Koproduktion nachhaltiger Städte: Damit niemand außen vor bleibt

Bürgergemeinschaften im globalen Süden beteiligen sich zunehmend an den Aufgaben des Staates, weil sie ihm nicht die Verantwortung für ihre eigene Versorgung überlassen wollen. Denn: Sinkt die Bürgerbeteiligung, nehmen auch die Versorgungsleistungen ab. Diana Mitlin erkundet ein radikales Konzept der Partizipation.

Bhanu Ben Jadav mischt Zement in einem Haus, das renoviert wird.
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Bei der Arbeit: Hausrenovierung in Indien

Urbane Wirklichkeiten sind umstritten, und Stadtpolitik ist es auch. Es wurden erhebliche Anstrengungen unternommen, um eine demokratische Verwaltung von Städten zu erreichen. Das Versagen der Regierungen hat neue Anstrengungen inspiriert – darunter Bemühungen um eine partizipative Regierungsführung. Die Verfechter/innen einer radikalen sozialen Produktion sind der Auffassung, dass soziale Gerechtigkeit, Umverteilung und eine effektive Regierung nur erreicht werden können, wenn einkommensschwache und auf andere Weise benachteiligte Bürger/innen sich in die tägliche Realität der Entwicklung einbetten und eng mit den Behörden zusammenarbeiten um sicherzustellen, dass ihre Belange und Interessen Berücksichtigung finden.

Diese tägliche Arbeit ist strategischer Natur: Sie sorgt für die Basisorganisationen, die die Demokratie von unten aufbauen können, sowie die Voraussetzungen, um den Staat zur Rechenschaft zu ziehen und das Potential für eine Übernahme durch die Eliten zu minimieren.

Mein Artikel vertritt die These, dass soziale Produktion eine unverzichtbare Komponente einer inklusiven Stadtgestaltung darstellt. Unverzichtbar aus drei Gründen:

•    als Korrektiv für negative Identitäten aufgrund niedriger Einkommen und Armut
•    um sicherzustellen, dass die Bereitstellung von Versorgungsleistungen die Bedürfnisse der am stärksten benachteiligten Gruppen berücksichtigt, die bisher nicht in den Genuss der besagten Leistungen kommen
•    zwecks Aufbau von Nachbarschaftsorganisationen, die dazu fähig sind, die Interessen der benachteiligten Gruppen zu vertreten

Joshi und Moore (2004) definieren institutionalisierte soziale Produktion als „Bereitstellung von öffentlichen Diensten (weit gefasst, um Regulierung einzuschließen) durch reguläre, langfristige Beziehungen zwischen staatlichen Stellen und organisierten Bürgergruppen, wobei beide Seiten erhebliche Ressourcenbeiträge leisten“ (S. 40). Dieser Beitrag stützt sich auf Mitlin (2008) und Watson (2014) mit dem Schwerpunkt auf einer bürgergesteuerten sozialen Produktion, in der organisierte Gruppen der Bewohner/innen informeller Siedlungen die Leitung in der Gestaltung von Systemen für sozial produzierte Leistungen übernehmen.

Ein Versagen der Regierung – Umfang und Natur informeller Siedlungen

Die Sustainable Development Goals (SDGs) stellen ein weltweites Eingeständnis dar, dass die Vernachlässigung im bestehenden Umfang beendet werden muss. Im Jahr 2015 lebten Schätzungen zufolge 863 Millionen Menschen in informellen Siedlungen ohne ausreichende Behausung und adäquate Versorgungsleistungen. Die Lebensbedingungen in den informellen Siedlungen zu verbessern stellt weiterhin eine globale Herausforderung dar. Informelle Siedlungen sind gekennzeichnet durch unsichere Rechtsverhältnisse und mangelnden Zugriff auf Grundversorgung (insbesondere Wasser und Sanitärleistungen) sowie eine unzureichende Wohnqualität und Übervölkerung.

Dem Joint Monitoring Program (JMP) zufolge verfügten im Jahr 2015 in den „am wenigsten entwickelten Ländern“ lediglich 32 Prozent der Stadtbevölkerung über einen Wasseranschluss (Satterthwaite, 2016). Doch sogar diese Statistik vermittelt ein geschöntes Bild, da häufig kein Wasser durch diese Rohre fließt, wodurch – abgesehen von der fehlenden Versorgung – auch das Problem der unzureichenden Wasserqualität noch verschärft wird.

Die Statistiken über den Zugang zu Sanitärversorgung im Afrika südlich der Sahara weisen für den Zeitraum von 1990 bis 2015 so gut wie keine Verbesserung auf: Es konnte ein Anstieg um lediglich einen Prozentpunkt von 39 auf 40 Prozent verzeichnet werden (WHO und UNICEF 2015). Überregional verfügten der Einschätzung des JMP zufolge im Jahr 2015 47 Prozent der Bevölkerung in den „am wenigsten entwickelten Ländern“ über Zugang zu „verbesserten“ Sanitäreinrichtungen (ebd.).

