Nomarussia Bonase widmet alle ihre Energie dem Kampf für Gerechtigkeit. Das Porträt einer Friedensstifterin.
Dieser Artikel ist Teil des Dossiers "No Women - No Peace: 20 Jahre UNSR Resolution 1325 zu Frauen, Frieden und Sicherheit"
Nomarussia Bonase ist eine wahre Naturgewalt. Sie ist unermüdlich, leidenschaftlich, und die Art Mensch, die immerzu gibt – sich selbst, ihre Zeit, ihre Talente. Sie wäre nicht sie und ihr Weg wäre ein anderer gewesen, hätte sie nicht von klein auf Gewalt und Leid erfahren. „Ich bin überzeugt, dass es zur Wiederherstellung von menschlicher Würde Frieden und Sicherheit braucht“, sagt sie. „Die Menschen leiden weiter – selbst jetzt, inmitten der Coronavirus-Pandemie. Sie wissen nicht, was sie tun sollen, und es gibt nicht genügend Anlaufstellen um sie aufzuklären. In Gedanken bin ich stets bei denjenigen, die emotional, physisch und mental am Ende ihrer Kräfte sind.“ Ihr Leben hat Nomarussia der Arbeit mit Gewaltopfern gewidmet, dem Kampf gegen soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeit allgemein. Ihre Berufung ist in ihrer Kindheit verwurzelt.
Nomarussia war erst vier, als ihre Eltern sie beiseite nahmen und ihr eine Geschichte erzählten: Eines Abends – der Vater war gerade bei der Nachtschicht in einem Bergwerk – stand die Polizei zur Passkontrolle vor der Tür. Sie trafen die werdende Mutter allein zu Hause an, vergewaltigten sie und ließen sie verletzt in ihrem eigenen Blut liegend zurück. So fand der Vater am Morgen seine Frau vor. Er brachte sie sofort in die Notaufnahme des Baragwanath Krankenhauses. Die ungeborene Nomarussia war noch am Leben. Der Grundstein für ihren künftigen Aktivismus war gelegt, für das Überleben allen Widerständen zum Trotz.
Die Geburt einer Aktivistin
„Nachdem meine Eltern mir die Geschichte erzählt hatten, fing ich an, meine Umgebung aufmerksamer zu beobachten. Mir fiel die Ungerechtigkeit auf, und ich beschloss, zur Schule zu gehen.“ Zunächst lehnte die Schule ab – schließlich war sie noch zu jung. Doch Nomarussia blieb hartnäckig und durfte den Unterricht schließlich mit den anderen Sechsjährigen besuchen. Es war die Geburtsstunde ihrer lebenslangen Leidenschaft für Bildung und Weiterentwicklung. Gleichzeitig war die Mutter, die an Treffen der Gemeindeaktivist/innen in der ländlichen Provinz Ostkap teilnahm, ein wichtiges Vorbild für das Mädchen. Sie ermutigte ihre Tochter, immer so stark wie möglich zu sein und sich von niemandem einschüchtern zu lassen. In ihre Fußstapfen versuchte Nomarussia in allem was sie tat, zu treten, um wie sie eine Frau zu werden, die Veränderung bewirkt.
In der High School gründete Nomarussia eine Aktivist/innengruppe und engagierte sich im politischen Protest gegen das Apartheidregime. Gerne hätte sie nach ihrem Schulabschluss studiert, doch das konnte sich die Familie nicht leisten; beide Eltern waren arbeitslos und sie lebten nur von dem, was der eigene Garten abwarf. Sie beschlossen, dass Nomarussia in Johannesburg nach Arbeit suchen und so die Familie unterstützen sollte. Dort angekommen, zog sie zu einer Tante, die als Haushaltskraft arbeitete, und wurde von einer Baumaterialfirma zum Teekochen und Saubermachen angestellt. Doch sie strebte nach mehr, und half während ihrer Mittagspause in der Verwaltung mit der Aktenablage aus. Da sie von einem Job in der Verwaltung träumte, studierte sie berufsbegleitend Management auf Diplom und erhielt schon bald eine Stelle bei einer Transportfirma. Doch auch die Verwaltungsarbeit allein erfüllte sie nicht. Und dann fiel ihr auf, dass nur die Männer der Firma einer Gewerkschaft beitreten durften. Umgehend scharte Nomarussia die Arbeiterinnen um sich. Es gelang ihr, die Gewerkschaft zur Einbeziehung der Frauen zu zwingen – selbst über verschiedene Ethnien hinweg. Ihr Einfluss auf die Gewerkschaft war so nachhaltig, dass ihr Arbeitgeber Nomarussia anlässlich eines Streiks der Gewerkschaft gegen unfaire Arbeitspraktiken bei der Polizei als Schlüsselfigur darstellte und sie verhaftet wurde.
