Georg Seeßlen über Bayern und andere deutsche Verhältnisse - ein Essay in drei Teilen:
- „Mia san mia“ – Flüchtlingspolitik als Identitätspolitik
Was die bayerische Sonderrolle ausmacht und wie touristisch-einladende Inszenierung an der Oberfläche und fundamentale Exklusion des Fremden als Staatsräson zusammengehen. - „Was wird, wenn wir nicht helfen?“ – Der bayerische Konsens bröckelt
Was die Politik des xenophoben Mainstreamings ausmacht und wie er heute auf den Widerspruch der Zivilgesellschaft stösst. - „Deutschland bayerischer machen!“ – Flüchtlingspolitik als Machtpolitik
Wie versucht wird, die bayerische Dreieinigkeit von Flüchtlings-, Identitäts- und Machtpolitik wieder zu stabilisieren.
Teil 1:
Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (nicht erst) nach der Wiedervereinigung ist nicht vollständig zu verstehen, ohne dass man neben den Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten zwischen Ost und West auch die Sonderrolle Bayerns - als Bundesland, aber auch als gesellschaftlichem und kulturellem Zustand - in den Blick nimmt. Es ist ein Land, das immer wieder mit separatistischen Impulsen kokettiert, nur um im Gegenzug für das Wohlverhalten weitere Zugeständnisse zu erhalten. Der Ausdruck und das Instrument dieses Changierens zwischen Mitarbeit und Obstruktionismus in der nationalen Demokratie ist die Partei namens CSU, die zugleich mit einer Schwesterpartei namens CDU verbunden ist, aber beständig auch auf Eigenständigkeit pocht, je nach Interessenlage.
Entsprechend wurde diese Partei zu einer Institution eher als einer Option im „Freistaat“; sie wird zwar in weitgehend freien Wahlen bestätigt, aber dass sie irgendwann einmal in Bayern nicht die Regierung stellen könnte (in argen Zeiten mit einem kleinen Koalitionspartner, wenn es sein muss) ist nicht wirklich vorstellbar. Es gilt also in diesem Staat ein etwas anderes Demokratie-Verständnis als im Rest der Republik, was die Mehrheit mit Stolz, eine Minderheit mit ironischer Melancholie erfüllt. In Bayern ist die Opposition ins Kabarett abgewandert.
Aber dieser bayerische Sonderweg, der sich auch in besonderen Beziehungen zwischen großen Sportvereinen, Politik, Wirtschaft und Kultur äußert, man prägte das Wort „Spezlwirtschaft“ für diesen Zusammenhang, um auszudrücken, dass man sich auf persönliche Beziehungen und den Austausch von Gefälligkeiten mehr verlassen sollte als auf formales Recht und gute Sitten, hat mitnichten nur komische, folkloristisch maskierte und mentalitätsgeschichtlich grundierte Züge, er ist für den Rest der Republik immer zugleich bedrohlich und stabilisierend. Die Sonderstellung Bayerns in Deutschland ist kein kulturelles Phänomen, sondern Folge eines politisch-taktischen Kalküls.
“Flüchtlingspolitik” als Identitätspolitik
Und ebenso wird es sich mit der großen Veränderung verhalten, die Deutschland durch den Zuzug der Flüchtlinge in diesen Jahren erlebt, einen tiefen Spalt eingeschlossen, der sich zwischen einer Zivilgesellschaft, die sich dieser Veränderung stellen will, die die Neuankömmlinge begrüßt und auf eine gemeinsame Zukunft mit ihnen hin arbeitet, und einer neo-nationalistisch, xenophob und zuweilen rassistisch motivierten Abwehrhaltung auftut. Die Politik versucht zwischen diesen beiden Polen zu lavieren, was einmal schlicht taktisch erscheint (einschließlich der Wahltaktik), und das andere Mal „pragmatisch“ sein möchte.
Auch hier hat Bayern seine Sonderrolle, so scheint es, nicht nur wieder gefunden, sondern reizt sie bis an die Belastungsgrenzen aus: „Flüchtlingspolitik“ (was näher besehen ein furchtbares Wort ist, denn jede Form von Politik ist, frei nach Carl Schmitt, eine Unterscheidung zwischen Freunden und Feinden, mehr oder weniger demokratisch zivilisiert, und jede Politik ist eine Funktion von Macht) ist in Bayern seit den Tagen nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Flüchtlinge aus dem Osten ins Land kamen und hier nur widerwillige Aufnahme fanden, immer auch eine Art von Identitätspolitik. Bayerisch-sein ist eine dialektische Beziehung zum Rest Deutschlands und der Welt, das gleichzeitige Dabei- und Dagegen-sein; sie offenbart sich in einer scheinbar freundlichen, gar touristisch-einladenden, folkloristischen Inszenierung an der Oberfläche, und in einer fundamentalen Exklusion des Fremden unter dem Motto des „Mia san mia“.
Wer will, kann Wurzeln dieser Identität in der Geschichte des Landes finden, in der es Fremdherrschaft und Hegemonie gegeben hat (der mittlerweile ebenfalls nur noch folkloristisch-ironische Preussenhass) und nicht wirklich eine heroische Gründungslegende. So kann sich die „bayerische Identität“ nur als verkaufte und als bedrohte empfinden. Und dass die im Rest der Republik gepflegte Unterscheidung zwischen Heimatliebe und Nationalgefühl hier so nicht stattfindet, drückt sich in einem „Heimatminister“ aus, der sich in Gestalt von Markus Söder weniger um das Wohlbefinden der Menschen in diesem Land als um die Bündelung von Aggressionen kümmert.
Flüchtlinge als Bedrohung des Herrschaftsmodells
Es gibt, was die territoriale Verteilung von Willkommenskultur und Fremdenfeindlichkeit anbelangt, zwei sehr einfache Erzählungen, die indes, wie alle einfachen Erzählungen, einem genaueren kritischen Blick nur bedingt standhalten. Die Erzählung von der Fremdenfeindlichkeit und der oft erschreckend empathielosen Ablehnung im Osten ist zentriert um ein Verlierersegment in den härter und härter werdenden Verteilungs- und Überlebenskämpfen unter den Bedingungen des Neoliberalismus. Es seien, so sagt diese Erzählung, die Verlierer der Einheit, die sich verzweifelt an eine nationale Identität klammerten, wo ihnen der Anteil an Wohlstand und Karriere schon so sehr missgönnt wurde. Es seien überdies Menschen, die in der Zeit der DDR nie an ein kulturelles Zusammenleben und an alltägliche Toleranz gewöhnt wurden, was sich unter anderem darin zeige, dass die Fremdenfeindlichkeit dort am größten ist, wo es gar keine oder kaum „Fremde“ gibt.
Bayern aber, so die zweite Erzählung, das ist der Rassismus und der Nationalismus der Gewinner, eine Missgunst und ein Neid nach unten, den wir aus der Geschichte dieser Region her kennen: Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hat man es hier den Flüchtlingen nicht gerade leicht gemacht, hat nur widerwillig Raum und Reichtum mit ihnen teilen wollen. Wo im Osten die Lebensängste von Hartz IV-Empfängern sich mit der dumpfen Aggression rechtsextremer oder wenigstens rechtspopulistischer Strömungen kreuze, da sei die hartherzige oder, man denke an Markus Söders Sentenzen nach den Anschläge in Paris, reichlich perfide Taktik im Grenzland zu Österreich, dem Unwillen Besserverdienender zu vergleichen, ihren Wohlstand, statt mit noch Reicheren zu vergleichen, auch nur ein wenig mit Bedürftigen zu teilen.
Wer in Bayern gegen Flüchtlinge, „Asylanten“ und „Fremde“ hetzt, der tut es nicht so sehr aus Angst um Arbeitsplatz und Sicherheit, sondern aus Sorge um den Wert seiner Immobilie und den Standard seiner Lebensqualität. Eine „Erzählung“, wie gesagt. Sie kommt nicht von ungefähr. Die deutsche Gesellschaft wird, wenn die Flüchtlinge aufgenommen, gesellschaftlich integriert und als Bürgerinnen und Bürger akzeptiert sind, eine andere sein als vorher. Wenn die Zivilgesellschaft gegen den Widerstand der rechten Hetzer und gegen den Widerstand einer Politik, die sich nicht an das historische Wort der Kanzlerin, das humanistische Bekenntnis des „Wir schaffen das“, halten mag, diese Aufgabe erfüllt, dann wird dies eine bessere Gesellschaft sein. Wenn sie daran scheitert, und Vorboten eines solchen Scheiterns kennen wir zur Genüge, dann wird es eine noch aggressivere, noch verängstigtere und noch ungerechtere Gesellschaft sein als ohnehin.
