Migration, Mahalle und Mainstream: Türkischsprachiger Rap in der Diaspora und der Türkei

Analyse

Rap ist in Deutschland und in der Türkei eines der kommerziell erfolgreichsten Musikgenres. Die Entstehungsgeschichte von türkischsprachigem Rap jedoch hat mit Selbstermächtigung, Marginalisierung und Rassismus in Deutschland zu tun.

Grafitti mit Fäusten auf einem Rollladen
Teaser Bild Untertitel
Die Fäuste von Kripoe tauchten auf Wänden sowohl in Istanbul (Foto) als auch in Berlin auf.

Als in der Türkei 2019 der Song „Susamam” („Ich kann nicht schweigen”) vom Rapper Şanışer, einem Kollektiv von 17 weiteren Rappern und einer Sängerin veröffentlicht wurde, traf dieser den Nerv der Zeit. Das Stück schneidet Themen wie Umweltzerstörung, Meinungsfreiheit oder Gewalt gegen Frauen an. Gerichtet an Politik und Gesellschaft, wurde das Stück bis heute 50 millionenfach auf YouTube geklickt, in sozialen Medien gefeiert und rief ablehnende Reaktionen bis in führende politische Kreise hervor. Hip-Hop gibt es in der Türkei seit Mitte der 1990er, er erlebte in den Jahren zuvor einen kommerziellen Aufstieg und ist spätestens seit „Susamam” endgültig im türkischen Mainstream angekommen. In der Türkei bis dahin oft noch ein Nischengenre, demonstrierte „Susamam” die ursprünglich politische Dimension von Rapmusik und kanalisierte die Wut einer ganzen Generation.

Rap als Ausdruck migrantischen Selfempowerments

Um den Aufstieg von Rap zum gesellschaftlich relevanten und auch kommerziell erfolgreichen Genre in der Türkei verstehen, ist ein Blick auf die Stimmen und Perspektiven der Töchter und Söhne sogenannter Gastarbeiter*innen in Deutschland der frühen 1990er unausweichlich. Stark beeinflusst durch die Entstehung von Hip-Hop in den USA, entwickelte sich seit den späten 1980ern eine widerständige und politisch geprägte Subkultur aus Rap, DJing, Breakdance und Graffiti in Deutschland. Tonangebend waren dabei oft junge Künstler*innen mit Migrationsgeschichte aus den urbanen Zentren des noch getrennten oder jüngst wiedervereinten Deutschlands.

Ähnlich dem afroamerikanischen Vorbild ist die Entwicklung von Hip-Hop in Deutschland als empowernde Jugendkultur auch vor dem Hintergrund rassistischer Zustände und mangelnder Solidarität der deutschen Dominanzgesellschaft zu sehen. Viele der ersten Rapsongs aus Deutschland kamen von Künstler*innen mit Migrationsgeschichte und richteten sich gegen Marginalisierung, Diskriminierung oder soziale Ungerechtigkeit. Die pogromartige Stimmung in den frühen 1990ern und die Anschläge in Rostock-Lichtenhagen, Mölln oder Solingen verstärkten die Politisierung vieler Künstler*innen, die selbst von Rassismus betroffen waren.[1]

Türkischer Rap als diasporisches Phänomen

Während es für viele Rap-Künstler*innen in Deutschland zunächst als selbstverständlich galt, Musik auf Englisch zu veröffentlichen, wagten einige schnell den Schritt zu deutschem Rap, aber auch zu türkischem. Bezeichnend dafür ist der Song „Ahmet Gündüz” von der Gruppe Fresh Familee, der als einer der ersten Rapsongs auf Deutsch gilt, aber auch die Position eines Migranten einnimmt: „Ich komm von die Türkei, zwei Jahre her und ich viel gefreut, doch Leben hier ist schwer."Der Song „Bir yabancının hayatı“ („Das Leben eines Fremden“) der Nürnberger Gruppe King Size Terror aus dem Jahr 1991 gilt als einer der ersten türkischssprachigen Rapsongs. Verschiedene Gruppen markierten in der ersten Hälfte der 1990er die Entstehung türkischsprachigen Raps[2] in Deutschland. Vor allem bekannt und zum Synonym für türkischsprachigen Rap wurde der Zusammenschluss mehrerer Gruppen unter dem Namen Cartel.

