"Bei Beteiligungsprozessen müssen die Ziele vorher gemeinsam geklärt werden"

Interview

Verwaltung trifft Beteiligung: Jens-Holger Kirchner, Staatssekretär für Verkehr in Berlin, gibt Auskunft über seine Erfahrungen mit Bürger/innenbeteiligung in der Berliner Politik.

Wie gelingen Innovationen in der öffentlichen Verwaltung, in Ämtern, Fachabteilungen und Bürgermeisterämtern, die auf eine Kultur des Dialogs und der Bürger/innenbeteiligung orientieren? Unter der rot-rot-grünen Regierung hat sich auch das Land Berlin im Koalitionsvertrag auf eine Kultur der Beteiligung verpflichtet.

Der Senatsbereich Stadtentwicklung (Senatorin Lompscher) lädt mit dem "Stadtforum" zur öffentlichen Erörterung wechselnder Themen. Hier wurde auch damit begonnen, im Gespräch zwischen Stadtgesellschaft und politischer Verwaltung "Leitlinien zur Bürger/innenbeteiligung" zu erarbeiten. Nachdem das "Stadtforum Beteiligen!" im Juni 2017 öffentlich beratschlagte, tagt mittlerweile ein konkretisierendes Beratungsgremium.

Auch im Senatsbereich Mobilität und Verkehr (Senatorin Günther) wurden neue Wege der Kooperation zwischen politischer Verwaltung und zivilgesellschaftlichen Gruppen beschritten. So wurde etwa das "Mobilitätsgesetz" - das auch die neuen Regelungen zum Radverkehr enthält - in wochenlanger öffentlicher Rücksprache mit Verkehrsinitiativen und engagierten Bürger/innen entwickelt.

Im folgenden Interview gibt der in diesem Fachbereich verantwortliche Staatssekretär (und vormalige Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung) Jens-Holger Kirchner Auskunft darüber, welche Chancen und Herausforderungen Bürger/innenbeteiligung mit sich bringt. Es entstand im Kontext unserer Tagung "Verwaltung trifft Beteiligung" am 1. und 2. März 2018 in Berlin. Die Fragen stellt der Beteiligungsexperte Rudolf Speth.

Rudolf Speth: Die rot-rot-grüne Landesregierung in Berlin sucht neue Formate für die Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern. Neue Formate zu finden ist das eine. Bekannte Formate mit neuem Leben zu füllen ist das andere.

Jens-Holger Kirchner: Das Verwaltungsverfahrensgesetz schreibt verbindlich vor, dass die Bürgerinnen und Bürger bei Planungen rechtzeitig einzubeziehen sind. Dies wird seit Jahren praktiziert – im Übrigen bei öffentlichen und bei privaten Bauvorhaben. Hier geht es also gar nicht um eine neue Form. Es geht vielmehr darum, wie man diese immer wieder mit Leben erfüllen kann: Wie bringt man diese z.B. mit den neuen Informationsbeschaffungsmethoden zur Deckung? Vieles spielt sich heute im Internet ab: sich Informationen zu beschaffen ist so einfach, aber auch so schwierig wie noch nie. Dies betrifft sowohl die Gewinnung von gesicherten Erkenntnissen aus auch die Herstellung von Transparenz.

Bei Bürger/innenversammlungen zu Verkehrsthemen geht es immer wieder auch um die Frage: Wo kommen die Zahlen her? Hat man sich diese womöglich ausgedacht? Dann kann gezeigt werden, dass diese auf bewährten Methoden, z.B. der Verkehrszählung oder vorgeschriebenen Berechnungsmethoden, beruhen. Mithilfe der neuen Kommunikationsmöglichkeiten ist es heute wesentlich einfacher geworden, Behauptungen zu überprüfen, das gilt übrigens für alle Seiten, nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger.

Welche Konsequenzen hat diese Entwicklung für die Verwaltung?