Und eben auch die bayerische Gesellschaft, die sich von alters her etwas auf ihre einzigartige Mischung aus Konservatismus und Liberalität zugute hält (zu Recht oder zu Unrecht), wird, wenn sie ihren Anteil an der Integration und Emanzipation der neuen Mitbürgerinnen und Mitbürger übernimmt, eine andere werden. Zu einem gewissen Grade nämlich würde, und vielleicht stoßen wir hier schon auf eine andere Wurzel des besonderen, bayerischen Weges zur Enthumanisierung der politischen und sozialen Begegnung mit den Flüchtlingen, auf einen Teil der Sonderposition verzichten müssen. Gewiss nicht in dem folkloristischen Sinne des „Da bin i dahoam“, das der Bayerische Rundfunk seit Jahr und Tag Menschen verschiedenster Herkunft vor der Fernsehkamera bekennen lässt, sondern im Sinne einer möglichen Verteilung von Macht und Einfluss. Um es einmal kabarettistisch zu überspitzen: Ab einer bestimmten Zahl von Fremden müsste Bayern fürchten, dass sich auch hier noch eine Demokratie ausbreiten würde. Weniger kabarettistisch gesagt: Es geht bei der Ablehnung „der Fremden“ weniger um eine ökonomische Belastung, als um die Gefährdung eines sehr speziellen Herrschaftsmodells, das in der deutschen Demokratie eingelagert ist.
Bayern – eine konstitutionelle Demokratie
Man kann in Bayern, mehr als sonst in Mitteleuropa, von einer konstitutionellen Demokratie sprechen. Das Volk ist der Souverän, aber nur pro forma. Es repräsentiert sich sozusagen, zum Beispiel auf dem Oktoberfest, und es wird dafür mit einem gewissen Glamour und mit der Befriedigung spezieller Ansprüche belohnt. Im Gegenzug überlässt es die eigentlichen Regierungsgeschäfte ebenso wie die ökonomischen Grundbedingungen den dafür geeigneten Institutionen. Statt demokratischer Kontrolle verlangt es den Souverän einer konstitutionellen Demokratie eher nach Teilhabe und Identifikation. Deswegen ist man weniger erbost darüber, was bei dem „Erfolgsverein“ Bayern München und seinen Protagonisten an eigenwilligem Umgang mit dem Finanzkapital getrieben wird, als darüber, dass man es öffentlich herumreicht. Man will nicht wissen, welchen Schaden ein BMW in Umwelt und Verkehr anrichtet, man will, dass es „unsere“ BMWs sind, die so erfolgreich im Rest der Welt unterwegs sind. Der konstitutionellen Demokratie entspricht mithin ein von Sozialneid weitgehend freies „Leben-und-Leben-lassen“ in der ökonomischen Praxis. Alles geht, solange es „unter uns“ bleibt.
Der konstitutionellen Demokratie entspricht überdies ein „libertärer Paternalismus“. Man verlangt, wie es schon vor der Machtergreifung der Nazis einst im Simplizissimus karikiert war, und wie es die Mutter in Fassbinders Beitrag zum Film „Deutschland im Herbst“ formuliert, einen gutmütigen Diktator, einen volkstümlichen Herrscher. Einen, der einem die äußeren Einmischungen vom Hals hält und im Inneren eine Freiheit, vor allem wirtschaftlicher Art in Form des Inruhelassens gewährt. Alle bayerischen Ministerpräsidenten, der eine mehr der andere weniger, haben versucht, diesem Herrscherbild zu entsprechen, das die drei Kritierien erfüllt: Bayerische Identität durch ein „selbstbewusstes“ und wenn es sein muss obstruktionistisches Aufreten im Bund und bei der Schwesterpartei CDU, Glamour und Folkore einer gemäßigt paternalistischen Herrschaft, die sich gerne einmal auch „Einmischung“ verbittet, und zeigt, „wer Herr im Haus ist“, Wohlstand durch eine bayerische Ökonomie, die sich von der gesamtdeutschen so unterscheidet wie die Demokratie.
Kontrolle und Hantieren mit Widersprüchen – Voraussetzungen des bayerischen Sonderweges
Dieser bayerische Sonderweg kann nur institutionell weiter verfolgt und stabilisiert werden, wenn einige Voraussetzungen erfüllt sind:
1. Es muss ein funktionierendes System von Inklusion und Exklusion geben. Das heißt, es sind sehr dezidierte Kontrollmechanismen entstanden, die bestimmen, wer es hier zu etwas bringen kann und wer nicht.
2. Die inneren Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten (Animositäten „landsmannschaftlicher“ Art eingeschlossen) müssen zwischen „Altbayern“, Franken und Schwaben einigermaßen ausgeglichen werden (es gibt, für Komplettisten, sogar einen hessischen Zipfel des Bundeslands Bayern), ebenso wie es gewisse Vergnügungen und Rituale gibt, in denen die Widersprüche zwischen den Ärmeren und den Reicheren aufgelöst sind.
3. Was in Bayern mehr als anderswo gelang (und zunehmend als Exportschlager gehandelt wird) ist ein Amalgam aus Jugend- und Traditionskultur, eine Pop-Folklore, „rebellischer“ und konservativer Attitüde; man könnte, als Pendant zur konstitutionellen Demokratie einen Konsens-Liberalismus ausmachen; Dirndl und Lederhose gehören zum Konsens-Code, dürfen aber popkulturell aufgepeppt werden. Das Bekenntnis zum Bayerntum darf auch in Rock’n’Roll-Form vorgebracht werden. Was Kunst, Literatur, Wissenschaft und, nun eben, Kabarett anbelangt: Man darf „an Bayern leiden“, und dies auch kundtun und ästhetisch oder theoretisch sublimieren, solange man nur nichts verändern will.
4. Zuzug und Abwanderung sind gleichsam ökonomisch reguliert, so dass geringere Arbeitslosigkeit, höhere Durchschnittslöhne, steilere Karrieren etc. zu einer Erfolgsbilanz führen, die freilich eben auch durch informelle Techniken der Abschottung erzeugt werden. Die Faustregel lautet wohl, möglichst viel Geld anzuziehen und möglichst wenige Menschen. Wie alle kleinen Bergvölker haben auch die Bayern gelernt, die Fremden möglichst gründlich auszuplündern, bevor man sie davonjagt.
5. Die Erfolgsgeschichte Bayerns hängt nicht nur mit einem mehr oder weniger geglückten Umbau von einer Agrargesellschaft in eine Industrieregion zusammen, sondern mehr noch mit einem Überspringen des krisenhaften Schwerindustrie-Komplexes. Man kam hier leichter in die postindustrielle und dienstleistungsorientierte Phase und musste weniger Altlasten und Krisenregionen verarbeiten (nicht, dass es keine solchen gäbe, aber man schaffte es, sie nicht ins Zentrum der Selbstidentifikation rücken zu lassen).
6. Eine institutionelle Partei wie die CSU kann das Dogma des Straußismus verwirklichen, dass es rechts von ihr keine nennenswerte Kraft geben dürfe. So ist zwar der gesamte Freistaat vergleichsweise „rechts“, aber die offen rechtsextreme Szene bleibt einigermaßen verhalten. Die institutionelle Partei hat zumindest auf dem Land tiefe Wurzeln in allen alltäglichen, administrativen, kulturellen und ökonomischen Prozessen, und sie ist dabei mehr durch ein Milieu als durch ein Programm verbunden (das Programm könnte lauten, die Verhältnisse sollten gefälligst so bleiben, wie sie sind). Das Spektrum zwischen rechts und weit rechts ist entsprechend groß.
7. Die Regierung einer institutionellen Partei in einer konstitutionellen Demokratie darf - oder muss sogar - drastischer vorgehen als anderswo. Justiz, Polizei und Bürokratie in Bayern stehen nicht unbedingt im Ruf besonderer Sensibilität oder auch nur durchgehaltener Verhältnismäßigkeit; so nimmt es nicht wunder, dass ein CSU-Politiker offenkundige Polizeigewalt gleichsam folkloristisch als „bayerische Art“ des „Hinlangens“ herunterspielen konnte.
