Die innere Republik

Gerade die deutsche Geschichte kann Kindern von Einwanderer/innen eine gute Lerngelegenheit geben, eine demokratische Identität zu entwickeln. Wie guter Unterricht dies unterstützen kann, beantwortet eine Tiefenbohrung zur historisch-politischen Bildung.

Tunnel aus Büchern

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers Schule und Zivilgesellschaft.

In Steven Spielbergs Agenten-Thriller „Bridge of Spies” wird ganz nebenei und unscheinbar behandelt, was eine multikulturelle Gesellschaft zusammenhält: „My Name is Donovan. Irish. Both sides, mother and father”, sagt der Protagonist zu seinem Gegenüber und fährt fort: „I am Irish, you are German. But what makes us both Americans. Just one thing. One, one, one. The rule book. We call it the Constitution and we agree to the rules and that´s what makes us Americans. It´s all that makes us Americans.“

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand die historisch-politische Bildung in Deutschland unter doppelten nationalen Vorzeichen: Sie war rückwärtsgerichtet in eine Glorifizierung der preußischen Geschichte und der diplomatischen und militärischen Siege der Einigungskriege, jedoch zugleich drängend-zukunftsorientiert in einem demografisch und technologisch im Umbruch befindlichen Industriestaat, der wirtschaftlich und politisch in die Welt hinausdrängte. Wir kennen die Folgen.

Heute liegt der 3. Oktober 1990 ungefähr so weit zurück wie um 1900 die Gründung des Deutschen Reiches. Auch heute schauen viele gerne auf die „Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik“ und vermitteln deren Rezepte und Modelle.

Auch heute tun sie dies in einem demografisch (z.B. durch Überalterung und Einwanderung) und technologisch (z.B. durch Globalisierung und Digitalisierung) im Umbruch befindlichen Industriestaat.

Eine gelungene historisch-politische Bildung

Wie kann – eingedenk insbesondere der deutschen Geschichte von 1914 bis 1945 – eine historisch-politische Bildung aussehen, die nicht auf Überlebtem aufbaut, Realitäten anerkennt, Spannungen vermindert und die – und darum muss es vorrangig gehen – die freiheitlich-demokratische Ordnung unseres Grundgesetzes auch für die Zukunft sichert?

Dazu zwei Thesen:

  1. Das eigenständige und kritische Denken ist zu fördern – im Sinne der Aufklärung.
  2. Die deutsche Geschichte eignet sich – gerade unter den Vorzeichen einer Einwanderungsgesellschaft – gut als gemeinsame Grundlage für eine solche Bildung.

Wie einfach wäre es, die in den Artikeln 1 bis 20 festgehaltenen Grundlagen unserer demokratischen Ordnung als festen Kanon zum Auswendiglernen und zukünftigen Verhalten zu vermitteln – je nach Lerngruppe mit unterschiedlichen Beispielen versehen – und sich damit beispielsweise in die Tradition des christlichen Luther-Katechismus zu stellen.

Historisch-politische Bildung jedoch funktioniert so nicht. Unsere Schülerinnen und Schüler wissen genau, was an politischen Wertvorstellungen z.B. am Vormittag in der Schule, am Nachmittag in der Moschee und am Abend im Familienkreis verlangt wird – und sie orientieren sich flexibel…

Hinterfragen, Aufbohren und Durchleuchten

Damit bleibt nur der steinige, anspruchsvolle und von Rückschlägen geprägte Weg, den uns die Aufklärung vorgibt: Die Schülerinnen und Schüler lernen das Entschlüsseln, Hinterfragen, Aufbohren und Durchleuchten, sie erfahren, dass es immer mehrere Perspektiven gibt und eine einfache Wahrheit nur von den „gnadenlosen Vereinfachern“ vermittelt wird.

Sie lernen aber auch, dem Zeitgeist zu misstrauen und andere Epochen bzw. das Andere an sich zunächst aus sich selbst heraus zu erfassen und zu beurteilen. Sie lernen dabei, dass vor dem Werturteil die Sachanalyse steht, d.h. insbesondere das Kennenlernen des zu Untersuchenden. Schließlich lernen sie aber auch, dass das Erfassen unterschiedlicher Perspektiven nicht bedeutet, diese wertrelativierend nebeneinanderzustellen, sondern auch dazu dient, die eigenen Wertmaßstäbe zu entwickeln, zu festigen und trotzdem immer auch zu hinterfragen.

