Die Illusion des grünen Fliegens

Ein neues Klimaabkommen soll für „CO2-neutrales Wachstum“ der internationalen Luftfahrt sorgen – und könnte zu einem massiven Anstieg der Nachfrage nach problematischen Kompensationsprojekten führen. Auch die Kompensation bei Flughäfen verschafft dem Wachstum der Luftfahrtindustrie fragwürdige „grüne“ Legitimität.

Infografik: Emissionsgutschriften der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICn
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Obwohl der weltweite Luftverkehr bis zum Jahr 2050 um 700 Prozent wachsen soll, verspricht die Internationale Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) mit Hilfe von Emissionsgutschriften ab 2020 klimaneutral zu wachsen

Genau jetzt, in diesem Moment, befinden sich mindestens eine halbe Million Menschen in der Luft. In den letzten Jahrzehnten ist der Flugverkehr massiv gewachsen, deutlich mehr als andere Wirtschaftssektoren. Der Steigflug ist noch nicht zu Ende: In den nächsten 20 Jahren soll sich die Zahl an Flugzeugen und geflogenen Passagierkilometern verdoppeln. Rund 1200 Flughafenneu- oder ausbauten sind derzeit geplant – einige davon Megaprojekte, die ganze Shopping- und Industriegebiete einschließen und die Zerstörung großer Ökosysteme sowie Vertreibung von Anwohner/innen, Lärm-, Feinstaub- und Gesundheitsschäden zur Folge haben.

Die EU-Kommission blickt dennoch erwartungsvoll in die Zukunft: „Nachhaltigkeit wird endlich unseren Flugverkehr bestimmen!“ In Abstimmung mit der Flugindustrie verabschiedete die UN-Luftfahrtorganisation ICAO (International Civil Aviation Organisation) im Oktober 2016 das Abkommen CORSIA (Carbon Offsetting and Reduction Scheme for International Aviation). Es hat zum Ziel, dass die internationale Luftfahrt ab 2020 „CO2-neutral wächst.“ Wie der Name des Programms sagt, steht im Zentrum die Kompensation von Emissionen durch Einsparungen anderer anderswo (Offsetting).

Einige Regierungen und NGOs kritisieren die unzähligen Lücken und Unverbindlichkeiten. Praktiken wie bei Virgin Airlines sind keine Ausnahme: Seit einigen Jahren bot die Fluggesellschaft ihren Passagieren für einen Aufpreis CO2-neutrale Flüge an und kaufte dafür Emissionsgutschriften eines Projekts, das sein vorgegebenes Ziel des Waldschutzes verfehlt und zudem Menschenrechte verletzt. Doch der Teufel steckt nicht nur im Detail. Vielmehr muss die Logik hinter der Klimastrategie grundsätzlich in Frage gestellt werden.

Gibt es CO2-neutrales Wachstum der Luftfahrt?

Die Konzepte einer „Grünen Ökonomie“ oder auch „Bioökonomie“ gehen davon aus, dass ökonomisches Wachstum entkoppelt werden kann von Ressourcenverbrauch und Emissionen. Die Hoffnung auf neue Technologien spielt dabei eine zentrale Rolle. In der Luftfahrt ist dabei noch unsicheren als in anderen Sektoren, ob es je zu einem technologischen Durchbruch kommt, beispielsweise hinsichtlich elektrischer Antriebe und supraleichter Maschinen. Falls ja, würden die Auswirkungen einer solchen Entwicklung erst in Jahrzehnten zum Tragen kommen – zu spät angesichts der sich verstärkenden Klimakrise. Die geplanten Effizienzgewinne im Kerosinverbrauch neuer Flugzeuge liegen derweil bei jährlich 1,5 %. Bei Wachstumsraten des Flugverkehrs von teilweise 7 % (2017) ist CO2-neutrales Wachstum durch technologische Lösungen also illusorisch.

Kompensieren statt reduzieren ist daher ein neues Motto, das die Luftfahrtindustrie als „am schnellsten umsetzbare, am einfachsten zu verwaltende und kosteneffizienteste Lösung“  vorantreibt. Die Kompensation oder das „Offsetting“ von Emissionen wird meist in Länder des Globalen Südens ausgelagert. Bei vielen Kompensationsprojekten handelt es sich beispielsweise um den Bau von Wasserkraftwerken, die vorgeben, die Energieerzeugung aus fossilen Brennstoffen zu verhindern. Auch Betreiber von Waldschutzprojekten (REDD  – Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation) können die angeblich vorgenommenen Emissionseinsparungen als Gutschriften an die Flugindustrie verkaufen.