8. Gewiss hat die katholische Kirche nicht mehr die Schlüsselrolle, die sie noch in die Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit aus der „alten“ bayerischen Gesellschaft mit herüber retten konnte. Doch nach wie vor gehört sie zu den Machtknoten in diesem Geflecht, denen, wie auch Teilen des bayerischen Adels und wie etlichen großen Brauereien nicht nur diskursive, kulturelle, sondern auch territoriale Macht geblieben ist. Diese Machtknoten bestimmen weitgehend auch ästhetische Verständigung; das Schloss, die Kirche und das Wirtshaus leben nicht nur als folkloristische und natürlich touristische Hot Spots weiter, sondern sie bilden auch drei Hauptdiskurse, Predigt, Stammtisch und Repräsentation, die in vielen Verständigungsformen weiter wirken, vielleicht ohne sich ihrer Provenienz gewahr zu sein. Der bayerische Paternalismus hat mithin seine eigene Semantik.
9. Der bayerische Ministerpräsident muss in seiner Person und in seiner Praxis der Machtausübung exakt dem Bild einer halbseparaten und halbintegrierten Region entsprechen, dem Code einer konstitutionellen Demokratie, und einer paternalistischen Liberalität. So verkündete Horst Seehofer, er befinde sich in „einer Koalition mit dem Volk“, was ein bemerkenswertes Verständnis von repräsentativer Demokratie ist. Er machte dieses Projekt indes wahr, indem er auch Entscheidungen traf, die den „Wirtschaftsflügel“ seiner Partei verstimmten, ebenso wie er zwanglos den Lederhosen- gegen den Laptop-Aspekt in seiner Region ausspielt. Und besser konnte man wohl dieses Gelegenheits-Spiel von deutscher Zugehörigkeit und bayerischer Autonomie nicht ins Szene setzen als mit der Ankündigung, einige Beamte zur eigenen Grenzsicherung einzusetzen: Der Flüchtling als wehrloses Opfer einer regionalistisch-halbseparatistsichen Machtpolitik, nun schon am Rande einer administrativen, ja "militärischen" Eigenheit. Die Grenze ist nicht nur symbolisch, sondern durchaus auch rechtlich ein Schlüssel zur Definition von Macht, Souveränität und Autonomie.
10. Im Gegensatz zu den meisten anderen Regionen und Länden in der Bundesrepublik Deutschland vermittelt Bayern nicht eine linear gestaffelte Identität (man mag sagen: Ich bin zuerst Deutscher und dann Rheinland-Pfälzer, man mag auch sagen: Ich bin zuerst Hamburger, und dann Deutscher), sondern eine doppelte, miteinander verschränkte Identität. Ich bin, mag man hier sagen, sowohl Bayer als auch Deutscher, doch in Teilbereichen schließt meine bayerische Identität meine deutsche Identität aus, und umgekehrt. So kann es geschehen, dass man in solchen Teilbereichen die anderen deutschen Ländern eher als Ausland betrachtet, was keineswegs nur für den Bereich der Folklore- und Kulturpolitik gilt, sondern durchaus auch für den Bereich der Wirtschafts- und Verkehrspolitik. Der rhetorische Trick dabei, und genau dies wird nun wieder in der „Flüchtlingspolitik“ angewandt, besteht darin, sich nicht als Ausnahme, sondern als Modell und „Vorreiter“ zu inszenieren.
11. Über alledem schwebt als „Übervater“ die Figur von Franz Joseph Strauß, der nicht nur den Maßstab für die Popularität und für die Verfolgung „bayerischer Sonderinteressen“ setzte, sondern auch für die Definition dessen, was ein politischer Führer der konstitutionellen Demokratie und des paternalistischen Liberalismus (sich) erlauben darf. Strauß entfaltete eine frühe Form dessen, was später als „Berlusconismus“ die Geschichte der Postdemokratie bestimmen sollte. Diese Regierungsform, in der sich demokratische, ökonomische, mafiöse, paternalistische und populistische Elemente vermischen, wurde später zuweilen abgeschwächt oder modifiziert, dann wieder ein wenig verschärft, nie indes wirklich abgelegt. Wer in München auf einem „Franz Joseph Strauß-Flughafen“ landet, muss wissen, dass Rechtsstaat, Demokratie und kaufmännischer Anstand hier nur bedingt Geltung haben.
12. All das ist nur möglich, wenn sich die konstitutionelle Demokratie Regeln der inneren Zensur, der Kritikabschwächung, der einigenden Dispositive einschließlich durchaus drastischer rassistischer, sexistischer und nationalistischer Rhetoriken leistet: Dass der rechte Rand in der CSU integriert ist, muss offenbar immer wieder einmal performativ vermittelt werden. Die Partei hat dafür ihre Spezialisten, die allesamt, wie etwa Peter Gauweiler, auch mehr oder weniger gute Schauspieler sind.
13. Bayern ist, das sagt sich so leicht, „barock“. Das ist, historisch gesehen, einerseits die Ästhetik des Absolutismus und der Gegenreformation, und genau um diese beiden Vorstellungen geht es in der bayerischen „Art“. Um eine Macht, die identisch mit ihrem eigenen Bild ist, und um eine Form der Religion, die sich gegen die protestantische Subjekt- und Gemeindereligion zur Wehr setzt, indem sie allerdings auch das eine oder andere davon übernimmt. Es ist die politische Ästhetik einer Verbindung der Künste zu Inszenierungen im öffentlichen Raum, aber, volkstümlicher gesehen, auch ein Genuss der „Üppigkeit“, was von der Architektur über die Küche bis zum erotischen Ideal reichen mag. Es ist die Suche nach einer Symmetrie in der Üppigkeit, immer am Rande der spätbarocken und manieristischen Auflösung.
"Abschreckung als Prinzip"
All diese Formen des eingebetteten Sonderstatus' Bayerns, immer in fließendem Übergang von folkloristischer Unbestimmtheit zu zielgerichteten Mechaniken der Macht, „erklären“, dass man im „Freistaat“ eine sowohl rhetorische als auch praktische Tradition in der "Abschreckung als Prinzip" gegenüber Flüchtlingen entwickelt hat. Der Pakt zwischen der institutionellen Partei des liberalen Paternalismus, der Ökonomie, die sich hier offener zum „Bazitum“ bekennen kann, und dem Volk, das sich mit einer doppelten Identität nicht nur einen Wohlfühlbonus verschafft (man ist etwas Besseres und darf es sich daher etwas besser gehen lassen, zugleich pflegt man auch die wollüstige narzisstische Kränkung, alle Welt will das Bayerische beleidigen, und wenn wir noch so gute/teure Fußballmannschaften und Autos haben - Allmacht und Ohnmacht immer nahe beieinander), sondern auch ein weites Feld zwischen individuellem und kollektivem Egoismus und soziale und nationaler Verpflichtung (von einer allgemein menschlichen gar nicht zu reden), funktioniert nur über einen Schutzwall nach außen. Fremdenfeindlichkeit kommt daher nicht so sehr als gewalttätige Übersprungshandlung und in der bekannten „Sündenbock“-Funktion vor, sondern vor allem als dumpfe Institution, Gewohnheit und Konsens. Das Fremde wird nicht so sehr geopfert, es wird erstickt.
Teil 2: „Was wird, wenn wir nicht helfen?“ – Der bayerische Konsens bröckelt
Was die Politik des xenophoben Mainstreamings ausmacht und wie er heute auf den Widerspruch der Zivilgesellschaft stösst.
Abschreckung als Prinzip – das gilt, natürlich, für einen großen Teil der bayerischen Gesellschaft, und gilt für einen nicht unerheblichen Teil der Zivilgesellschaft in diesem Land auch wieder nicht. Wenn sich anderswo der Ungehorsam der Gesellschaft gegenüber der Regierung in xenophober Gewalt zeigt, so zeigt sich der Ungehorsam der liberalen Gesellschaft in Bayern in Form einer Hilfsbereitschaft und Willkommenskultur, die der paternalistischen Regierung gar nicht recht sein kann. Die bayerische Identitätspolitik, die gleichsam Xenophobie zur Staatsräson erklärt, umfasst nicht die gesamte Gesellschaft.