In unserem Haus bedeutet dies, dass wir einen erheblich größeren Kommunikationsaufwand haben. Die Verwaltung ist hier ein lernendes System. Es wird immer wieder deutlich, dass Ingenieur/innen und Stadtplaner/innen Kompetenzen brauchen, die in ihrem Studium kaum eine Rolle spielen – z.B. Methoden der Bürger/innenkommunikation zu kennen und auch anwenden zu können. Ich kenne die Herausforderungen an Kommunikation auch aus meinem früheren Leben im Bezirk Pankow.

Beteiligungsprozesse sind oft durch Konflikte und unterschiedliche Interessen geprägt. Wie gehen Sie damit um?

 

Staatssekretär Jens-Holger Kirchner

In der Kommunikation zwischen Behörden und Bürgerinnen und Bürger gibt es häufig keine Aufrichtigkeit, weil sich legitime eigene Interessen hinter Gemeinwohlinteressen verstecken. Eigentlich geht es dann um etwas anderes, und dies ist ein wirkliches Problem. Ein Beispiel dafür ist das Thema Kaltluftschneisen in Berlin: Freiflächen und Grünachsen sollen für einen Luftaustausch sorgen und überhitzte städtische Bereiche verhindern. Wer ist schon gegen Kaltluftschneisen? Ich möchte hier die Intentionen von Bürger/inneninitiativen, die sich für die Verbesserung des Stadtklimas einsetzen, überhaupt nicht diskreditieren: Aber vielfach werden die Interessen der Bürgerinnen und Bürger tatsächlich nicht ganz aufrichtig kommuniziert.

Wenn vor der Tür 750 Autos auf Parkplätzen stehen, und diese Fläche bebaut werden soll, sind die Bürgerinnen und Bürger dagegen und begründen dies mit der Verbesserung des Stadtklimas. Wenn ich dann sage, das mir Stadtklima auch sehr am Herzen liegt und wir über alternative Mobilität in Metropolen reden können, dann kommt schnell heraus: Es geht in Wirklichkeit um die Parkplätze. Das ist legitim, wird aber nicht gesagt.

Hier wird es dann schwierig, Interessen auszuhandeln, weil Interessen nicht klar erkennbar benannt werden. Hier sind dann auch schwer Kompromisse möglich.

Sie müssen als Politiker immer auch danach sehen, wie sieht der Wähler/innenauftrag aus, und wie kann ich danach handeln?

Den Wählerauftrag gibt es nicht, es gibt Parteien mit unterschiedlichen Wahlprogrammen, die mehr oder weniger gewählt worden sind. In Berlin haben wir eine rot-rot-grüne Regierung gebildet mit einem Programm, in dem steht, dass pro Jahr 30.000 bezahlbare Wohnungen gebaut werden sollen. Dies wurde ja quasi von den Wählerinnen und Wählern in Auftrag gegeben. Wenn sie aber in irgendein Quartier gehen und dort Wohnungen bauen wollen, dann ist von diesem Wähle/innenauftrag erst mal wenig zu spüren. Deshalb ist es mit dem Wähler/innenauftrag, wenn es konkret wird, etwas problematisch.

Der Wähler/innenauftrag für eine Verkehrswende ist zwar – auch in einer parteipolitischen Perspektive – erteilt. Wenn es aber darum geht, die Hälfte der Pkw-Stellplätze wegzunehmen, um z.B. Busspuren einrichten zu können oder die Verkehrssicherheit für Radfahrende zu erhöhen, dann spüren sie von diesem Wähler/innenauftrag zur Verkehrswende nicht mehr so viel.

Wie gehen Sie damit um? Wie erreichen Sie Ihre Ziele?