Allerdings zeigt die Definition von „verbessert“, dass diese Zahlen die Enge außer Acht lassen, in der die Menschen zusammenleben sowie auch die damit verbundenen Herausforderungen an das Fäkalschlamm-Management und andere Aspekte dicht besiedelter Gebiete, wie sie in vielen Städten und Großstädten des Globalen Südens häufig vorkommen (Satterthwaite, Mitlin und Bartlett 2015). Diese globale Herausforderung ist immens.

Regierungsbehörden scheitern an der Einbindung von Bürgern

Einkommensschwache Gruppen sehen sich nicht nur materieller Deprivation und fehlendem Zugang zur Grundversorgung ausgesetzt; ihnen wird aufgrund ihres niedrigen sozialen Status auch häufig der Zugriff auf benötigte Leistungen verwehrt. Dies hat eine ganze Reihe von Auswirkungen. Zum Beispiel benutzen die Bewohner/innen informeller Siedlungen häufig andere Adressen, wenn sie sich um eine Stellung bewerben, um Stigmatisierung durch den Arbeitgeber und besser gestellte Mitarbeiter zu vermeiden.

Viele Regierungsbehörden erkennen inzwischen den Wert der Partizipation und die Bedeutung lokaler Eigenverantwortung an. Ihnen fehlen jedoch die Instrumente und Herangehensweisen, die nötig wären, um die Bevölkerung in Pläne und vorbereitende Arbeiten einzubeziehen. Formale Einladungen zu öffentlichen Konsultationen erfüllen ihren Zweck nicht. In vielen Fällen hat die Beteiligung nur Alibicharakter; in anderen sind Behördenmitarbeiter nicht bereit, ihre Bedeutung anzuerkennen.

Auf Projektmitarbeitern lastende Beschränkungen – etwa der Druck, ein Projekt möglichst schnell und/oder mit so wenigen zusätzlichen Kosten wie möglich fertigzustellen – führen ebenfalls dazu, dass Anwohner/innen von den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen werden. Aus welchem Grund auch immer: An Beispielen für schlecht geplante oder ausgeführte Projekte herrscht kein Mangel.

So werden Wasserentnahmestellen am falschen Ort eingerichtet, sind aufgrund von viel befahrenen Straßen für Kinder nur unter Gefahren zu erreichen oder werden durch einflussreiche Gruppen übernommen, die vom Verkauf des Wassers profitieren. Andernorts wird das Problem des niedrigen Wasserdrucks nicht ausreichend beachtet, Wasserverkaufsstellen haben ungünstige Öffnungszeiten oder die verlangten Preise sind unerschwinglich.

Angesichts dieser Situation haben organisierte Bürgergemeinschaften sich darauf verlegt, einen Ansatz zu entwickeln, der einen Eingriff von Nachbarschaftsvereinigungen in die Ausweitung der Bereitstellung kommunaler Dienste vorsieht und die Grundversorgung zum Gegenstand sozialer Produktion in Zusammenarbeit mit der Regierung macht; eine Herangehensweise, die sich als effektiv erwiesen hat.

Warum Bürgergemeinschaften sich an den Aufgaben des Staats beteiligen wollen

Shack/Slum Dwellers International und die Asian Coalition for Housing Rights, zwei führende zivilgesellschaftliche Netzwerke mit umfangreichem Mitgliederstamm in informellen Siedlungen in Afrika und Asien haben beide Interventionsmodalitäten für bürgergesteuerte soziale Produktion entwickelt.

Shack/Slum Dwellers International (SDI) ist ein Netzwerk frauengeführter Sparvereinigungen in informellen Siedlungen, die sich auf Stadt- oder nationaler Ebene zusammengeschlossen haben. SDI ist in 33 Ländern aktiv, von denen 15 über nationale Verbände verfügen. Das Netzwerk unterstützt die Sparmodelle durch die Förderung des Erfahrungs- und Ideenaustauschs zwischen den einzelnen Gemeinschaften und des Aufbaus von Solidarität.

Zu seinen Aktivitäten zählen die Dokumentation der Geschichte, Bedingungen und Kapazitäten der informellen Siedlungen; örtliche, stadtweite und nationale Darlehensfonds; sowie Musterprojekte, mithilfe derer erforderliche Verbesserungen ermittelt werden können, und die diese bevorzugten Investitionen für Regierungsbehörden veranschaulichen. Die Asian Coalition for Housing Rights (ACHR) ist ein Dachverband verschiedener zivilgesellschaftlicher Gruppen, die sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen in Städten und Großstädten Asiens engagieren.

Der Verband unterstützt Organisationen auf der Basis frauengeführter Sparvereinigungen insbesondere durch sein ACCA-Programm („Asian Coalition for Community Action“), das eine breite Palette an Aktivitäten und Investitionen mit dem Ziel fördert, die Lebensbedingungen in informellen Siedlungen zu verbessern. Gezielte Investitionen in Wohnraumbeschaffung sind darauf angelegt, Lokalregierungen über Partnerschaftsprojekte einzubinden.