Daher ist die Flüchtlingspolitik als aggressive Außenseite der Identitätspolitik für die bayerische Regierungsform auch nicht ohne Risiko. Glücklicherweise widersetzen sich ihr mehr Menschen, als für ihre reibungslose Durchsetzung spräche. Der anti-humane Ansatz und seine oft genug empörende Rhetorik lässt auch Menschen „aufwachen“, die sich ansonsten mit den Verhältnissen eingerichtet haben, nicht zuletzt solche, die von ihrem Hintergrund einen Auftrag von Nächstenliebe und Solidarität her spüren. Auf die katholische Kirche zum Beispiel kann die bayerische Staatsregierung bei ihrer Flüchtlingspolitik nicht mehr unbedingt bauen; Widerspruch regt sich auch in Bereichen der Kultur und des Journalismus. Vielleicht ohne es beabsichtigt zu haben setzt die bayerische Flüchtlingspolitik die Frage nach dem Funktionieren von Macht und Diskurs in diesem Freistaat auf die Agenda.
Die Geschichte der Flüchtlinge in Bayern ist von Ressentiment und Verleumdung bestimmt. „Asylmissbrauch“, „Wirtschaftsflüchtlinge“ und ähnliches war beständig in der Rhetorik von Abschreckung und Ausgrenzung zu hören. Sie wurden bereits in den achtziger Jahren geprägt. In den neunziger Jahren, nach den Katastrophen im Balkan, war Bayern das Bundesland, das sich, mit genau dieser Rhetorik, am raschesten und rigidesten von den humanistischen Selbstverständlichkeiten abwandte. Damit vermittelte die Regierung genau das, was die rechte Fremdenfeindlichkeit dann aufgreifen konnte, nämlich dass Flüchtlinge vorwiegend „Betrüger“ seien, die es nur auf unser Geld abgesehen haben, eine „Gefahr“ und ein „Problem“.
Auch der Verbalradikalismus wurde hier stets besonders heftig gepflegt. Es ist noch nicht lange her, dass die CSU den Slogan „Wer betrügt, der fliegt“ prägte, der in seiner drastischen Dummheit höchsten von „Kinder statt Inder“ übertroffen wurde. Adressiert waren damit natürlich in erster Linie die vermeintlichen „Armutsmigranten“ aus den Ländern des Balkan, immer aber war auch das eigene Volk gemeint, dem man eine starke Hand gegen die Fremden vorgaukelte. Was diese Rhetorik von vorneherein ausschloss, war das, was man später „Willkommenskultur“ nannte, zunächst aber einfach Zuwendung und Solidarität.
Es war der liberale Paternalist, der seinem Volk sagte, er müsse und solle die Fremden nicht willkommen heißen. Die Konzentration auf den „Wirtschaftsflüchtling“ und „Asylmissbraucher“ weist erneut darauf hin, das es offensichtlich um die Abwehr von Habenden gegenüber Nicht-Habenden geht. Als wäre der allgemeine Wohlstand des Bundeslandes, das ein Freistaat sein will, das Gefährdungsgut schlechthin. Aber auch das war „typisch bayerisch“, dass im Osten sich die neofaschistischen Horden gegen die Flüchtlingsheime stellten, während hier die Regierung selber einen solch drastischen Ton anschlug, gleichsam vorauseilend die xenophobe Reaktion von Teilen der Bevölkerung integrierend, sie zu fördern, zu filtern und zu instrumentalisieren.
Diese Politik des xenophoben Mainstreaming schien in den neunziger Jahren erneut aufzugehen und sich in direkte gesetzgeberische Macht umzusetzen. Es waren die „Das Boot ist voll“- Kampagnen, die schließlich zum „Asylkompromiss“ des Jahres 1993 führten, in dem das Grundrecht auf Asyl zum ersten mal drastisch eingeschränkt wurde. Während in Hoyerswerda und Rostock die Unterkünfte angezündet wurden, plädierte allen Ernstes Staatssekretär Erich Riedl von der CSU für „asylantenfreie Zonen“ in München. Ganze 7000 Asylbewerber hielten sich damals in der Hauptstadt auf, viele von ihnen in Turnhallen oder Fabriken. Erich Riedl, übrigens selber einer Flüchtlingsfamilie aus dem Sudetenland entstammend und eine Zeit Präsident des TSV 1860, den er fachgerecht in den Ruin trieb, während er selber mit Steuerhinterziehung und Waffengeschäften, nun ja, in Verbindung gebracht wurde, sprach offenbar jenem Teil der Bevölkerung aus dem Herzen, die sich von „Asylanten“ belästigt und um die Immobilienwerte gebracht sahen.
Während man also nach „asylantenfreien“ Zonen verlangte stellte man die Flüchtlinge als Menschen, wenn überhaupt, zweiter Klasse aus, indem man sie in Container ausgerechnet auf dem Gelände des Münchner Oktoberfestes sperrte. Der symbolische Charakter dieser Geste war eindeutig genug. Es wurde offensichtlich bewusst das Bild jenes „Asylanten“ erzeugt, der öffentliche Einrichtungen „besetzt“, zugleich aber von der fürsorglichen Obrigkeit eingesperrt und überwacht wird. Man muss weder Foucault-Leser sein, noch Christoph Schlingensiefs Container-Aktionen erlebt haben, um zu begreifen, welche Wirkungen solche Inszenierungen von der Herabstufung von Menschen haben. Der öffentlichen Zurschaustellung entsprachen Demonstrationen Münchner Bürger, die ganz im Sinne des Erich Riedl forderten, dass ihr eigenes Stadtviertel „asylantenfrei“ bleibe. Selten konnte man so einträchtig Rassismus, handfeste wirtschaftliche Interessen und die Lust am durch den Gegenstand des Hasses generierten Wir-Gefühl am Werk sehen.
Der Konsens des unmenschlichen Verhaltens bröckelt
Die Besonderheit der bayerischen Verhältnisse zeigte sich in dem großen Konsens dieses unmenschlichen Verhaltens. Nicht nur die CSU und der von ihr bediente Teil der Bevölkerung waren sich in der Ablehnung der Flüchtlinge einig, sondern auch der SPD-Bürgermeister der Stadt München, Georg Kronawitter benutzte das Wort von den „Armutsflüchtlingen“, welche man nicht aufzunehmen gewillt war und verlangte eine Änderung des Asylrechts. Auch damals übrigens entstand der Druck auf die regionalen Institutionen, weil sich die Regierungen sowohl in Bayern als auch in Berlin herzlich wenig um das Problem kümmerten.
Das Durchreichen der Belastungen nach unten ist ein probates Mittel, den Unmut an der politischen und gesellschaftlichen Basis zu erzeugen, den man dann rhetorisch wieder aufnehmen kann. 1993 richtete die Stadt München ein eigenes Flüchtlingsamt ein und vollzog damit gleichsam „offiziell“ die regionale Zersplitterung von Kompetenz und Verpflichtung. Die Strategie einer gleichzeitigen „Asylanten“-feindlichen Rhetorik und praktischer Ignoranz schien aufgegangen zu sein. Sie wiederholt sich, allem Anschein nach, derzeit, wenngleich in einer moderateren wie politisch effizienteren Weise.
Es folgte eine Zeit scheinbarer Beruhigung. Die Anzahl der Flüchtlinge hielt sich in Grenzen, die Einrichtungen auf den urbanen und regionalen Ebenen schienen einigermaßen zu funktionieren. Das große Narrativ der bayerischen Sonder-Gesellschaft und ihrer Regierungen in Bezug auf die Flüchtlinge und die Ausländer im allgemeinen löste sich in „Einzelfälle“ auf. Einzelne Konfliktfälle, gewiss, aber auch etliche kleine Narrative von geglückter Integration und freundlichem Zusammenleben. Auch Menschen, die vordem als „Asylanten“ herabgestuft worden waren, durften nun im Bayerischen Rundfunk behaupten „Da bin i dahoam“.
Dann aber, ebenso vorhersehbarer wie ignorierter Weise, war das Problem wieder da. Ganz so einfach wie in dieser Zeit allerdings ist die Situation nun fünfundzwanzig Jahre später - nach einer gewissen Latenzzeit der xenophoben Identitätspolitik - nicht mehr. Die Not der Flüchtlinge und die Notwendigkeit der Hilfe ist so offensichtlich, dass der Riss nicht allein zwischen Bayern und dem Rest der Republik, bzw. zwischen der CSU und der CDU verläuft, sondern auch in der CSU selber.