Professorin Julia Stones von der Universität Bangor untersuchte die letzten Jahre ein REDD-Projekt in Madagaskar, von dem rund 27.000 Menschen betroffen sind. Um Waldschutz zu garantieren, werden diese an ihrer traditionellen Landwirtschaft (Wanderfeldbau) gehindert, was ihre Situation weiter prekarisiert. Die versprochenen Kompensationszahlungen sind inadäquat, um die Ernteausfälle auszugleichen, und erreichen weniger als die Hälfte der Betroffenen. Julia Stones fasst das Problem folgendermaßen zusammen: „Anstatt dass ich oder du weniger fliegen oder Auto fahren müssen, sind es die armen Leute in weit entfernten Regionen, die ihren Lebensstil ändern sollen.“

Weniger als 5 Prozent der Weltbevölkerung fliegt

Schätzungen gehen von einem Anteil von weniger als 5 Prozent der Weltbevölkerung aus, der überhaupt je in einem Flugzeug saß. Damit ein kleiner Teil der Weltbevölkerung immer öfter fliegen kann, sollen andere die Treibhausgase reduzieren: Menschen, deren Emissionen in der Regel sehr niedrig sind, deren historischer Beitrag zum Klimawandel vernachlässigbar ist und die die Folgen der Klimakrise bereits heute spüren. Die Logik des CO2-neutrales Wachstums auf Kosten anderer ist daher grundsätzlich problematisch. Dazu kommt, dass das Versprechen der CO2-Neutralität in der Realität nicht umsetzbar ist.

Das Öko-Institut untersuchte 2016 für die Europäische Kommission bestehende Kompensationsprojekte auf ihre Wirksamkeit. Es analysierte dabei das wichtigste Kompensationsinstrument der Vereinten Nationen, den „Clean Development Mechanism“ CDM. Das Ergebnis war, dass nur bei 2 % der Kompensationsprojekte die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sie zu zusätzlicher Emissionsminderung geführt haben. So ist ein Wasserkraftwerk meist an sich rentabel und wurde nicht für den Zweck der Emissionskompensation gebaut. Dennoch wird mit den verkauften Emissionsrechten ein Anstieg von Treibhausgasen anderswo legitimiert. Auch eine im Jahr 2017 für das Umweltbundesamt verfasste Studie des New Climate Institute befand, dass lediglich 4 % der Emissionsgutschriften von Projekten kommen, die von CDM-Einnahmen abhängig sind.

Wenn nun Fluggesellschaften ab 2021 für den Zuwachs ihrer Emissionen pro Tonne CO2 eine Kompensationsgutschrift vorlegen, so führt dies daher nicht zu einer Neutralisierung, sondern zu einem fast gleich hohen Anstieg der Treibhausgase – unter grünem Deckmantel.

Zu billig, um wirksam zu sein

Es ist zu erwarten, dass die Umsetzung von CORSIA ab 2021 zu einer immensen Nachfrage nach Kompensationsgutschriften führen wird. Ob, beziehungsweise welche Kriterien für die Anerkennung von Kompensationsgutschriften im Rahmen von CORSIA gelten, ist noch offen. Es könnte sein, dass die Luftfahrtorganisation ICAO keinerlei Einschränkungen formuliert, was die Aktualität, Zusätzlichkeit oder die ökologischen und menschenrechtlichen Auswirkungen der Projekte angeht. Das würde bedeuten, dass Fluggesellschaften sowohl tausende aktuell schlafender und veralteter Gutschriften des CDM als auch von Anbietern auf dem sogenannten freiwilligen Emissionsmarkt nutzen können, darunter besonders umstrittene Projektkategorien wie REDD+.

China und Brasilien setzen sich für die automatische Anrechenbarkeit aller CDM-Gutschriften ein. Kein Wunder, CDM-Projekte aus den beiden Ländern machen über 60 % der am Markt verfügbaren Gutschriften aus. Ohne jegliche Einschränkungen der Zulässigkeit stünde ein so großer Pool von CDM-Gutschriften zur Verfügung, dass diese für weiterhin nur 1 € pro Tonne CO2 verkauft werden könnten, so eine Studie des New Climate Instituts von 2018. Sie zeigt, dass dadurch „die Nachfrage nach Emissionsgutschriften aus dem internationalen Luftverkehr bis zum Jahr 2035 wahrscheinlich weder das derzeitige Preisniveau für CERs [Emissionsgutschriften] noch das Gesamtniveau der THG-Minderung [Treibhausgasverringerung] wesentlich beeinflussen wird.“

