Böll lesen in Beirut

Blickwinkel

Wird Heinrich Böll auch im Nahen Osten gelesen - wenn ja, warum? Diese Fragen stellte Bente Scheller Schriftsteller/innen, Professor/innen und Künstler/innen. 

Plakate einer Veranstaltung in Beirut zum 100. Geburtstag Heinrich Bölls

In der dunklen Jahreszeit gibt es wenig bessere Orte als Beirut. Auch wenn die Temperaturen sinken, hebt der strahlend blaue Himmel zuverlässig die Laune, und sobald die Sonne einmal untergeht, erstrahlt die Stadt im Schein einer überwältigenden Weihnachtsbeleuchtung. Jenseits aller politischen Differenzen sind sich am Ende alle einig: wenn es etwas zu feiern gibt, dann lässt man sich nicht lumpen. Was für ein Rahmen für unsere Festivitäten anlässlich des 100. Geburtstages unseres Namensgebers!

Heinrich Böll, man muss es ehrlich sagen, ist in der arabischen Welt nicht der bekannteste deutsche Literat. Das ist auch dem Umstand geschuldet, dass insbesondere im Libanon mit seiner noch nicht lange zurückliegenden Kriegserfahrung der Wunsch groß ist, die Wunden des Kriegs vergessen zu machen anstatt sich mit dessen Wirrungen und Verwüstungen, den menschlichen Schicksalen und moralischen Abgründen zu befassen. 

Wir haben das Jubiläum daher zum Anlass genommen, zunächst einmal herauszufinden: wer liest Böll hier heutzutage? Welche seiner Werke werden gelesen - und warum?

"Ein objektiver, nüchterner Erzähler, der etwas Außergewöhnliches zu berichten hat"

Sowohl für Nicole Hatem als auch Jad Hatem, beide Professor*innen an der Univesité Saint-Joseph in Beirut, ist ein, wenn nicht der zentrale Anknüpfungspunkt, das Religiöse.

„Der erste Roman, den ich von Heinrich Böll gelesen habe, vielleicht wegen seines großen Erfolgs, war ‚Die verlorene Ehre der Katharina Blum‘. Ich habe diese Frau noch lange im Gedächtnis behalten, die nur deshalb auf der Anklagebank saß, weil die Ermittler sich nicht erklären konnten, was sie in einem ‚ungeklärten Zeitraum‘ in ihrem Auto machte – obwohl sie die Zeit schlichtweg im Gebet verbrachte,“

erläutert Nicole Hatem, Philosophin und selbst schriftstellerisch tätig.

„Ich habe dieses Beispiel im Folgenden noch oft herangezogen, um meinen jungen Studierenden zu zeigen, worin die Schwierigkeit, um nicht zu sagen, die Unmöglichkeit darin besteht, auch dann noch verstanden zu werden, wenn man sich auf einer anderen Ebene als der des ‚Machens‘ und des Rationalen bewegt.“

Sie verbindet dies mit einer Auffassung von Gebet, die in ihrem Leben einen großen Stellenwert besitzt:

„Beten heißt, Zeit mit Gott zu verbringen. In einer Welt, in der unser Dasein zeitlich genau vermessen ist, muss das eine außergewöhnlich befreiende Idee sein.“

Für Nicole Hatem, ist Zeit, verbracht auf diese Art und Weise, nicht verschwendet, nicht verloren, sondern wohl investiert.

„Wenngleich für Katharina die verlorene Zeit mit verlorener Ehre einhergeht. Aber das ist vielleicht die unvermeidliche Dramatik eines Vergleichs zwischen dem authentisch Religiösen und einer rein sozialen Ethik.“ 

Jad Hatem, Literaturprofessor und Theologe, erzählt:

"Für Böll habe ich mich zugegebenermaßen deswegen interessiert, weil er Katholik ist. Böll war ein katholischer Autor in einem Land, in dem die Intellektuellen nicht mehrheitlich katholisch sind.“ 

Im Libanon sei die Verbindung zwischen dem, was man schreibe und welcher Religion man angehöre, überaus wichtig. Das heiße nicht, dass er keine protestantischen Autoren lese, doch wie Bölls Glaube sich in seinem Werk widerspiegele, habe ihn fasziniert:

„Mir ist bewusst, dass Heinrich Böll auch etwas Anarchistisches hatte. Er hatte seine Meinungsverschiedenheiten mit der Kirche und hielt damit nicht hinter dem Berg, wenn auch in einem bestimmten Rahmen. Für mich zeugt das von besonderer Größe.“