Hier bin ich wieder bei dem Thema Aufrichtigkeit, ein sehr altmodisches Wort. Wenn wir zum Beispiel annehmen, dass wir den Auftrag haben, für mehr Verkehrssicherheit für alle zu sorgen, dann muss dies im Sinne des Gemeinwohls interpretiert werden. Bei der Ausgestaltung der Details kann man sicher über vieles sprechen und in der Regel kommt man auch ein Stück weiter. Bei den Zielkonflikten muss man dann aber etwas Augenmaß haben, beispielsweise beim Konflikt zwischen Verkehrssicherheit und Bäumen.

Wenn ein Radweg gebaut werden soll, dann gibt es vielfach große Aufregung, weil zum Beispiel für den notwendigen Platz einige Bäume gefällt werden müssen. Und das ist durchaus auch positiv, da gerade in Berlin Stadtbäume einen hohen Stellenwert haben. Den Diskussionen um diesen Zielkonflikt muss man sich tatsächlich auch stellen, muss vor Ort sein, muss fair spielen und den Leuten sagen: in der Abwägung hat Verkehrssicherheit Vorrang, es ist besser den Baum jetzt wegzunehmen und einen neuen zu pflanzen, weil der Baum zwar eine Lebenszeit von noch zehn Jahren hat, aber nach der Bauphase verbleiben nur noch fünf, und eine Neupflanzung ist dann bald fällig.

Zudem ist nicht ausgemacht, ob der Baum auch die Bauphase überlebt, da vielfach die Wurzeln in die Leitungsbereiche hineinragen. Solche Themen werden vielfach sehr emotional diskutiert, was es manchmal etwas schwer macht, sachlich und nüchtern zu bleiben.

Sie kommen aus der Welt der engagierten Bürgerinnen und Bürger. Wie blicken Sie heute auf diese Welt? Hat sie sich verändert?

Wir können heute mehr denn je mündige Bürgerinnen und Bürger voraussetzen. Ich gehe davon aus, dass die Bürgerinnen und Bürger heute viel fitter sind als in früheren Zeiten und sich in kurzer Zeit auch zu komplexen Sachverhalten kundig machen können. Ich beobachte, dass die Bürgerinnen und Bürger sich mit neuen Themengebieten sehr schnell vertraut machen, sich Expertise erschließen und den Expert/innen aus der Wissenschaft und in den Verwaltungen auf Augenhöhe begegnen können.

Heute sind die Voraussetzungen um an Informationen zu kommen viel besser als in früheren Zeiten. Eine Recherche im Internet ist beinahe für alle möglich. Deshalb kann ich die These nur bedingt teilen, dass Menschen ertüchtigt werden müssen, ihre Interessen wahrzunehmen. Dies müssen sie selbst machen und ich beobachte, dass die Bürgerinnen und Bürger dies vielfach auch tun.

Wir haben es mit einem Phänomen von – ich nenne das - „Zeiteliten“ zu tun; das heißt, viele, die sich im Ruhestand befinden oder eine Pause während ihres Arbeitslebens einlegen, haben sehr viel Zeit, um sich zu informieren, um zu recherchieren, um sich zu vernetzen. Viele von diesen Bürgerinnen und Bürgern sind teilweise besser informiert als die Fachleute. Diese werden dann auch mit diesem gesammelten Wissen bis ins Detail konfrontiert. Das ist ein sehr neues Phänomen.

Das ist aber positiv zu bewerten, es macht auch Spaß, mit Bürgerinnen und Bürgern zu kommunizieren, die über ein Wissen verfügen, das sehr aktuell ist und sich auf der Höhe der Zeit befindet. Dies ist etwas anderes als eine Kommunikation auf einer emotionalen Basis, weil fachliche Fragen eine prägende Rolle spielen. Aus meiner Sicht ist das überhaupt keine „Bedrohung“ für die Verwaltungen, sondern eine Bereicherung. Schwierig wird es nur, wenn solche Debatten in einen Glaubenskrieg ausarten.

Wie kann sich Ihrer Meinung nach die Kooperation zwischen Stadtgesellschaft, Verwaltung und Politik verbessern? An welchen Qualitätskriterien würden Sie die Ergebnisse messen?