So ergab sich zunächst ein eher zwiespältiges und widersprüchliches Bild der bayerischen Flüchtlingspolitik. Von den xenophoben Verbalexzessen der neunziger Jahre war zu Beginn der „Flüchtlingswelle“ und unter dem Eindruck des Merkelschen „Wir schaffen das“, sowie der Medienbilder vom Leid der Flüchtlinge und der Empathie der freiwilligen Helfer an den Bahnhöfen noch nichts zu spüren. Manchenorts schien sogar eine Bereitschaft zu erkennen, die bayerische Regierung wolle selber engagiert in eine moderate Form der Willkommenskultur eingreifen, etwa wenn die bayerische Sozialministerin Emilia Müller öffentlich erklärte, den Sorgen und Nöten der Flüchtlinge persönlich und von Amts wegen mehr Gehör zu schenken.
Es war eine durchaus bedeutende Geste, als sie die Umwandlung der Essenspakete in verfügbares Geld anordnete, ein Minimum an mitbürgerlicher Anerkennung. Die Strategie von realer Untätigkeit und xenophober Polemik jedenfalls schien also diesmal zu unterbleiben, auch wenn einmal mehr die Hauptlast nach unten verlagert und so viel als möglich der Zivilgesellschaft überlassen wurde. Horst Seehofer, der aktuelle bayerische Ministerpräsident, erklärte 2014 den Vorrang der Flüchtlingspolitik; eine solche Ignoranz wie in den neunziger Jahren sollte es nicht noch einmal geben.
Hatte sich etwa auch in Bayern etwas zum Besseren gewendet? Ach, man hatte sich zu früh gefreut.
Dass die Rückkehr zum harten Kurs zunächst nicht ohne weiteres gelingen konnte, hatte zwei Hauptursachen, zum einen die Notwendigkeit eines nationalen Konsenses, der zugleich ein Konsens von CDU und CSU ist, und, immer und immer wieder personalisiert, in diesem Fall aber auch besonders drastisch, einer zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer. Und es hatte zur Ursache, dass aus der Zivilgesellschaft nun besser organisierte Gegenkräfte entstanden waren. Ein widerstandsloses Fischen am rechten Rand war nicht mehr so einfach möglich, und genau so wenig eine Praxis der Abschreckung, die auf keine kritische Beobachtung stoßen würde.
Auch die katholische Kirche, zu der die Bindung freilich längst lockerer geworden ist, ist kein vollständig verlässlicher Partner mehr für diese Politik. In einem offenen Brief wandten sich zum Beispiel im Jahr 2015 bayerische Ordensobere gegen die Flüchtlingspolitik der CSU – mit einer vollkommen ungewohnten kritischen Entschiedenheit: Man forderte Horst Seehofer auf, „dringend von einer Rhetorik Abstand zunehmen, die Geflüchtete in ein zwielichtiges Licht stellt.“ Und: „Als Ordensleute nehmen wir mit brennender Sorge wahr, wie auch in unserem Land rechtsnationale Kräfte und Meinungen wieder sprach- und öffentlichkeitsfähig werden.“ Deutlicher konnte man wohl nicht mehr werden.
Gleichzeitig aber hatten die bayerische Regierung und die CSU ein „Kippen“ der Stimmung erkannt. Der Zuspruch zum „Wir schaffen das“ nahm ab, die Umfragewerte der Kanzlerin sanken, und der rechte Rand, den man doch immer zu integrieren sich vorgenommen hatte, begann wieder zu rumoren. Aus alledem ergab sich ein rascher und heftiger Kurswechsel. Bayern stellte sich symbolisch an die Spitze einer neuen „Das Boot ist voll“-Kampagne und etablierte eine neue Rhetorik. Die drei Grundbilder in dieser neuen Anti-Flüchtlingskampagne waren, sinnig genug: Schließung der Grenzen (einschließlich bemerkenswert fieser Vorstellungen von Auffanglagern für Menschen ohne „Bleiberecht“), Kontingente bzw. „Obergrenzen“ und rasche Selektion, und schließlich die Rückkehr zu den Phantasmen der Abschreckung und der Demütigung. Als wäre jede Vergünstigung, jede noch so kleine Freiheit, jede soziale Zuwendung ein Verbrechen am eigenen Volk, da es „falsche Signale“ aussende, und weitere Flüchtlinge ermutige. Die alten Begriffe wurden wieder hervorgeholt. Horst Seehofer selber sprach wieder vom „massenhaften Asylmissbrauch“, und die durchaus sadistischen Phantasien zur Behandlung der Menschen auf der Flucht übertrafen schließlich womöglich noch das in den neunziger Jahren etablierte xenophobe Phantasma.
Zunächst verflüssigte sich die Beziehung zwischen den harten und den weichen Strategien. Wenn der Münchner Kardinal Reinhard Marx die Flüchtlingspolitik an einer einfachen Frage ausrichtet: „Was wird aus den Flüchtlingen, wenn wir ihnen nicht helfen?“ erhält er von der bayerischen Politik keine Antwort mehr. Und auch die Gegenkräfte der Kirche, der engagierten Zivilgesellschaft und der kritischen medialen Öffentlichkeit prallten an der neuen Strategie ab: Aktive Flüchtlingshilfe wird zunehmend als lästig empfunden und längst dort, wo es Geld kostet, zum Beispiel bei der Sprachförderung, direkt behindert.
Drohgebärden als bundespolitisches Erfolgsmodell
Die bayerische Regierung und die CSU hatten erkannt, dass sie mit der Flüchtlingspolitik den bayerischen Sonderweg, die Alleinherrschaft und den Einfluss in der Bundespolitik wieder stärken konnten. Ihren ersten Höhepunkt erreichte diese Strategie im Oktober 2015, als Horst Seehofer mit seinen Drohgebärden in Richtung Berlin begann, indem er eine Klage vor dem Verfassungsgericht ankündigte für den Fall, dass „die Zuwanderung nicht begrenzt“ werde. Die Anrufung hoher Instanzen zur Durchsetzung populistischer Stimmungen, so könnte man diese Taktik beschreiben. Und darin steckt, was man in der bayerischen politischen Kultur offenbar unnachahmlich gut erlernt: Die Heuchelei.
Die Farce dazu lieferte, einmal mehr, Peter Gauweiler. In einem offenen Brief an den Bundestagspräsidenten verlangte er von der Kanzlerin, die Flüchtlingspolitik im Parlament zur Abstimmung vorzulegen. Erneut geht es nur einerseits um die Durchsetzung eines harten Kurses in der Flüchtlingspolitik, zugleich aber immer auch um die Schwächung der Bundesregierung. Auch hier ist die Absicht in den unnachahmlichen Ton der Heuchelei gebettet: „Deshalb schreibe ich Ihnen, dem personifizierten Sachwalter der Rechte und Pflichten unserer Volksvertretung. Bitte greifen Sie ein“.
Diese Politik von Abschreckung, Demütigung und Schwächung von Amt und Person findet für diesmal freilich genügend Unterstützung auch in der „Schwesterpartei“ selbst: Schäuble oder DeMaizière sind sich in der Kanzlerinnenkritik und der harten Linie offenbar mit den Bayern einig. Der Jurist Gauweiler jedenfalls argumentiert sophistisch: „Ist eine vorherige Genehmigung des Parlaments nicht möglich und hält der zur Bekämpfung einer Notlage verfügte Einsatz an, muss die Bewilligung durch das Parlament nachträglich geschehen. Die faktische Aussetzung des deutschen Einreiserechts und der von der Regierungschefin verfügte Nichtvollzug gesetzlicher Aufgaben der Bundespolizei währt nun seit über acht Wochen!“ So geht es in besagtem offenen Brief weiter.