Dabei zeichnete sich „Türkrap“ nicht nur durch die Sprache, sondern oft auch durch einen eigenen Sound mit arabesken oder anatolischen Elementen aus. Rap auf Türkisch griff mit empowernden bis teils aggressiven Texten zudem die Lebensrealitäten türkeistämmiger[3] Jugendlicher auf. „Kendine bak bak, Türk olarak -lak -lak, Almanya’da kalarak, nerede bize hak?” (z.Dt: ”Achte auf dich selber, als Türk*in, du lebst in Deutschland, wo haben wir Rechte?”) rappte Cartel-Mitglied Erci E. in seinem Song „Sesini Kesme“ (z.Dt. „Halte nicht den Mund“). Viele Künstler*innen, wie beispielsweise Alper Ağa von der Gruppe Karakan, bezogen sich explizit auf rassistische Anschläge und ihre Motivation mit der Musik gegen „Ausländerfeindlichkeit” anzukämpfen.[4] Bereits früh wurden sich dafür auch beleidigende Begriffe wie „Kanacke“ oder „Almancı“ angeeignet und damit umgedeutet. Obwohl die Musik als Mittel gegen Rassismus in der deutschen Gesellschaft diente, bediente sich türkischer Rap in seiner Reaktion, teilweise auch bis heute noch, an Elementen des türkischen Nationalismus.

Neben türkischsprachigem Rap gibt es eine kaum überschaubare Anzahl türkeistämmiger Rapper*innen, die die deutsche Hip-Hop-Szene maßgeblich prägten: Von Eko Fresh, Kool Savas über Chefket, Ebow oder Haftbefehl bis hin zu BRKN, Killa Hakan oder Mero, zeichnet sich deutscher Rap heutzutage auch durch eine Vielzahl an Stilen aus. Dabei ist der Wechsel von Sprachen oder die Verwendung von türkischen, kurdischen oder anderen fremdsprachlichen Wörtern, die somit oft auch in die deutsche Jugendsprache übergehen, keine Seltenheit.

Hip-Hop in der Türkei zwischen Protest und Kommerz

Die Gruppe Cartel wurde unter Jugendlichen in Deutschland bekannt, aber vor allem auch in der Türkei zum Phänomen. Der Export ihrer Musik hat die Entstehung einer Hip Hop-Szene in dem Land losgetreten und neue Künstler*innen inspiriert. Seit den frühen 2000ern bereits galt Ceza, Mitglied des ehemaligen Duos Nefret, als einer der Wegbereiter für Rap aus der Türkei. Sprachlich versierter als viele in der Diaspora sozialisierte Künstler*innen, wurden Ceza und andere seiner Generation zu den neuen Vorreiter*innen ihres Genres.

Trotz einer konstant wachsenden Szene blieb Hip-Hop in der Türkei lange ein Phänomen, das bis auf einige bekannte Künstler*innen als nicht mainstreamkompatibel galt oder gelten sollte. Mit dem Aufstieg sozialer Medien und Streamingplattformen änderten sich sowohl die Möglichkeiten, die Musik zu vermarkten und mangels staatlicher Kontrolle auch der Charakter vieler Produktionen. Hip-Hop entwickelte sich in den späten 2010ern in einer Art Wiedergeburt zu einem der populärsten Genres im Land. Mit türkischen Ablegern von Gangsterrap, Trap und anderen Substilen wurden Geschichten vom materiellen Aufstieg aus der abgehängten Mahalle, also dem Stadtviertel, oder Themen wie Drogenkonsum und Gewalt präsenter, die in regulierten staatlichen Medien der Zensur anheimfallen würden. Doch auch Beispiele für sozialkritischen Rap gibt es genug: Der Rapper Ozbi bezieht sich mit seinem Song „Asi“ (Aufständischer) auf die Gezi-Proteste 2013. Das Trio Tahribad-ı İsyan wurde bekannt durch seine Kritik an der Gentrifizierung ihres Stadtteils, dem von Rom*nia bewohnten, historischen Istanbuler Bezirk Sulukule.

In Anbetracht von Diskriminierung und der Dominanz der urbanen Mittelschicht sind Minderheiten im Rap aus der Türkei wenig präsent. Kurdischsprachiger Rap ist bisher vom Erfolg des Genres ausschlossen, besteht aber aus einer wachsenden und selbstbewussten Szene mit Künstler*innen wie Roni Artin, Reqso oder XEM.[5]