Die ICAO prognostiziert für 2025 Betreiberkosten in Höhe von 0,2 bis 0,6 % der Gesamteinnahmen der internationalen Luftfahrt, für 2030 wären es 0,5 bis 1,5. Das ist deutlich weniger als die Kosten, die sich aus den normalen Schwankungen des Kerosinpreises ergeben. Die ursprüngliche Idee war, dass die durch den Gutschriftenkauf erhöhten Kosten einen Anreiz für Fluggesellschaften darstellen, weniger klimaschädigende Technologien einzusetzen, oder die Kosten zu höheren Ticketpreisen und einer sinkenden Flugnachfrage führen würden. Doch diese ursprüngliche Absicht ist längst überholt. Tatsächlich erreichte die Industrie mit der von ihr vorangetriebenen Kompensationsstrategie das, was sie wollte: Eine Ablenkung von effektiven Maßnahmen zur Begrenzung der Flüge, wie die Abschaffung der unzähligen steuerlichen Privilegien der Luftfahrt. So ist beispielsweise Kerosin bisher nicht besteuert.

CORSIA: problematische Zielsetzung, Lücken und Schwachstellen

Um den durchschnittlichen globalen Temperaturanstieg auf deutlich weniger als zwei Grad Celsius zu begrenzen, müssten Emissionen aus dem internationalen Flugverkehr bis 2030 wenigstens 39 % niedriger sein als 2005. Die ICAO-Zielsetzung der gleichbleibenden Emissionen ab 2020 ist daher absolut unzureichend. Dazu kommt, dass CORSIA nur den Klimaeffekt von CO2 berücksichtigt. Der übrige wissenschaftlich belegte Klimaeffekt der Flugemissionen (Ozon, Kondensstreifen, Zirrusbewölkung etc.), der mindestens doppelt so groß ist, wird von der ICAO weiterhin außer Acht gelassen.

CORSIA beginnt 2021 mit einer freiwilligen Pilotphase. Erst ab 2027 startet die verpflichtende Phase (und läuft bis 2035). Doch auch dann müssen nicht alle Länder teilnehmen: Ausgenommen sind immerhin 118 von 191 Ländern, insbesondere „Least Developed Countries“, „Small Island Developing States“ und „Landlocked Developing Countries.“

Ein weiteres Problem ist, dass derzeit kein Mechanismus in Sicht ist, der eine doppelte Anrechnung von Emissionsminderungen verhindern könnte. Damit steigt die Gefahr, dass Emissionen – wenn überhaupt – nur auf dem Papier ausgeglichen werden. Beispielsweise könnte ein REDD-Projektbetreiber in Brasilien Gutschriften an eine europäische Fluggesellschaft verkaufen, während sich Brasilien gleichzeitig die Emissionsreduzierung in der nationalen Treibhausgasbilanz gutschreibt. Denn seit dem Pariser Klimaabkommen sind alle Länder, nicht nur Industriestaaten, dazu angehalten, nationale Reduktionsziele umzusetzen.

Essen im Flugzeug-Tank?

Neben der Problematik der Kompensation setzt die internationale Luftfahrt zudem auf umstrittene „nachhaltige alternative Flugtreibstoffe“. Die einzige derzeit realistische Alternative zu erdölbasiertem Kerosin ist Pflanzenöl. Für die Herstellung der benötigten Mengen solcher Treibstoffe käme aus wirtschaftlichen Erwägungen nur Palmöl in Frage, das schon heute eine der treibenden Kräfte für die Abholzung von Wäldern weltweit darstellt.

Von den ursprünglich zwölf Nachhaltigkeits-Kriterien strich die ICAO 2017 zehn, inklusive derjenigen zu Landrechten, Ernährungssicherheit und Biodiversitätsschutz. Übrig blieb die Bedingung, dass die alternativen Treibstoffe mindestens 10 % weniger Emissionen erzeugen als konventionelles Kerosin. Diese Formulierung öffnete Saudi-Arabien die Tür, um einzufordern, dass auch Erdöl als grüne Alternative gewertet werden darf. Und so können sich nun Fluggesellschaften mit geringeren Reduktionsverpflichtungen belohnen lassen, wenn sie Kerosin verwenden, das in neuen effizienteren Raffinerien oder unter Einsatz erneuerbarer Energien hergestellt wurde.

Einige EU-Länder appellierten, die gestrichenen Nachhaltigkeitskriterien wieder einzuführen. Studien wie die von Changing Markets zeigen jedoch, dass auch dies unzureichend wäre. So fehlt es Nachhaltigkeitskriterien und -zertifizierungen grundsätzlich an Glaubhaftigkeit und Durchsetzungsfähigkeit. Beispielsweise hatte bisher im Palmölsektor keines der existierenden Schemata dabei Erfolg, Entwaldung, Entwässerung und Biodiversitätsverlust zu reduzieren.