Jad Hatem hat sich insbesondere mit dem Roman „Gruppenbild mit Dame“ auseinandergesetzt, obwohl er das keinesfalls als Bölls „katholischstes“ Werk sieht:

„Das Buch ist gleichzeitig als Text des Realismus und des Idealismus verfasst. Der Autor hat eine positivistische Wahrnehmung und handelt hier fast wie ein Soziologe, der über Angelegenheiten der Metaphysik oder des Übernatürlichen schreibt.“

Das ergebe einen absolut außergewöhnlichen Stil:

„Leni Gruyten ist eine Heilige. Alle sind fasziniert von ihr. Sie versuchen, ihr Leben als Vorbild zu nehmen und zu sehen was sie sagt und tut … um genau zu sein: Es sind lediglich vier Seiten, in denen sie selbst zu Wort kommt. So wirkt es wie ein Evangelium, und zwar ein Evangelium, in dem der Autor die Dinge genauer beschreibt als Johannes, Markus … Das ist keine Heiligenlegende wie im Mittelalter, in der das Leben der Heiligen überirdisch und erfüllt von Wundern ist. Hier haben wir einen objektiven, nüchternen Erzähler, der etwas Außergewöhnliches zu berichten hat. Für mich ist das wie ein vom Geist des 20. Jahrhunderts erfülltes Evangelium.“

Die Verbindung des Religiösen und Anarchistischen sieht er auch darin, dass die Figur Leni gleichzeitig eine „reine Seele“ und subversive Figur sei:

„Subversiv, weil sie sich nicht den geltenden Gesetzen und Konventionen unterwirft – ganz offensichtlich nicht den nationalsozialistischen Gesetzen, aber auch nicht denen der Bundesrepublik. Sie ist unfreiwillig subversiv, einfach dadurch, wie sie ist. Ihre außerordentliche Reinheit ist skandalös, dafür gibt es keinen Platz auf Erden … die schöne Seele, die von sich aus nichts Böses tut – aber nicht, weil sie den kategorischen Imperativ befolgt: die schöne Seele richtet sich nicht nach dem Gesetz sondern handelt natürlich, spontan.“

"Ich verstand, dass es möglich ist, Böll als 'christlichen Anarchisten' zu betrachten."

Diese inhaltliche Bandbreite ist auch für Nicole Hatem essentiell:

„‘Wir kommen von weither und müssen weit gehen‘ – Kein anderer Satz schien mir so gut dieses Gefühl auszudrücken, das man haben kann, wenn man sich die eigene Existenz als ‚Reise über die Erde‘ bewusst macht. Gleichzeitigen schafft es dieser Satz, einem Kind (weil Böll diesen Satz an seine Enkel richtetet) eine Aussage begreiflich zu machen – einem Kind, mit dem man eben auch über das berühmte ‚woher wir kommen und wohin wir gehen‘ und die Notwendigkeit einer (wenn auch nur augenblicklichen) Trennung von denen, die einem nahestehen, und der Welt wie sie einem vertraut ist, sprechen muss.“

Doch wie steht es  um die politische Seite Bölls? Böll selbst verstand sich als unbequemer Intellektueller und engagierter Künstler, doch Nicole Hatem ist sich nicht sicher, was diese Seite von Bölls Wirken betrifft:

„Ich gebe zu, dass ich Probleme hatte, zu verstehen, wie Böll sich zur Frage des Terrorismus positioniert hat. Als ich danach die Werke von Maurice Clavel las, verstand ich, dass es möglich ist, beide als christliche Anarchisten zu betrachten.“ 

Auch Jahrzehnte nach den großen Debatten um Bölls politische Standpunkte wird er als  kontroverser, nahezu widersprüchlicher, Denker gesehen. 