Es gibt ein großes Missverständnis: alle reden von Beteiligung, aber die Bürgerinnen und Bürger verstehen Beteiligung vielfach als 100 Prozent Interessendurchsetzung. Hieran ist das grüne Milieu nicht unmaßgeblich beteiligt. Wenn bei Projekten mit Bürger/inneninitiativen umfangreiche Beteiligungsverfahren durchgeführt werden und etwas herauskommt, das den Ideen der Bürger/inneninitiative nicht entspricht, dann wird vielfach das Beteiligungsverfahren selbst infrage gestellt. Häufig wird dann das Ergebnis allein danach bewertet, was zu Beginn als anzustrebendes Ergebnis von der Bürgerinitiative ausgegeben wurde. Die Forderung nach hundertprozentiger Umsetzung aller Forderungen machen Gemeinwesen kaputt.

Unser demokratisches Gemeinwesen ist eben sehr stark auf Ausgleich und Kompromiss angelegt, während Beteiligung häufig als die alleinige Durchsetzung der eigenen Interessen verstanden wird. Dies ist eine Gefahr, denn damit werden die Beteiligungsprozesse in ihrem Kern diskreditiert.

Wie kann man mit dieser Gefahr umgehen?

Man muss sich gleich zu Beginn über die Ziele Gedanken machen und Beteiligung nicht nur als Verfahren verstehen. Wenn es um das Vorhaben geht, gemeinsam ein Wohngebiet zu planen mit 5000 Wohnungen, dann ist es sinnvoll, dass sich alle Beteiligten zu diesem Vorhaben als einem gemeinsamen Ziel bekennen, quasi einen Vertrag miteinander schließen. Im besten Falle übrigens auch diejenigen, die dort hinziehen werden, denn um die geht es ja auch. Vielfach werden ja „nur“ die beteiligt, die schon da sind.

Falsch wäre es, einfach her zu gehen und zu sagen, die Verwaltung will 5000 Wohnungen bauen und die Bürgerinnen und Bürger sollen beteiligt werden. Denn die Bürgerinnen und Bürger können auch der Meinung sein, dass gar nicht, nur 1000 Wohnungen gebaut werden sollen oder gar eine Einfamilienhaussiedlung.

Ganz wichtig ist also, dass die Ziele vorher gemeinsam geklärt werden. Das ist die wirkliche Herausforderung. Wenn man sich auf ein Ziel geeinigt hat, dann laufen auch die anderen Dinge, dann entstehen plötzlich Kraft und Kreativität, die vorher nicht sichtbar waren.

Wenn nicht über Ziele gesprochen wird, dann droht der Beteiligungsprozess zu scheitern, weil alle nur daran interessiert sind, ihre Interessen durchzusetzen. Es ist auch notwendig, dass alle wissen, dass Kompromisse notwendig sind und es darum geht, zwischen unterschiedlichen Positionen abzuwägen.

Wie soll eine solche Zielklärung aussehen?

Insgesamt dauern Planungsprozesse in Deutschland viel zu lange. Die lange Dauer ist vielfach verheerend für Beteiligungsprozesse. Deshalb müssen aus meiner Sicht Planungs- und Beteiligungsprozesse zeitlich begrenzt werden und überschaubar bleiben. Ein gestecktes Ziel muss für alle verbindlich sein. Deshalb spreche ich von einer Art „Vertrag“, auch wenn das dauert, denn eine Zielformulierung ist nicht so schnell zu machen.

Eine Herausforderung besteht wegen der langen Planungszeiten auch darin, dass neue Leute, die die vergangenen Vereinbarungen nicht kennen, diese dann vielleicht ablehnen. Hier müssen Ortsbeiräte und Bürgerinitiativen verbindlich erklären, dass sie zu diesen Zielen stehen, auch wenn die Beteiligten ihre Zielformulierungen verändern, oder neue Bürgerinnen und Bürger dazukommen.

 

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