Leben mit Verlusten
Im Alter von 29 Jahren schloss Nomarussia sich der Organisation Khulumani (zu Deutsch: „Sprich es aus“) an, einer frauengeführten sozialen Bewegung, die 1995 von Gewaltopfern aus der Zeit der Apartheid gegründet wurde. Seit 1985 stand East Rand, der damalige Wohnort Nomarussias im Osten Johannesburgs, immer wieder in Flammen. Hier regierten Gewalt und Konflikt, unzählige Menschen starben durch die Hand der Sicherheitskräfte, Frauen wurden von diesen vergewaltigt. „Tag ein Tag aus überall Leichen. Wenn wir die Straße überquerten, lagen da Leichen. Wenn wir uns draußen bewegten, schwirrten Kugeln an uns vorbei.“ Es war ein harter Schlag für die Familie, als ihr Bruder 1993 von Polizisten getötet wurde. „Mein Bruder hatte erst vor kurzem angefangen, in Germiston zu arbeiten. Er war 23 Jahre alt. Eines Morgens um fünf stand er an der Haltestelle Union Station und wartete auf seinen Bus, als Soldaten vorbeikamen und ihn niederschossen. Er hatte einfach nur dort gestanden. An diesem Tag starben drei Menschen.“ Von Schmerz zerrissen ging Nomarussia zum Leichenschauhaus, um seinen Leichnam zu sehen. „Die Toten waren draußen gestapelt wie Zementsäcke. Ich musste sie alle durchgehen, um schließlich etwas zu finden, das wie der Fuß meines Bruders aussah. Ich konnte ihn nicht alleine rausziehen und musste jemanden um Hilfe bitten.“
Der Tod ihres Bruders und die zahlreichen anderen Todesfälle, deren Zeugin sie wurde, bestärkten sie in ihrem Kampf für eine andere soziale Ordnung. „Menschen wurden umgebracht und Frauen vergewaltigt. Ich musste etwas unternehmen, um für Frieden und Veränderung zu sorgen. Wenn Menschen sich zusammenschließen, kann das Schweigen der Vergangenheit gebrochen werden.“
Im Jahr 1996 nahm die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission, kurz TRC) ihre Arbeit auf, deren Ziel es war Versöhnung und Reparation für die Opfer der Gräueltaten des Apartheidregimes zu erlangen. Die Khulumani Support Group arbeitete mit den Gemeinschaften am Konzept der Versöhnung. „Wir sagten: ‚Nein, nein und nochmals nein, als Überlebende wollen wir Teil des Prozesses sein. Wir wollen sehen, was notwendig ist, um die Wunden zu heilen.‘“ Nomarussia bemühte sich darum, Wiedergutmachungen für Gewaltopfer zu erstreiten, sowohl für Einzelpersonen als auch für Gemeinschaften. Aber in dieser Hinsicht war der Wahrheits- und Versöhnungsprozess eine Enttäuschung. Die Gewinner waren die Täter. Ihnen wurde Amnestie gewährt, während die Opfer mit leeren Händen dastanden. „Die Kommission hat es nicht geschafft, einen echten Dialog als Versöhnungsgrundlage zu initiieren. Dieses Versagen steht im direkten Zusammenhang mit dem auch heute noch hohen Maß an geschlechtsspezifischer Gewalt, der Kriminalität und dem Verrat an der menschlichen Würde. Die Menschen an der Basis sind noch immer verwundbar.“
Im Alter von 44 Jahren ereilte Nomarussia 2010 mit dem Tod ihres Mannes ein weiterer Schicksalsschlag. Nun musste sie die vier Kinder alleine großziehen. Außerdem hatte sie eine Fortbildung zum Thema Transformation begonnen. Wieder bewies sie große Stärke und schloss ihre Ausbildung erfolgreich ab, obwohl der Tod ihres Mannes großes Leid und Trauer mit sich brachte. Zwei Jahre später, als die südafrikanische Polizei neun Minenarbeiter der Lonmin Platinum Mine in Marikana erschoss, ging Nomarussia auf die Frauen der ermordeten Arbeiter zu und bot ihre Unterstützung an. Sie half den Witwen nicht nur in praktischer Hinsicht, sondern mobilisierte sie und schuf Plattformen, auf denen die Frauen Gehör fanden und berichten konnten, mit welcher Wucht der Verlust ihr Leben getroffen hatte. Weder die Regierung noch das Bergwerk waren daran interessiert gewesen, für derartige Unterstützungsmaßnahmen zu sorgen. Als Resultat der Bemühungen wurden den Witwen im Jahr 2019 Wiedergutmachungszahlungen bewilligt.