Am Ende müssen die Lehrerinnen und Lehrer – und wir alle – dabei auf die doppelte Strahlkraft der Ideen der Aufklärung und der Grundlagen unserer demokratischen Ordnung vertrauen: Deren Bejahung kann nur eigenständig angenommen, nicht verordnet werden. Gelingt dies, werden die Schülerinnen und Schüler auch am Nachmittag und Abend gefestigter sein.

Fremdverstehen als Schlüsselkompetenz

Diese anspruchsvollen Ziele lassen sich nur mithilfe konkreter Themen und Inhalte anstreben. Für den Politikunterricht bleibt die Thementrias „Politik – Gesellschaft – Wirtschaft“ bestimmend, allerdings ist mehr Unterrichtszeit für das Themenfeld „Politik“ einzuplanen.

Wichtiger als das ist aber eine Korrektur der Zielsetzung: Im Sinne der Ideen der Aufklärung muss die rationale Erschließung politischer Grundlagen und unterschiedlicher Positionen („Wie weit darf bzw. muss der Staat Steuern erheben?“) gegenüber beispielsweise einer konkreten Meinungsbildung zu einer aktuellen Streitfrage („Für oder gegen eine Abschaffung des Solidaritätszuschlags?“) in den Hintergrund treten.

Denn konnte bislang die Politiklehrkraft davon ausgehen, eine im Sinne unseres Grundgesetzes gefestigte Schülerschaft zu unterrichten, muss sie nun auf Jugendliche mit anderen, autoritären, intoleranten oder neu-religiösen Haltungen eingestellt sein und mit ihnen umgehen. So lässt sich die Werteordnung unseres Grundgesetzes mithilfe konkreter Fallbeispiele verstehen, durchdenken und problematisieren.

Herausforderung: Konfliktbereitschaft der Lehrkräfte

Die Schülerinnen und Schüler lernen dabei insbesondere, sich in unterschiedliche Personen und Positionen hineinzuversetzen – ein streng-muslimisch geprägter Jugendlicher z.B. in eine säkular orientierte Lebenspartnerschaft zweier Männer. Die Jugendlichen sollen dabei verstehen und erklären lernen (und hier muss die Lehrkraft durchsetzungsstark sein). Indoktrination ist nicht das Ziel; die persönliche Meinung(sbildung) wird nicht in Frage gestellt.

Die Fähigkeit zum Fremdverstehen bei dem streng-muslimisch geprägten Jugendlichen ist in unserem Beispiel das Ziel, nicht sein Umdenken in einem gewünschten Sinne. Denn das Fremdverstehen bildet letztlich die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben, das dann zur Herausbildung neuer, gemeinsamer Normen führen kann. Das kann letztlich einen persönlichen Meinungswandel bewirken – dann jedoch jenseits einer „Steuerung“ durch die Schule.

Zur besonderen Herausforderung wird dabei die Konfliktbereitschaft der Lehrerinnen und Lehrer. Diese müssen antidemokratische Positionen ihrer Schülerinnen und Schüler nicht-abwertend „ertragen“ (also den Kontakt zu ihren Schülerinnen und Schülern halten), gleichzeitig aber auch die Grenzverletzung deutlich als nicht vereinbar mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung benennen. Eine Herausforderung - aber sie ist nach den Erfahrungen in der Extremismusprävention zu bewältigen.

Die „verspätete Nation“ als Lernchance

Schauen wir auf den Geschichtsunterricht. Hier stellt sich angesichts der „unendlichen Fülle“ immer ein Auswahlproblem. Umstritten ist dabei die traditionelle Konzentration auf die deutsche Geschichte innerhalb Europas: Der Nationalstaat sei 1945 gescheitert, demokratische Traditionen viel zu schwach ausgeprägt, die Zukunft sowieso international-global, und zudem betreffe diese deutsche Geschichte die vielen Zugewanderten nur wenig – so die weit verbreiteten Bedenken. Doch was wären die Alternativen? ...oder positiv gewendet: Ist diese Argumentation triftig?

Die deutsche Geschichte ist im besonderen Maße eine nicht-nationale und europäische Geschichte. Mitten in Europa gelegen, von vielfältigen Einflüssen durchdrungen und erst im 19. Jahrhundert die Ideen eines Nationalstaates entdeckend, ist unsere Geschichte nicht national-zentriert wie beispielsweise bei unseren westlichen und östlichen Nachbarn Frankreich oder Polen.

Das galt im 19. Jahrhundert als Malus, somit wurde das „spezifisch Deutsche“ herausgestellt und eine rückwirkende Nationalgeschichte bis in die Völkerwanderung hinein konstruiert.

