2015 mehr als 20.000 Plätze in vorübergehenden Notunterkünften geschaffen. Flüchtlingspolitik im Herbst 2015 ist mehr Reagieren als agieren. Weil in diesem Zeitraum etwa 1000 Flüchtlinge pro Tag nach Niedersachsen kamen, hat das Land die Kommunen per Amtshilfegesuch gebeten, auch in den Kommunen Notunterkünfte zu errichten bzw. auszubauen. Anfang Dezember standen so knapp 14.000 Plätze zur Verfügung.

Das niedersächsische Innenministerium betont den „engen und guten Austausch“ mit den Kommunen und deren Vertreter/innen. Die Kommunikation sei „zielführend und wertschätzend“, heißt es aus dem Haus von Innenminister Boris Pistorius (SPD). So sei etwa ein Staatssekretär/innenausschuss zu Flüchtlingsfragen unter Federführung des Innenministeriums und der Staatskanzlei eingerichtet worden. Dieser trifft sich im Wochentakt mit der Arbeitsgemeinschaft der Kommunalen Spitzenverbände. In den Städten und Gemeinden blickt man unterschiedlich auf die Qualität des Austauschs (Link zu den drei BürgermeisterInnen??). Die Landesregierung bemängelt ihrerseits, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge teilweise bis zu einem Jahr braucht, bis über einen Antrag entschieden werde. Niedersachsen wirke in Gesprächen mit dem Bund regelmäßig darauf hin, heißt es im Innenministerium.

„Chance für strukturschwache Regionen“

Mehr als 100.000 Menschen sind nach Angaben des Innenministeriums in den ersten elf Monaten des Jahres 2015 nach Niedersachsen gekommen. Aber wie viele werden bleiben?

Die Flüchtlinge können eine Chance sei, gerade für ländliche Gebiete. „Der demografische Wandel ist für uns in Niedersachsen das zentrale Zukunftsthema“, sagte Ministerpräsident Stephan Weil in einem Vorwort eines Berichts des Zukunftsforums Niedersachsen. Die Auswirkungen seien längst spürbar. Nach aktuellen Prognosen des Landesamt für Statistik wird die Einwohnerzahl Niedersachsens von aktuell 7,8 Millionen auf 7,4 Millionen im Jahr 2030 sinken, 2060 sind es demnach nur noch 6,2 Millionen. Auch der Altersdurchschnitt werde deutlich steigen. Eine zentrale Aufgabe sei es deshalb, so Weil, die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen im Land sicherzustellen. Weil hat deshalb den niedersächsischen Demografiebeirat berufen.

Nach Angaben der Staatskanzlei sei es „gut möglich“, dass Flüchtlinge helfen können, negative Auswirkungen der demografischen Entwicklung abzumildern, insbesondere in den strukturschwächeren Regionen des Landes. Niedersachsen habe ein demografisches Problem und die jetzt ankommenden Flüchtlinge seien deutlich jünger als der Durchschnitt der einheimischen Bevölkerung. Ein Teil der Flüchtlinge bringe zudem auch gute Qualifikationen mit. „Priorität hat deshalb aktuell die Förderung der Sprachkompetenz der zu uns kommenden Menschen“. An einer Einbeziehung der aktuellen Migrationssituation in Demografie-Projekte wie „Niedersachsen 2030” werde derzeit gearbeitet.

Gerade für strukturschwächere Gebiete berge die große Zahl der Flüchtlinge große Chancen, heißt es aus der niedersächsischen Staatskanzlei. In diesen Gebieten gebe es – anders als in den Städten - auch genügend leerstehenden Wohnraum. „Es gilt jetzt, dafür zu sorgen, dass insbesondere in den ländlicheren Gebieten auch die für das Gelingen der Integration erforderliche Sozial- und Bildungsinfrastruktur vorhanden ist, ebenso die notwendigen Mobilitäts- und Beschäftigungsangebote.“

Die Landesregierung muss eine Erstversorgung gewährleisten, gleichzeitig aber auch den Fokus auf Integration legen. Hier kommt auch Doris Schröder-Köpf (SPD) ins Spiel. Schröder-Köpf wurde von Ministerpräsident Weil im April 2013 zur Landesbeauftragten für Migration und Teilhabe ernannt - „ohne jede exekutive Befugnisse“, wie Weil das bei der Berufung beschrieb. Vermitteln und öffentlich auftreten, das war damals die Arbeitsbeschreibung. Seitdem ist sie an die Staatskanzlei angedockt, der frühere SPD-Chef Alptekin Kirci leitet das Büro.

Es gab einige Stimmen, die sich bei der Berufung wunderten, was Schröder-Köpf da eigentlich machen solle, oder auch, dass der Frau mit dem berühmten Mann da ein Titel zugeschoben werde. „Ich nehme meine Aufgabe als Fürsprecherin für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sehr ernst“, sagt Schröder-Köpf. Ihr Ehrenamt werde sicher seit einiger Zeit anders wahrgenommen. Heute sei sie auch so etwas wie ein Außenposten der Landesregierung, sagt Schröder-Köpf. Sie trifft Ehrenamtliche, Behördenvertreter/innen und Flüchtlinge. „Ich komme, um zuzuhören – und um die Anregungen, die Sorgen und die Wünsche der Menschen mit in die Landesregierung und in den Landtag zu nehmen“, sagt die Politikerin.

„Die Flüchtlinge sind eine große Chance, um den Auswirkungen der demografischen Entwicklung entgegenzuwirken“, sagt sie. Der Emsland-Plan zeige ja, wie so etwas funktionieren kann. Schröder-Köpf blickt damit auf das Konjunkturprogramm für das damals strukturschwache Emsland, in dem in den 1950er-Jahren geflüchtete Landwirt/innen aus den sogenannten deutschen Ostgebieten angesiedelt wurden. Damals wurde mit riesigen Pflügen Moor bearbeitet und dann landwirtschaftlich nutzbar gemacht. Die großflächige Trockenlegung von Moorgebieten wäre sicher nicht der erste Vorschlag einer rot-grünen Koalition. Praktisch alle Vertreter/innen der Landespolitik betonen, dass die Fehler vergangener Einwanderungsphasen nicht wiederholt werden dürften. Der Blick auf diesen kleinen Marshall-Plan aus dem Emsland zeigt aber auch, dass nach der aktuellen Phase der Erstversorgung durchaus die Zeit für Visionen kommen könnte.

Weitere Beiträge zur Flüchtlingspolitik in Niedersachsen finden Sie auf der Länderseite unseres Dossiers "Wie schaffen die das? Die Flüchtlingspolitik der Länder" (zur Startseite).