Drei wichtige Ansätze für erfolgreiche Bürgerpartizipation

Eine Analyse des Ansatzes bürgergesteuerter sozialer Produktion verschafft hilfreiche Einblicke (Boonyabancha und Mitlin 2012, Satterthwaite und Mitlin 2014). Drei Gründe erweisen sich als besonders bedeutsam.

1. Bekämpfung negativer Darstellungen: Die Zurückweisung negativer Darstellungen auf der Basis von Geschlecht, Alter oder ethnischer Herkunft hat sich mittlerweile durchgesetzt. Doch es ist selten, dass negative Stereotype über einkommensschwache Menschen oder die Bewohner/innen informeller Siedlungen in Frage gestellt werden. Einkommensschwache Gruppen werden in der Tat regelmäßig als „arm“ bezeichnet – trotz der diesem Begriff inhärenten mehrdeutigen Auslegungen.

Ressourcen zu sammeln und zu Lösungen beizutragen, die ihren Bedürfnissen Rechnung tragen, ist eine wirkungsvolle Methode, solchen negativen Sichtweisen entgegenzuwirken. Kleine individuelle Ersparnisse können im Lauf der Zeit zu einem nicht unerheblichen „Topf“ kombiniert werden und ermöglichen es den Bewohner/innen der Siedlungen, in einem Kontext, in dem Wert mit Finanzkraft assoziiert wird, ernst genommen zu werden.

2. Entwicklung tragfähiger Lösungen: Wenn Bürgergruppen der Raum gegeben wird, ihre eigenen Lösungen zu entwickeln, können sie physische Strukturen und soziale Verfahren testen und verbessern, die ihren Anforderungen gerecht werden. Eine derartige Produktentwicklung ist grundsätzlich kosteneffizient, denn die Bewohner/innen informeller Siedlungen können es sich gar nicht leisten, Ressourcen zu vergeuden.

Neben der physischen Konstruktion müssen sie auch die Verwaltung und Wartung der Einrichtungen planen. Durch die gemeinschaftliche Produktion mit dem Staat sind sie dann in der Lage, ihre Arbeit auf einen größeren Rahmen zu übertragen. Dabei haben die Gemeinschaften die Erfahrung gemacht, dass es wichtig ist, die Verantwortung nicht auf den Staat zu übertragen, da ansonsten sowohl die Bauqualität als auch die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass die Versorgungsleistungen aufrechterhalten werden.

3. Armutsmindernde Politik wird sich kontinuierlich den sich wandelnden Anforderungen anpassen müssen: Seit Jahrzehnten arbeiten die Verfechter/innen sozialer Gerechtigkeit und besserer Verteilung daran sicherzustellen, dass Regierungen gewählt werden, die dieser Perspektive positiv gegenüberstehen, und dass Gesetze und Berechtigungen einen Rahmen schaffen, der den schwierigen Aufgaben des Schutzes der Bedürftigsten und des universellen Zugriffs auf die Grundversorgung gerecht wird.

Für viele der Bewohner/innen informeller Siedlungen haben diese Ansätze bisher keine Ergebnisse gezeitigt. Verbände der Bewohner/innen informeller Siedlungen versuchen nun, die parlamentarische Demokratie durch horizontal verknüpfte Bürgerorganisationen zu ergänzen, die ihre Partizipation erleichtern. Die in den Netzwerken von SDI und ACHR zusammengeschlossenen Verbände unterstützen transparente und repräsentative Nachbarschaftsorganisationen.

Sie arbeiten auf kommunaler und nationaler Ebene zusammen, um sicherzustellen, dass die Belange und Interessen der Bewohner/innen informeller Siedlungen und anderer einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen Berücksichtigung finden. Aus Sicht dieser Netzwerke stellt soziale Produktion einen radikalen Politikansatz dar, der befähigten, von örtlichen Aktivist/innen geleiteten lokalen Gruppen eine starke Identität und ein Netzwerk aus lokaler Verantwortlichkeit auf der Basis der Bereitstellung von Leistungen verschafft, die das Leben ihrer Mitglieder verbessern.

Dieser Artikel ist Teil unseres Dossiers: Habitat III - Nachhaltige Stadtentwicklung.

Quellen:
Boonyabancha, S. und D. Mitlin (2012). "Urban poverty reduction: learning by doing in Asia." Environment and Urbanization 24(2): 403-422.
Joshi, A. und M. Moore (2004). "Institutional co-production: Unorthodox public service delivery in challenging environments " The Journal of Developing Studies 40(4): 31-49.
Mitlin, D. (2008). "With and beyond the state: coproduction as a route to political influence, power and transformation for grassroot organizations." Environment and Urbanization 20(2): 339-360.
Satterthwaite, D. und D. Mitlin (2014). Reducing Urban Poverty in the Global South. London und New York, Routledge.
Watson, V. (2014). "Co-production and collaboration in planning – The difference." Planning Theory and Practice 15(1): 62-76.