Heute findet sich in dem „Malus“ eine Chance für die historisch-politische Bildung: Die Vielfältigkeit der Regionen und Traditionen Deutschlands, die vielfältigen Einflüsse von außen und nicht zuletzt die unterschiedlichsten Formen von Staatlichkeit, Demokratieentwicklung und Konfliktbewältigung eröffnen unseren Schülerinnen und Schülern einen erfahrbaren und zukunftsgerichteten Horizont bzw. ein weites Denkfeld.

Beispiele einer historisch-politischen Bildung

Gleichzeitig ermöglicht die „Dekonstruktion der nationalen Konstruktion“ – auch mit der Frage, was „national“ in einer Zuwanderungsgesellschaft bedeutet – ein Lernen im oben beschriebenen Sinne der Aufklärung. Nicht zuletzt gilt: Der gemeinsame Bezug aller Schülerinnen und Schüler ist das Land, in dem sie leben und (nunmehr) aufwachsen.

Vielleicht ist hier eine „verspätete Nation“ besonders geeignet. An dieser Stelle muss historisch-politische Bildung ansetzen, wenn sie alle Schülerinnen und Schüler erreichen soll. Zugespitzt formuliert: Die „deutsche Geschichte mitten in Europa“ eignet sich besonders als gemeinsame Integrationsplattform.

Das lässt sich an unterschiedlichen Beispielen zeigen – bewusst einmal nicht aus dem „kurzen 20. Jahrhundert“ ausgewählt, denn diese sind uns allen bekannt und selbstverständlich. Fünf möchte ich ganz kurz beleuchten:

  1. So kann ein/e Deutsche/r mit türkischem Migrationshintergrund seine Geschichte in Deutschland – denn hier lebt er oder sie – beginnend mit den Kulturkontakten und Konflikten mit dem expandierenden Osmanischen Reich im 18. Jahrhundert erfahren.
  1. Die Verflechtung in einer „Weltwirtschaft“, selbstorganisiert und verantwortet, lässt sich anhand der Geschichte der Hanse nachvollziehen – eine Organisation, die nicht-national ausgerichtet war.
  1. Internationale Konfliktsituationen mit religiösen Dimensionen finden sich in der Epoche von Reformation und Dreißigjährigem Krieg – bis hin zu Traumatisierung und Staatsfixierung nach doppelten Zerstörungs- und Ohnmachtserfahrungen 1648 oder 1812.
  1. Soziale und gesellschaftliche Konflikte und Lösungsansätze („Revolution oder Reform?“) finden sich in der Industrialisierung des 19. und 20. Jahrhunderts – in deutscher Perspektive eben nicht zentral-nationalstaatlich, sondern bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts heran durch vielfältige regional-föderale Lösungsansätze ausgezeichnet.
  1. Nicht zuletzt bietet die deutsche Geschichte in Europa für die Entwicklung von Mitbestimmung, Demokratie und (Grund-)Rechten ein faszinierendes Lernfeld; denn beginnend mit der Selbstverwaltung der mittelalterlichen Städte, über das zukunftsgerichtete Scheitern der 1848er-Revolution, einem demokratischen Idealismus 1919 und der Errichtung einer totalitären Diktatur 1933/34 bis hin zur Wiederbelebung der Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg lassen sich Wege und Irrwege demokratischer Entwicklungen mit den Schülerinnen und Schülern beschreiten und durchdenken.

Fazit

Durch die Verbindung der Ideen der Aufklärung mit den Grundlagen unseres politischen Systems und Fallbeispielen der deutsch-europäischen Geschichte (erweitert um globale Perspektiven) gibt es eine Chance für unsere deutsche Zuwanderungsgesellschaft. Eines sollte man nicht unterschätzen: Historisch betrachtet sind es häufig Hinzugekommene, die zu besonders eifrigen Verfechtern der Kultur der aufnehmenden Gesellschaft werden.

Ein konkretes Beispiel: Als unter dem Ansturm von außen das Römische Reich im 2. Jahrhundert vor dem Zusammenbruch stand, gelangten eine Reihe von „Römern mit Migrationshintergrund“ – in diesem Fall aus den Donauprovinzen, der heutigen Balkanregion – in militärische und politische Schlüsselstellungen.

Diese ehemaligen „Barbaren“ retteten durch ihre Tatkraft das Reich, sie reformierten Verteidigung und Staatswesen und schufen so die Basis für die Spätantike. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass diese Wahlrömer die römischen Traditionen häufig ernster nahmen als die Römer selbst.

Warum sollte es uns heute nicht auch so gehen und sollten sich vielleicht besonders unter den Kindern heutiger Zuwanderer die zukünftigen Bewahrer, Verteidiger und Gestalter unserer demokratischen Ordnung finden lassen?