Sein eigentlicher Gehalt liegt in der Konstruktion einer Ausnahmesituation und der Definition der Flüchtlinge als Verursacher einer „Notlage“. Und: „Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht! Muss man wirklich lange argumentieren, dass die Verfügung, Hunderttausende aus dem Nahen und Fernen Osten und aus Afrika ohne Aufenthaltstitel einreisen zu lassen, für die Bundesrepublik Deutschland 'wesentlich' ist – je nach Auffassung grundlegend richtig oder umstürzend falsch?“, fragt Gauweiler, und dieses Wort „umstürzend“ ist gewiss mit Bedacht gewählt. Und fast automatisch kommt dann auch noch die letzte Volte, eleganter formuliert, die Seehofer eigentlich hinter der staatsmännischen Vernunftattitüde verbergen wollte: „Denn auf der anderen Seite wirken die aufwühlenden Bilder vom Wochenende doch für jeden auch wie eine Projektion der Zukunft Deutschlands. Wenn der Staat seine Schutzfunktion nicht mehr wahrnehmen kann und seine Großzügigkeit nur von einem billigen 'Ist es recht?' getragen wird. Und die Politik das 'Was kommt danach?' längst aus den Augen verloren hat.“
Markus Söder hatte gerade seine Interview-Botschaft ins Land geschickt, nach der die Anschläge von Paris die Wende in der Flüchtlingspolitik bedeuteten („Die Zeit unkontrollierter Zuwanderung und illegaler Einwanderung kann so nicht weitergehen. Paris ändert alles.“), woraufhin Seehofer ihn noch einmal zur Ordnung gerufen hatte, um staatsmännische Vernunft „signalisieren“ zu können. Arbeitsteilung? Konflikt des Regenten mit einem hitzköpfigen „Nachfolger“? Oder doch einfach nur wieder: Heuchelei?
Teil 3: „Deutschland bayerischer machen!“ – Flüchtlingspolitik als Machtpolitik
Wie versucht wird, die bayerische Dreieinigkeit von Flüchtlings-, Identitäts- und Machtpolitik wieder zu stabilisieren.
Heribert Prantl schrieb in der Süddeutschen Zeitung: „CSU-Ministerpräsident Horst Seehofer nimmt sich offenbar die fiese Flüchtlingspolitik des Viktor Orbán zum Vorbild. Seehofer will Bayern zum deutschen Ungarn machen. Der Freistaat will, so kündigt Seehofer es an, nur noch "Mindeststandards" erfüllen; das heißt: Flüchtlinge sollen drangsaliert werden. Bayern soll unattraktiv werden für Flüchtlinge; das heißt: Sie sollen hier so mies behandelt werden, dass sie um das Land einen Bogen machen. Die CSU kennt künftig Flüchtlinge ‚mit Schutzbedürftigkeit‘ (möglichst wenige) und Flüchtlinge ohne Bleibeperspektive (möglichst viele); letztere brauchen offenbar, nach Meinung Seehofers, auch keinen Schutz.“ Natürlich war die Einladung von Victor Orbán durch die CSU ein Meilenstein der performativen Symbolpolitik: Eine Demonstration der eigenen Position, klare Botschaft an den rechten Rand und zugleich, wie immer, ein Stachel in das Fleisch der demokratischen Zivilgesellschaft, die einer solchen Geste gegenüber nur ohnmächtigen Zorn zeigen konnte.
Denn nun war man, nach der Latenzperiode und einer zeitweiligen Eindämmung durch die Zivilgesellschaft längst wieder bei der alten Rhetorik der neunziger Jahre gelandet. Obschon die Folgen damals offensichtlich waren und die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben wird, entspricht dies voll und ganz diesem Bayern-Bild eines libertären Paternalismus mit einer konstitutionellen Demokratie und einer populistischen Rückkopplung. Zu einer humanistischen Grundierung der Politik ist damit kein Platz. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann verlangte eine rigidere Politik der „Abschiebung“: „Es ist dringend geboten, die Abschiebungen abgelehnter afghanischer Asylbewerber verstärkt umzusetzen. Wir müssen hier ein deutliches Signal setzen“.
Politik der Symbole
Immer wieder geht es offenbar um das „Signal“ oder „Zeichen“ setzen, und damit ist eben nicht nur die tückische Abschreckung gemeint, sondern auch die Hegemonie eines Welt- und Menschenbildes. Bilder, Symbole und Signale spielen eine bedeutende Rolle in der bayerischen Dreieinigkeit von Flüchtlings-, Identitäts- und Machtpolitik. Ein Signal soll daher denn auch nach der Meinung des CSU-Politiker und innenpolitischen Sprechers der Union, „eine begrenzte, vorübergehende, aber effektive Zurückweisung an der deutschen Außengrenze“ (was seltsamerweise impliziert, Deutschland könne auch so etwas wie eine Innengrenze haben).
Schon im Oktober begann, wie gesagt, Horst Seehofer mit seinen Drohgebärden: „Ministerpräsident Horst Seehofer will in Karlsruhe vor dem Verfassungsgericht klagen, wenn die Zuwanderung nicht begrenzt wird.“ So lauteten die Schlagzeilen. Vizekanzler Sigmar Gabriel warf ihm „Panikmache“ vor. Betont gelassen reagierte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). Er sprach in Erfurt von einer „bayerischen Art und Weise, Dinge vorzutragen“. Was zugleich Abgrenzung und Verständnis „signalisiert“: Auch das wiederum erscheint der Folklorisierung der Politik Vorschub zu leisten, die in Wahrheit harte Interessen- und Machtpolitik darstellt. So macht man sich den „Sepplhut“ zur Tarnkappe. In der Flüchtlingspolitik hat die bayerische Politik einen neuen Hebel gefunden, die deutsche Politik bayerischer zu machen.
Betroffen von der neuen Lust an der „Abschiebung“ sind unter anderem rund 7000 Menschen aus Afghanistan, die mit einer Duldung in Deutschland leben, teilweise seit Jahren. Viele von ihnen sind hier zur Schule gegangen, haben eine Ausbildung begonnen oder hätten einen Ausbildungsplatz in Aussicht. Sie sind gut integriert und haben sich hier ein Leben aufgebaut, so protestiert der Bayerische Flüchtlingsrat. Es sollen mithin gar nicht so sehr „Flüchtlingsströme“ aufgehalten werden, sondern Bayern will Menschen exkludieren und einem höchst ungewissen, gewiss aber gefährlichen Schicksal übergeben, die im Wesentlichen schon auf einem Weg dazu sind, integrierte Bürgerinnen und Bürger zu werden.
Immer wieder weist die Rhetorik darauf hin, dass Bayern nicht bereit sei, den Flüchtlingen den Bürger-Status zu gewähren. Zugleich kündigte Seehofer ein Programm an, mit dem die Integration der Flüchtlinge in Bayern gestärkt werden soll. Dazu sollen 3.772 neue Stellen in Verwaltung, Justiz, Polizei und Bildung entstehen. Allein im Bereich Lehrkräfte seien 1.700 Stellen vorgesehen. Auch die Polizei soll gezielt gestärkt werden. Und er begründete dies nicht etwa mit der Fürsorge für Menschen in Not und in der Hoffnung auf eine Zukunft, sondern: „Damit gewährleisten wir die Sicherheit in unserem Bundesland“, sagte Seehofer vor der Presse und betonte zugleich, keine „Ängste schüren“ zu wollen.
Es ist diese Kunst, etwas zu sagen, und es gleichzeitig auch wieder irgendwie nicht gesagt zu haben, welche den despotischen Populisten als Ausdruck einer konstitutionellen Demokratie instand setzt, Taktiken zu den drei großen Hauptzielen der bayrischen „Staats“-Politik zu entfalten: Die Integration des rechten Randes, die Obstruktion gegenüber der deutschen Regierung (einschließlich der „Schwesterpartei“) und schließlich die Festigung der eigenen Macht und ihres Sonderstatus. Zu dieser gehört auch eine symbolische und reale Herrschaft über die Grenzen. Die bayerische Regierung macht gewiss keine Politik für die Flüchtlinge, sie macht aber auch nicht nur Politik gegen die Flüchtlinge; sie macht Politik mit den Flüchtlingen. Wer indes in die Grenzregionen von Österreich und Bayern kommt, wird bemerken, dass die Bewohner sich mehrheitlich freundlicher gegenüber den Flüchtlingen verhalten als es ihre Regierung tut.
