„Die Politik macht die gleichen Fehler wie bei früheren Einwanderungsphasen“

Filiz Polat
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Filiz Polat ist Fraktionssprecherin für Flüchtlingspolitik von Bündnis 90/Die Grünen im niedersächsischen Landtag

Politiker/innen in den Städten und Gemeinden berichten davon, dass die schwierige Lage die Parteipolitik bisweilen etwas in den Hintergrund treten lässt. Wie sieht das denn im Landtag aus?
Filiz Polat: Es gab tatsächlich eine Phase, in der es einige Anträge gab, die auch von der Opposition im Landtag einmütig mitgetragen wurden, oder andere, wo Teile der FDP-Fraktion auf unserer Seite waren.

Das ist heute nicht mehr so?
Mit den steigenden Flüchtlingszahlen in der zweiten Jahreshälfte hat sich die Haltung der Opposition leider diametral geändert. Da wird uns Handlungsunfähigkeit unterstellt, da wird auch mit Polemik gearbeitet, da steht die Parteipolitik eindeutig nicht mehr im Hintergrund.

Einigkeit herrscht bei der Einsicht, dass Niedersachsen Modelle braucht, um der demografischen Entwicklung, gerade im ländlichem Raum, entgegenwirken. Können hier Flüchtlinge „helfen“, die Situation zu verbessern?
Flüchtlinge sind keine besondere Kategorie Mensch. Sie haben die gleichen Sorgen, Wünsche und Hoffnungen, die gleichen Erwartungen an das Leben wie die Menschen, die schon länger hier leben. Sie wollen also etwa Bildungschancen für ihre Kinder und auch Zugang zum Arbeitsmarkt. Das Halten der Menschen ist also sicher das Schwierige, gerade in strukturschwachen Regionen.

Sie sind auf vielen Veranstaltungen unterwegs, in ihrem Landkreis Osnabrück, aber auch im Rest Niedersachsens. Mit welchem Argument können Sie Menschen begegnen, die mit, auch wirtschaftlicher, Skepsis auf die Flüchtlingssituation blicken?
Die aufnehmende Gesellschaft profitiert ja ungemein von den Menschen, die zu uns kommen. Wir sind gerade in einem riesigen Konjunkturprogramm. Es wurde in den vergangenen Jahren noch nie so viel Geld für den sozialen Wohnungsbau ausgegeben wie momentan. Die Kaufkraft in den Städten und Gemeinden erhöht sich, selbst kleine Dorfläden merken das. Außerdem muss über den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs nachgedacht werden. Es ist also wirklich eine Win-Win-Situation.

Die rot-grüne Koalition arbeitet seit Februar 2013 zusammen. Was war die wichtigste Veränderung der rot-grünen Landesregierung in der Flüchtlingspolitik?
Wir haben da sehr viel angestoßen und auch schon sehr viel umgesetzt. Wir haben etwa die Härtefallkommission gestärkt, die Flüchtlingssozialarbeit deutlich ausgeweitet, und ins ganz Niedersachsen bekommen Asylbewerber/innen jetzt Bargeld anstelle von Wertgutscheinen. Wir haben auch für einen Paradigmenwechsel bei Abschiebungen gesorgt. Und die Einführung der Gesundheitskarte wird sicher ein schöner Erfolg.

Wie müssen nächste Schritte aussehen?
Wir müssen dafür Sorgen, dass die Abläufe in der Bürokratie beschleunigt werden und wir die Bruchstellen zwischen einzelnen Behörden schließen – beispielsweise an der Schnittstelle von Bundesagentur für Arbeit und den Jobcentern. Wir haben da in Osnabrück ein Migrationszentrum eingerichtet, in dem jetzt Mitarbeiter/innen des Jobcenters direkt mit der Ausländerbehörde zusammenarbeiten, praktisch fusioniert sind. Wir brauchen hier neue Ansätze.

Wo liegen bei solchen Strukturveränderungen die besonderen Schwierigkeiten?
Es liegt da gar nicht in erster Linie am Geld. Es gibt auf Bundesebene leider Entscheidungen, die die Prozesse beschleunigen sollen – die tatsächlich aber die Situation nur verkomplizieren.

Haben Sie ein Beispiel?
Es gibt bei Sprachkursen verschiedene Zuständigkeiten, je nach dem Aufenthaltsstatus des Menschen. Da steigt dann irgendwann keiner mehr durch, wir schaffen Koordinierungsstellen und müssen die Ehrenamtlichen vor Ort aufwändig schulen. Und die zu uns gekommenen Menschen warten, es vergeht wertvolle Zeit – und die Politik macht so die gleichen Fehler wie bei früheren Einwanderungsphasen.

Was würden Sie hier konkret vorschlagen?
Die Flüchtlinge sollten unabhängig von ihrem Status die Möglichkeit haben, schnell Sprachkurse und andere Integrationsmaßnahmen zu besuchen. Selbst wenn sie dann wieder gehen sollten – so etwas ist doch nie umsonst, das bleibt doch.

Die Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen beim Flüchtlingsgipfel hat in der Partei für Ärger gesorgt. Auch mit den SPD-Kolleg/innen in Niedersachsen gibt es nicht immer Einigkeit in Flüchtlingsfragen. Haben Sie Sorge, dass das rot-grüne Bündnis am Thema Flüchtlinge scheitern kann?
Das nächste Gesetzespaket könnte sicherlich eine schwierige Situation bedeuten. Aber ich glaube, dass wir als Land da weiter eine gute Arbeit machen wollen, und auch das überstehen.

Und was macht Ihnen Hoffnung, wenn sie einen Ausblick auf das Jahr 2016 und die Flüchtlingssituation geben müssten?
Der Bund hat jetzt das erste Mal richtig Geld in die Hand genommen. Auch die Länder haben in Nachtragshaushalten viele Millionen bereitgestellt. Wir hatten im September und Oktober eine dramatische Situation. Die ist jetzt besser, und wir müssen vielleicht auch mal ein wenig Luft holen, ohne die Arbeit einzustellen, und schauen, dass die Maßnahmen auch greifen. Wir haben in Niedersachsen jedenfalls unsere Hausaufgaben gemacht.

Weitere Beiträge zur Flüchtlingspolitik in Niedersachsen finden Sie auf der Länderseite unseres Dossiers "Wie schaffen die das? Die Flüchtlingspolitik der Länder" (zur Startseite).