„Zeitzeuge einer Epoche der weltweiten Unterdrückung der Menschen, die andauert“

Abdullah al-Kafri, syrischer Theaterautor und Regisseur sieht hierbei gerade die Debatte als eine wichtige Reibungsfläche:

„Bölls Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Fragen, ist eine Inspiration in dieser Zeit, in der wir das Gefühl haben, dass das, was sich tatsächlich abspielt, so viel monströser ist, als die Vorstellungskraft erlaubt - dass die Realität die Fiktion überholt.“

Auch Qassim Haddad, Schriftsteller und Mitgründer des PEN-Clubs in Bahrain, sieht übergreifende Motive, die Bölls literarisches und politisches Schaffen in einen Zusammenhang mit der arabischen Welt setzen. Den Zugang hierzu fand er während eines Schreibaufenthalts im Böll-Haus in Langenbroich in, wo er - wie er es beschreibt - in „ein tiefes, dunkles Zwiegespräch“ mit dem deutschen Autor trat. Das Gemäuer, das Holz in Heinrich Bölls Wohnhaus zu berühren, seinen Spuren nachzuspüren, hat ihn inspiriert, sich mit dem Motiv des Hauses in Heinrich Bölls Romanen zu befassen. Zu dem Gefühl der Verbundenheit, das ihn ergriffen hat, schreibt er:

“Tag für Tag nahm dieses Gefühl zu, und insbesondere, nachdem ich  die Fotos meiner Tochter von unserem Aufenthalt dort gesehen hatte, wurde ich magisch in diesen Dialog gesogen. Unser gemeinsamer Wunsch – der meiner Tochter Touful und mir – war, eine Hommage an diesen Autor zu verfassen, der uns in seinem Haus, das er zweifelsohne viel zu früh verlassen hatte, empfing.“

Die größten Gemeinsamkeiten zwischen Bölls Werk und der arabischen Welt sieht er im Menschlichen:

„Das, was sich in der Lebendigkeit unserer arabischen Realität ausdrückt, jetzt, da wir das tiefe Gefühl der Freiheit erfahren haben – oder was man vielleicht als die „absolute Freiheit“ in politischen und gesellschaftlichen Fragen bezeichnen kann - korrespondiert mit Heinrich Bölls überwältigender Kreativität: Wie er Position zu Fragen sozialer Gerechtigkeit, Gedankenfreiheit und politischer Meinungsfreiheit bezogen hat, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit oder Verbundenheit mit der eigenen Generation, und wie er die Menschenrechte gegen die Verfolgung und Unterdrückung verteidigt hat … Mit dieser Vision kann das gleißende Licht der Texte und Wirkens dieses Autors die arabischen Erfahrungen erhellen, kulturell, sozial und vor allem politisch.“

Haddad sieht Heinrich Böll als „Zeitzeugen einer Epoche der weltweiten Unterdrückung der Menschen, die andauert“  und somit als noch immer aktuellen Denker, der wichtige Impulse in der arabischen Welt geben kann.

„Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben“, hat Heinrich Böll einmal geschrieben. Für den libanesischen Schriftsteller Elias Khoury ist es genau das, was heute dringend vonnöten wäre, und was er am meisten vermisst. Er selbst hat in zahlreichen Romanen gesellschaftliche wie politische Fragen thematisiert und ist bekannt für seine eloquenten politischen Interventionen, auch gegen den Strom:

„Wer tut das heute noch? Um Heinrich Böll zu kennen, brauchen wir mehr Übersetzungen. Dafür brauchen wir auch genau euch – das ist eure Rolle, etwas wie seine Texte zugänglich zu machen. Aber insgesamt habe ich den Eindruck, dass das ausstirbt – dieser Geist des politischen Engagements von Künstler/innen, dass wir da allein auf weiter Flur stehen und es immer weniger werden, die sich tatsächlich trauen, beides zu verbinden.“

Dieser Artikel basiert auf Gesprächen, Emails und Interviews der Autorin mit Nicole Hatem, Jad Hatem, Abdullah al-Kafri, Elias Khoury und Qassim Haddad.

Das Beiruter Büro der Heinrich-Böll-Stiftung hat zum 100. Geburtstag Heinrich Bölls zwei ägyptische und eine libanesische Künstlerin gebeten, ausgewählte Kurzgeschichten des Autors als grafische Romane umzusetzen. An der Université Saint-Joseph in Beirut haben die Professor*innen Nicole und Jad Hatem verschiedene Interpret*innen seiner Werke in einem Kolloquium zu Worte kommen lassen, und eingeleitet von einer szenischen Lesung der libanesischen Schauspielerin Yara Bou Nassar haben die libanesische Schauspielerin und Aktivistin Hanane Hajj Ali, die syrisch-deutsche Schriftstellerin Luna Ali und die norwegische Künstlerin Mari Meen Halsøy mit dem libanesischen Künstler und Aktivisten Nabil Canaan politische Einmischung von Künstler/innen diskutiert. Fotos und weitere Informationen finden sich hier.