Am rechten Rand
Und was heißt „Sicherheit“ in Bayern? Die öffentliche Rhetorik von Abschreckung, Herabwürdigung und Denunziation scheint schon in sich so unwürdig und unmenschlich, dass sie schier vergessen lässt, dass ungeachtet der beständigen Bemühungen der CSU, den „rechten Rand“ zu integrieren, auch hier eine hetzerische, gewalttätige und kriminelle rechte Szene gegen die Flüchtlinge agiert. 54 Straftaten gegen Asylbewerberunterkünfte wurden im Jahr 2015 (bis zum November) offiziell angezeigt, bei 46 ist der rechtsextreme Hintergrund eindeutig nachgewiesen; in der „Allgäuer Zeitung“ liest sich das so: „Mit den Flüchtlingszahlen stieg in Bayern auch die rechtsextreme Gewalt“; etliche Anzeigen und Festnahmen wurden erst auf Nachfragen eingeräumt; insbesondere in München handeln organisierte Neofaschisten in „Bürgerinitiativen“ gegen „Asylantenheime“. Mitglieder des Vereins „Pegida München“ drangen im Juni gewaltsam in die Bayernkaserne ein, in der 2000 Asylbewerber untergebracht sind.
In diesem Jahr gab es nach Auskunft des Innenministeriums in Bayern fünf Brandanschläge auf Asylunterkünfte. Möglicherweise also ist die Strategie eines Aufsaugens und Moderierens des „rechten Randes“ durch eine „harte“ Sprechart und Praxis gar nicht so erfolgreich, wie man manchenorts meint. „Bei den Tätern, die gefasst werden“, so Innenminister Herrmann gegenüber dpa, „haben wir bundesweit eine Vielzahl von Personen, die der Polizei vorher noch nicht als dem extrem rechten Spektrum zugehörig aufgefallen waren. Das wirft die Frage auf, was sich da entwickelt, ob Menschen bei diesem Thema radikal aktiv werden, die vorher völlig unauffällig waren“. Muss man also die Flüchtlinge schon deswegen abweisen, damit hier nicht unauffällige Menschen plötzlich als radikal aktiv werden?
Und dennoch hält sich die Zustimmung zu den rechtsextremen Inszenierungen und zum Pegida-Ableger mit seinen Vernetzungen in der Hooligan-Szene in Grenzen. Was vielleicht auch mit dem Wesen der Fremdenangst zu tun hat: Mag es in Rostock und Dresden um die Angst vor und den Hass auf fremde Menschen gehen, so geht es in einer reichen und „sicheren“ Region wie Bayern in der Hauptsache um etwas anderes, nämlich um die Angst vor Veränderung. Der einzelne „Fremde“ mag hier vielleicht sogar schneller und nachhaltiger integriert werden als anderswo, auch hier helfen Folklore, Medien und Kultur, so ist er in seiner Funktion als Teil einer sozialen und kulturellen Unruhe, als Widerspruch zum offiziellen und vor allem zum inoffiziellen Machtgefüge gefürchtet. Der „Fremde“ droht hier weniger, er stört.
So wird die „Flut“, „das Problem“, „die Masse“ der Asylbewerber zum Schlüssel in der bayerischen Identitäts- und Machtpolitik. Die hilfesuchenden Menschen, die, objektiv gesehen, und mehr noch in Relation zum allgemeinen Reichtum der Region, in der Tat leicht zu beherbergen wären, werden von dieser Politik für ihre drei Grundziele missbraucht: Die Integration des rechten Randes, die Ausweitung der bayerischen Macht in der Bundesrepublik, und die Festigung der inneren Macht in der konstitutionellen Demokratie und dem bajuwarischen Berlusconismus. Doch das bayerische System des libertären Paternalismus will stets nicht nur den eigenen „Sonderweg“ garantieren, sondern versteht sich immer auch als Modell und „Avantgarde“. Während nach innen mit einer „Entbavarisierung“, der Erosion des bayerischen Sonderwegs, gedroht wird, und es waren schon immer „die Fremden“, die hier als Sündenbock herhalten mussten, wird nach außen mit der Abspaltung gedroht („Bayern kann es auch allein“ heißt ein Buch, für das im vergangenen Jahr auf Werbeplakaten und Litfasssäulen geworben wurde). Deutschland muss, um erhalten und stabil zu bleiben, bayerischer werden. Daraus entstand eine sehr eigene Form der Postdemokratie.
Mehr und mehr kommen aus anderen Bundesländern und vor allem aus der „Schwesterpartei“ CDU mehr oder weniger verhaltene Signale der Zustimmung. Der Tenor lautet: In der Sache habe Seehofer ja vollkommen recht, nur die Form sei etwas daneben. Das freilich ist ein Missverständnis: In der Dreieinigkeit von Flüchtlings- („Fremden“-), Identitäts- und Machtpolitik kommt es ja gerade auf diese Form an, es geht nicht nur um die Ausübung, sondern vor allem um die Demonstration einer Souveränität, die sich so gern auf den Ausnahmezustand beruft. Man schließt immer weiter die Augen vor der Tatsache, dass „das“ tatsächlich zu schaffen ist, und dass die Gefahr nicht von den Flüchtlingen, sondern vom rechten Terror ausgeht, wie auch die bayerische Polizei immer wieder betont.
Moritz von Uslar schrieb in seiner Zeit-Reportage über die Stadt Passau (Die Zeit 45/15), die die meisten Flüchtlinge nicht nur in Bayern, sondern ganz Deutschland aufnimmt: „‚Kontrollverlust‘ titelte der Spiegel vergangene Woche. Nach seinem Besuch in Passau muss der Reporter widersprechen: Hier handelt es sich um die typisch deutsche Hysterie und Lust am Untergang. Das Gegenteil ist der Fall: Passau ist - dank einer Tag für Tag aufs Neue stattfindenden logistischen Meisterleistung - unter Kontrolle. Was die viel zitierte schwindende Motivation der freiwilligen Helfer angeht: Sie arbeiten, mit voller Kraft. Einen schönen Gruß an die Herren Seehofer, Söder und Herrmann; Die öffentliche Ordnung ist, zumindest an diesem Wochenende in Passau, gewährleistet“.
Am selben Ort, an dem heute einige tausend Flüchtlinge eine erste Anlaufstelle finden, in Piding, wurden nach dem Krieg insgesamt zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Osten, „Heimatvertriebene“ auch sie, versorgt.
Die Zivilgesellschaft in Bayern ist also sowohl in der Lage als auch guten Willens, die Flüchtlinge auch in großer Zahl aufzunehmen, zu versorgen und in ein menschen- und bürgerrechtlich grundiertes Leben zu begleiten. Es ist, in Bayern noch offensichtlicher als an anderen Orten, ein Verbund von Politik, Medien und rechten Kräften in der Gesellschaft, die nicht will, dass sie es schafft, die es ihr ausreden und schwermachen möchte. Die Ursachen und Beweggründe für eine solche Obstruktion gegenüber der eigenen Gesellschaft, für eine Politik, die lieber AfD und Pegida „füttert“ (in der Hoffnung an diese die Wählerstimmen vom rechten Rand nicht zu verlieren) liegen in der europäischen Politik (ein Donald Tusk, der ein Europa mit einem Satz gegen die Flüchtlinge zu einen sucht, weil es für die Flüchtlinge nicht zu einigen ist), sie liegen in der bundesdeutschen Politik (die Maizières und Schäubles, die ihre Phantasien von Kontingentierung, Selektionierung und Abschiebung weder politisch noch menschlich maskieren), aber eben auch in der bayerischen selbst.
Bayern hätte ein „Musterland“ für den Umgang mit den Menschen in Not werden können, und es hat nicht nur in den Städten, sondern gerade auch im ländlichen Raum einen großen Teil der Bevölkerung gegeben und gibt sie immer noch, die sich für sie einsetzen und ihnen tätige Hilfe gewähren. Es ist ein Machtkalkül vor allem, der die Regierung Seehofer dazu bringt, gleichsam der eigenen Zivilgesellschaft in den Rücken zu fallen.
Die Fortsetzung der Politik der Abschreckung wird durch eine Politik der Entrechtung, Entwürdigung und Herabstufung gebildet. Der bayerische Flüchtlingsrat hat wiederholt auf die zermürbenden Asylverfahren, die kasernen- und gefängnishafte Unterbringung, die systematische Entmündigung der Flüchtlinge hingewiesen. Es ist die bayerische Verwaltung, die so stur auf der Residenzpflicht beharrt, die Menschen einerseits mehr oder weniger einsperrt, andererseits aber individuelle Betreuung verweigert. Ein entscheidender Faktor ist dabei die medizinische Betreuung. Die Menschen werden nicht einmal auf Folterspuren untersucht, geschweige denn, dass sie in eine allgemeine Gesundheitsversorgung eingebunden würden, auch dies schließlich eine Geste der menschlichen Anerkennung.