In einem offenen Brief vom 11. Juni 2018 machten 90 Organisationen deutlich, dass sich die Flugindustrie wegen CORSIA zu einem neuen Treiber von Entwaldung, Landraub und Menschenrechtsverletzungen entwickeln könnte und forderten effektive Maßnahmen statt Kompensation und Agrartreibstoffe.

Ablenkung von effektiven Maßnahmen zur Flugbegrenzung – ein Fazit

CORSIA schürt die Nachfrage nach problematischen Agrartreibstoffen, verhilft veralteten sowie menschenrechtlich bedenklichen Kompensationsprojekten zu neuem Aufschwung und wird nicht zu CO2-neutralem Wachstum führen. Zudem lässt der Fokus auf Kompensation unberücksichtigt, dass die aktuelle Situation der Klimakrise kein „Entweder-Oder“ zulässt: Es ist notwendig, sowohl Emissionen dort zu mindern, wo sie entstehen, als auch Maßnahmen zur Minderung von Treibhausgasemissionen umzusetzen und Wälder zu schützen – statt den dort gespeicherten Kohlenstoff als Gutschrift zu verkaufen, um das Wachstum schmutziger Sektoren zu ermöglichen.

„Biotreibstoffe und Emissionskompensation sind gefährliche Versuche, die Öffentlichkeit durch Greenwashing zu betrügen“, warnt Almuth Ernsting von Biofuelwatch. Tatsächlich droht CORSIA nun, strengere Regulierungen und bestehende regionale Klimamaßnahmen für die Luftfahrt zu ersetzen. „Damit CORSIA nicht zur Doppelbelastung für die Fluggesellschaften wird, muss es die europäische Insellösung EU-EHS [Europäisches Emissionshandelsgesetz] ab 2021 ablösen“, fordert beispielsweise der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Luftfahrt BDL. In Schweden lobbyierte die International Air Transport Association (IATA), die 265 Fluglinien repräsentiert, gegen die geplante Einführung einer Flugticketsteuer. Andere Staaten reduzieren derzeit die bestehenden Ticketsteuern.

"Das gießt emissionsintensive Mobilität in Beton"

Auch auf Flughafenebene werden die Konsequenzen des Kompensationsansatzes sichtbar. Ein österreichisches Gericht hatte 2017 den geplanten Flughafenausbau Wien-Schwechat untersagt, um zu hohe klimaschädliche Emissionen und Bodenversiegelung zu vermeiden. Der Bau und Betrieb der dritten Piste würde zu einer Zunahme von rund 2 % der CO2-Emissionen von ganz Österreich führen. Nachdem das höhere Gericht wenig später das Urteil aufhob, wurde 2018 entschieden, dass die dritte Piste gebaut werden dürfe – unter Auflagen: Der Flughafen solle „CO2-neutral“ werden, zertifiziert durch die Airport Carbon Accreditation Initiative. Doch das Hauptgeschäft des Flughafens – die Flüge – werden nicht mit eingerechnet. Es geht ausschließlich um Betriebsemissionen am Boden, zum Beispiel durch die Energieversorgung im Terminal, die einen verschwindend geringen Anteil der gesamten Treibhausgase ausmachen. Die Initiative dient somit weniger dem Klima als Flughafenbetreibern, die wegen geplanter Ausbauten öffentlich in der Kritik stehen.  

„Klimaschädliche Infrastruktur in einer Zeit zu bauen, in der die Klimakrise mehr als deutlich an die Tür klopft, ist absolut unverantwortlich. Das gießt eine emissionsintensive Mobilität für die nächsten Jahrzehnte in Beton,“ so eine Aktivistin von „System Change, not Climate Change!,“ die sich in Wien gegen die dritte Piste einsetzt. Der Widerstand gegen den Ausbau der Luftfahrt scheint international zu wachsen. Statt Scheinlösungen werden effektive Maßnahmen wie eine progressive Ticketsteuer für Vielfliegende, eine Kerosinsteuer, die Beschränkung des Einflusses der Luftfahrtlobby auf die ICAO und attraktive leistbare Nachtzugverbindungen gefordert, so beispielsweise im Positionspapier des internationalen Netzwerks Stay Grounded.


Zum Weiterlesen:

1. Finance & Trade Watch (2017): Grünes Fliegen – gibt es das?

2. Internationales Netzwerk für eine gerechte Mobilität und Begrenzung von Flügen: Stay Grounded

3. Fern (2016): Cheating the Climate. The Problems with Aviation Industry Plans to Offset Emissions.

4. Fern (2017): Unearned Credit. Why Aviation Industry Forest Offsets are Doomed to Fail.