Warten, was als Nächstes kommt

Dad what is democracy? Protest in Budapest gegen die Orbán-Regierung und ihre auferlegte Internet-Steuer, Oktober 2014
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Proteste in Budapest im Oktober 2014

Regierungskritische NGOs in Ungarn stehen unter permanentem Druck der Regierung. Besonders Frauenrechts- und LGBTI-Gruppen sind vielfach von Diskriminierungen betroffen.

"NGOs wie die unsere waren noch nie das Steckenpferd irgendeiner ungarischen Regierung. Aber eine derart offene, aggressive Unterdrückung hat es nach 1990 noch nie gegeben", sagt Dorottya Rédai von der Frauenrechtsorganisation Labrisz Leszbikus Egyesület in einem Interview über die schwarze Liste "problematischer" NGOs. Die ungarische Regierung hatte im Mai 2014 13 der wichtigsten Nichtregierungsorganisationen verschärften staatlichen Kontrollen unterworfen. Kurze Zeit später bezeichnete Regierungschef Viktor Orbán in einer Ansprache in Rumänien Vertreter/innen von NGOs als "bezahlte politische Akteure", die versuchten, in Ungarn "ausländische Interessen durchzusetzen".

Auf der Liste waren ausnahmslos Nichtregierungsorganisationen aufgeführt, die sich seit Jahren für eine pluralistische, unabhängige Zivilgesellschaft engagieren – unter ihnen die führende Bürgerrechtsorganisation TASZ, das ungarische Wiki-Leaks atalatszo.hu, die Roma-Presseagentur Roma Sajtóközpont, Transparency International Ungarn, die gesellschaftskritische Theatergruppe Krétakör, Hotlines für Gewaltopfer, Frauen- und LGBTI-Organisationen sowie der Budapest Pride.

Gegen ein liberales Gesellschaftsverständnis

Seit die Fidesz-Partei von Viktor Orbán bei den Parlamentswahlen 2010 mit einer Zweidrittelmehrheit ins Parlament gewählt wurde, schränkt sie systematisch den Pluralismus und die Meinungsvielfalt in Ungarn ein. Die heftig umstrittene neue Verfassung, die ohne die Zusammenarbeit mit der demokratischen Opposition verabschiedet wurde, wird die Unabhängigkeit der Medien ebenso beschnitten wie die des Verfassungsgerichts. Sie kriminalisierte Obdachlose und definierte in einem neuen Passus die Familie als eine Verbindung zwischen Mann und Frau.

In der schon erwähnten Ansprache in Rumänien brachte der ungarische Regierungschef Viktor Orbán im Juli 2014 sein Verständnis von Staat und Gesellschaft auf den Punkt: Das westliche Demokratiemodell habe ausgedient. "Wir müssen mit liberalen Grundsätzen und Methoden, mit dem liberalen Gesellschaftsverständnis an sich brechen", sagte er. Stattdessen strebe Ungarn jetzt den Aufbau eines "illiberalen Staates" an.

Razzien gegen NGOs: "Wir sind auf der Hut"

Im September 2014 wurden im Rahmen einer Polizei-Razzia bei der NGO DemNet und der Ökotárs-Stiftung sowie bei einer anschließenden Hausdurchsuchung bei der Ökotárs-Vorsitzenden Veronika Móra, Unterlagen und Computer beschlagnahmt. Es bestehe der Verdacht der Untreue und illegalen Kreditvergabe, so die Begründung der Kontrollbehörde der Regierung KEHI. DemNet und Ökotárs vergeben an ungarische NGOs Gelder der EEA/Norway Grants.

Zivilgesellschaftliche Akteur/innen in Ungarn sahen in dem Vorgehen der Regierung einen gezielten Angriff der Orbán-Regierung gegen die ungarische Zivilgesellschaft. Führende Bürgerrechtler/innen wie Stefánia Kapronczay, Geschäftsführerin der Bürgerrechtsorganisation TASZ, zogen Parallelen zum Putin-Regime. Der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muižnieks, kritisierte, die ungarische Regierung stelle mit ihrer "stigmatisierenden Wortwahl die Rechtmäßigkeit von NGOs infrage".

Die Rechtsverfahren gegen Ökotárs und weitere NGOs wurden Ende 2015 aufgrund einer Einigung zwischen den norwegischen Fonds und der ungarischen Regierung eingestellt. Veronika Móra, die Vorsitzende, glaubt jedoch nicht, dass die Anti-NGO-Kampagne der Regierung damit beendet ist. "Im Moment können wir zwar normal arbeiten, aber wir sind ebenso wie andere NGOs in Ungarn auf der Hut und warten, was als Nächstes kommen wird", sagte Móra gegenüber dem Prager Büro der Heinrich-Böll-Stiftung im April 2016.

Keine Gleichstellung von LGBTI

Auch der UN-Sonderberichterstatter zur Situation von Menschenrechtsverteidigern, Michel Forst, zeigte sich bei einem mehrtägigen Besuch in Ungarn Mitte Februar 2016 besorgt über die Situation von NGOs in Ungarn. Trotz der Einstellung der Rechtsverfahren würden NGOs nach wie vor als ausländische Agenten stigmatisiert, es gebe viele rechtliche Hürden bei der Registrierung von NGOs. Speziell Frauenrechts- und LGBTI-Gruppen seien zudem zahlreichen Formen von Diskriminierung ausgesetzt, ihre Veranstaltungen fänden häufig in einer «Atmosphäre der Angst» statt, heißt es in dem Bericht des UN-Sonderberichterstatters.

Im März 2016 legte Ungarn als einziges EU-Land Veto gegen einen Maßnahmenkatalog der niederländischen EU-Ratspräsidentschaft ein, mit dem die Gleichstellung von LGBTI in der EU vorangetrieben und Diskriminierung abgebaut werden soll. Die ungarische Regierung lehnte die Initiative mit der Begründung ab, Ungarn sei "nicht in der Position", einem Maßnahmenkatalog zuzustimmen, der die Gleichstellung der LGBTI-Community begünstige.

Dieser Artikel ist ein Beitrag aus unserem Dossier: "Es wird eng – Handlungsspielräume für Zivilgesellschaft". Er erschien bereits im Böll.Thema 1/2016: Die Würde des Menschen. Ein Heft über Menschenrechte.