August Stich, der Leiter der Tropenmedizin der missionsärztlichen Klinik in Würzburg meinte in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk, er bleibe skeptisch, ob eine „neue Willkommenskultur durch die behördlichen und administrativen Strukturen durchschlägt“. Dieses Skepsis erweist sich als mehr als berechtigt. Welche Chancen hat eine Zivilgesellschaft, die bereit ist, Menschen in Not zu helfen, gegen einen bürokratischen und politischen Apparat, der alles tut, diese Menschen gar nicht als solche zu behandeln? Der Konflikt zwischen zivilgesellschaftlicher Fürsorge und administrativer Abschreckung und Demütigung ist noch nicht entschieden.
„Deutschland braucht das starke Bayern“
Der neue rhetorische Kriegsschauplatz, wiederum geeignet, zugleich in der Flüchtlingspolitik und im Ringen um politische Hegemonie zu wirken, eröffnete sich rund um den Begriff der „Obergrenzen“, der in einem Papier beim CSU-Parteitag im November 2015 eingesetzt wurde, zu dem auch die Bundeskanzlerin eingeladen war. Es ist bekannt, welche politische Inszenierung daraus folgte. Kurz vor der Eröffnung des Parteitages, bei dem er die Kanzlerin auf solch drastische Art „vorführte“, erklärte Horst Seehofer noch: „Wir sind anständige Gastgeber“ (so wurde es jedenfalls von Teilnehmern der Vorstandssitzung in München der Presse kolportiert). Aber dann kam es doch zu jener denkwürdigen Szene, in der es einen Seehofer-Auftritt im Beisein der Kanzlerin gab, der von „Demütigung“ nicht weit entfernt war.
Auch die Flüchtlinge also waren fester Bestandteil im „ewigen“ Kampf um den Sonderweg geworden. Das Papier, in dem die Obergrenze-Forderung aufgestellt war, und von deren symbolischer und unpraktikabler Natur jeder überzeugt sein konnte, trug nicht umsonst das Motto: „Deutschland braucht das starke Bayern“1. Der Druck, der dabei aufgebaut wird, in der Politik wie in den Medien, erzeugt einen Mainstream-Sog nach rechts. Selbst wenn der Seehoferismus in der praktischen Politik nicht vollständig triumphieren kann, so triumphiert er in einer Hegemonie der Diskurse. Die performative, paternalistische Symbolpolitik der bayerischen Regierung und ihrer Partei (oder umgekehrt) bestimmt in hohem Maße darüber, wie über Flüchtlinge gesprochen wird. Herrschaft über Menschen beginnt mit der Herrschaft über die Sprache.
Während die Bundesregierung eine europäische Lösung und insbesondere einen „Deal“ mit der Türkei anstrebte, wollte die CSU will wieder einmal schneller sein: „Deutschland muss jetzt ein Signal aussenden, dass unsere Kapazitätsgrenzen bereits erreicht sind“, verlangen Seehofer und die CSU. (Schon wieder das ominöse Signal!) „Deshalb soll Deutschland für nächstes Jahr ein Kontingent für Bürgerkriegsflüchtlinge entsprechend seiner leistbaren Kapazitäten festlegen.“ Natürlich hütet man sich davor, eine konkrete Zahl zu nennen, denn damit würde die völker- und menschenrechtliche Absurdität einer „Obergrenze“ nur allzu deutlich. Worum es geht ist viel eher ein Schauspiel der Kontrolle. Man beweist und stärkt seine Macht (im „Ausnahmezustand“), indem man Grenzen „sichert“, Lager errichtet, Selektionen durchführt, Abschiebungen organisiert, und schließlich das „Problem“ quantifiziert. Dass es keinen Plan und nicht einmal einen Willen dazu gibt, die Integration der Flüchtlinge zu bewerkstelligen, lenkt man das Hauptaugenmerk auf ihre Zahl. Nur Zahlen kann man kontrollieren. Aber es geht nicht um Zahlen, sondern um Menschen.
Ein Ausdruck bayerischer Schwäche
Neben der Quantifizierung und der Herabstufung der Flüchtling in ihrem Status (man könnte die bayerische Politik gegenüber jenen, die man weder abschrecken noch abschieben kann, einfach beschreiben: Forderung nach Integration bei gleichzeitiger Verweigerung oder Sabotage aller Dinge und Prozesse, die dafür notwendig sind) spielt das Schauspiel der Kontrolle eine wichtige Rolle: „Wir wollen wissen, wer durch unser Land fährt“, verkündet Seehofer (und raunt etwas von einer Festnahme, die in Zusammenhang mit den Anschlägen in Paris stehen soll). Dabei (re-)konstruiert er im Nebenhinein jenen dubiosen Souverän, der durch seine Pathosformel einer „Koalition mit dem Volk“ imaginiert wird. Dieser postdemokratische Souverän scheint es auf nichts anderes abgesehen zu haben, als die Demonstration seiner Verfügungsgewalt und seine allseits bedrohte Sicherheit. Ungleich ernster wiederholt sich die Posse um die Autobahnmaut „für Ausländer“ als symbolische Konstruktion dieses populistischen Souveräns, der alles „kontrolliert“, was „durch sein Land fährt“. So wird, in der bayerischen Version, der Flüchtling zum Objekt einer Machtkonstruktion.
Wirklich verstehen kann man diese Konstruktion indes nur, wenn man sie nicht nur als Ausdruck einer bayerischen Stärke, sondern gerade der Schwäche ansieht. Der barocke Machtmensch, den der bayerische Sonderweg der konstitutionellen Demokratie und des libertären Paternalismus in immer neuen Varianten hervorbringen muss, leidet, wie sein „Koalitionär“, das, was man sich als „Staatsvolk“ vorstellen mag, darunter, dass seine Machtfülle für das eigene Land eigentlich zu groß ist, für eine entscheidende Position in der deutschen Zentralmacht aber dann doch wieder nicht ausreicht.
Die Folge ist ein Schwanken zwischen Größenwahn und gekränktem Narzissmus. Anders gesagt: Die Machtverhältnisse ebenso wie die semantische und ikonographische Vermittlung derselben finden in Bayern nie zu einem harmonischen Maß. Und so entspricht auch die Ablehnung des Fremden am ehesten einer Unsicherheit in der Selbstidentifikation. Man will die anderen nicht, weil man gar nicht genau weiß, wer man eigentlich selber ist (ein Volk von Flüchtlingen, das über Jahrhunderte von „Völkerwanderungen“ entstanden ist, und in dem, unter anderem, syrische Legionäre des römischen Imperiums ihre genetischen Spuren hinterlassen haben, so könnte es der Biohistoriker ironisch formulieren).
Seehofer hat vordem eine traditionelle Form der Macht verwendet, indem er die Flüchtlingsfrage zum Schalter für den Ausnahmezustand erklärte. Er bediente sich dabei einer doppelten Erpressung, zum einen durch den Druck auf den Ausnahmezustand als Herrschaftsinstrument, zum anderen durch die Drohung, die CSU-Minister aus der Regierung abzuziehen. solle der Forderung nach der „Obergrenze“ nicht Folge geleistet werden. Diese „Obergrenze“ ist natürlich ausgesprochen symbolpolitisch zu verstehen. Sie verspricht eine äußere, eine quantifizierte Kontrolle, die es im inneren nie gegeben hat. Bayern, so sagt man gelegentlich, sei ein Land, das zwar wenig Demokraten, aber eine erkleckliche Anzahl von Anarchisten hervorbringe. Das ist am ehesten eine Metapher für einen besonderen Zustand der Regierbarkeit.
„Flüchtlingspolitik“, nicht nur in Bayern, aber hier in besonders deutlicher Form, ist eine Funktion von Regierbarkeit. Die Macht verspricht dem Volk, es vor dem Fremden zu schützen. Aber in Wahrheit versucht die Macht, sich vor dem Volk zu schützen, das sich durch die Fremden verändern könnte.
Weitere Beiträge zur Flüchtlingspolitik in Bayern finden Sie auf der Länderseite unseres Dossiers "Wie schaffen die das? Die Flüchtlingspolitik der Länder" (zur Startseite).