Über Grenzen hinweg
Ihr Engagement für den Aufbau von sozialem Zusammenhalt geht weit über die Grenzen Südafrikas hinaus. Im Jahr 2007 war sie an der Abfassung der Erklärung von Nairobi über das Recht von Frauen und Mädchen auf Heilung und Wiedergutmachung beteiligt, einem Dokument mit weitreichender Vision für Entschädigung in Postkonfliktgesellschaften. 2008 bat das Institut für Weltwirtschaft Kiel sie, ihre Erfahrungen beim Aufbau von Aktionsnetzwerken für soziale Gerechtigkeit mit Frauen und Mädchen auf einer weltweiten Plattform zu teilen. Für ihren Mut und ihre Hingabe im Kampf für Frauenrechte und geschlechtergerechte Demokratie wurde Nomarussia 2017 der Anne-Klein-Frauenpreis verliehen. Obwohl ihre Arbeit für Frauenrechte und gegen Gewalt längst internationale Anerkennung genießt, ist die Sicherung ausreichender Mittel zur Finanzierung ihrer Projekte schwierig. „Die Regierung stellt zwar Mittel für Friedensbildung und Sicherheit bereit, aber wenn es um die Umsetzung geht, dann bekommen wir davon nichts zu sehen. Es ist ein wahrer Kampf, an Gelder zu kommen, um den Überlebenden zu helfen.“
Heimat ist wo das Herz des Aktivismus schlägt
Für Nomarussia gibt es keine Trennung von Arbeit und Privatleben. Ihr Zuhause bietet vielen Menschen einen sicheren Zufluchtsort; viele kommen von weit her, um sie zu sehen. „Meine Garage nutze ich für Workshops und in einem Raum empfange ich Leute im Gespräch. Manchmal müssen meine Kinder auf das Wohnzimmer ausweichen, um Platz zu machen für Besucher/innen, die eine Unterkunft brauchen.“ Die Coronavirus-Pandemie hat das Erbe der Ungleichheit aus der Zeit der Apartheid noch einmal an die Oberfläche geholt. Der tiefe Graben zwischen Arm und Reich wird dadurch in aller Deutlichkeit sichtbar. „Das Coronavirus ist wie ein Todesurteil für unser Volk. Es führt dazu, dass diejenigen sterben, die aufgrund historischer Ungleichheiten bereits wenig haben. Während des Lockdowns kamen Soldat/innen und schossen mit Gummikugeln auf uns; sie machten uns erneut zu Opfern.“ Aber Nomarussia gibt sich auch jetzt nicht geschlagen, sondern ist zentrale Figur in Protestaktionen. Durch Gemeinschaftsprojekte wie dem Nähen von Masken und der Herstellung von Hygieneprodukten hilft sie den Menschen, damit sie wenigstens etwas zu Essen auf dem Tisch haben. „Wenn wir Frieden stiften möchten, dann müssen wir zunächst den Menschen helfen zu überleben. Wir werden unermüdlich weiter protestieren, bis wir nicht mehr können. Wir werden nie aufgeben, so lange bis es endlich Harmonie in der Welt gibt.“
Zeugnis sein - mit jedem Schritt und jedem Wort
Nomarussia ist überzeugt, dass zur Friedensstiftung die Generationen notwendigerweise voneinander lernen müssen. „Wir müssen die Lektionen der Vergangenheit von den Älteren lernen. Und der jungen Generation vermitteln, dass sie sich lebenslang dem Streben nach Frieden verschreiben muss. Denn nichts Geringeres als das wird nötig sein.“ Ihre vier Kinder wurden in diesem Geiste erzogen. „Sie verstehen meine Arbeit“, ist die Mutter überzeugt. Wenn sie davon redet, dass wir unser Leben dem Streben nach Frieden widmen müssen, dann sind das nicht nur hohle Worte. Sie ist ein lebendiges, leidenschaftliches Zeugnis dafür, was es bedeutet, sein Leben in den Dienst für eine bessere Welt zu stellen, in der alle Menschen in Würde und frei von Gewalt leben können.
Aus dem Englischen übersetzt von Petra Kogelnig und Karina Hermes