Transnationale Biografien und feministische Stimmen

Die Biografien einiger Künstler*innen stehen exemplarisch für die vieler Transmigrant*innen, deren Leben sich zwischen oder in beiden Ländern abspielen.[6] Die Rapper Fuat und Ezhel können als zwei prominente Beispiele genannt werden. Fuat, ein Untergrundpionier des türkischen Raps in seiner Heimatstadt Berlin, zog später nach Istanbul und wurde erst in der Türkei zu einem bekannten Künstler. Der aus Ankara stammende Künstler Ezhel wiederum gilt als der mittlerweile wohl erfolgreichste Künstler einer neuen Generation von Rapper*innen aus der Türkei. Nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt und anschließendem Umzug nach Berlin führt er seitdem von dort aus die Charts der Streamingdienste in der Türkei an. Mit Songs wie „Olay” ( „Der Vorfall”) thematisiert er zudem politische Entwicklungen in der Türkei, bezieht sich mit dem Song „Mayrig” (Armenisch für „Mutter”) auf das türkisch-armenische Verhältnis oder covert auch mal kurdische Songs.[7] Während viele seiner Stücke mittlerweile von einem oppositionellen Unterton geprägt sind, distanzierte er sich auch von sexistischen und homofeindlichen Inhalten früherer Veröffentlichungen.[8] 

Dass sexistische oder homofeindliche Texte im Hip-Hop keine Seltenheit sind, aber konträr zu den ursprünglich empowernden Absichten stehen, gilt als eine der bekanntesten Ambivalenzen des Genres. Mehrere Generationen an Rapperinnen stellen deutschen Rap als Männerdomäne unlängst infrage und prangern sexistische Strukturen an. Die in Berlin geborene Aziza A. bezeichnet sich als erste türkisch-deutsche Rapperin und rappt oder singt  seit 1997 mehrsprachig. Als eine der provozierendsten, aber auch wichtigsten feministischen Figuren gilt die in Bremen geborene und aus einer alevitischen Familie stammende Künstlerin, Wissenschaftlerin und Autorin Reyhan Şahin alias Lady Bitch Ray. In ihren deutschsprachigen Songs beschäftigt sie sich mit misogynen Strukturen im Deutschrap, nutzt dabei aber auch türkischen Slang, den die deutsche Hörerschaft ohne weitere Erklärung nicht versteht. Auch die deutsch-kurdische Rapperin Ebow aus München möchte mit ihrer Musik und Songs wie dem 2019 erschienenen „K4L”, kurz für „Kanak for life”, migrantischen, queeren und anderen marginalisierten Positionen mehr Sichtbarkeit geben. Zudem sorgte der Hashtag #DeutschrapMeToo im Sommer 2021 zumindest kurzzeitig für eine Debatte über sexualisierte Gewalt und sexistische Texte in der Szene.

In der Türkei wollen Künstlerinnen wie die seit Jahren aktive Ayben, die Schwester des Künstlers Ceza, oder junge Künstlerinnen wie Elanur oder Lil Zey ihr Genre nicht Männern und etablierten Strukturen überlassen. Trotz früher und steigender Sichtbarkeit sind Frauen auch im (deutsch-)türkischsprachigen Rap noch immer unterrepräsentiert.

Ebow
Ebow spannt einen eklektischen Bogen zwischen Poesie auf Zaza und feministischen Ansagen.

Anfang der 1990er entstand türkischsprachiger Rap als empowerndes Stilmittel, das den Protest der Kinder der ersten Generation der Migrant*innen aus der Türkei in Deutschland transportierte. Heutzutage ist türkischsprachiger Rap längst als transnationales Genre zu verstehen, das in der Türkei wie in der Diaspora produziert wird, in dem sich Künstler*innen grenzüberschreitend beeinflussen oder featuren und das von der Hörer*innenschaft international konsumiert wird. Mit der jüngsten Welle an Künstler*innen in der Türkei der späten 2010er befindet sich auch türkischsprachiger Hip-Hop in einem Spagat zwischen Materialismus, Kunst und Gesellschaftskritik. Trotz vieler Widersprüche, die dem eigenen Anspruch des Genres schaden, schaffte es türkischsprachiger Hip-Hop bis heute immer wieder, seine politische Dimension und Relevanz zu unterstreichen.

Playlist zum Artikel

Die chronologisch geordnete Spotify-Playlist zum Artikel enthält Klassiker, die die Entstehung von deutschem wie auch türkischem Rap geprägt haben, Songs die szeneintern bekannt sind, sowie aktuelle Veröffentlichungen von in der Türkei und in Deutschland erfolgreichen Künstler*innen. Deutlich dabei wird die Entwicklung des Genres in rund 30 Jahren, die breite Schaffenspalette und Varietät an Stilen sowie die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Künstler*innen aus Deutschland und der Türkei. Einige der Songs enthalten explizite Texte.
 

Dieser externe Inhalt erfordert Ihre Zustimmung. Bitte beachten Sie unsere Datenschutzerklärung.

video-thumbnailOpen external content on original site

 

>> Zur türkischen Version des Artikels auf der Webseite unsere Büros in Istanbul.

 


[1] Siehe Antifaschistisches Infoblatt, Nr. 130, S. 14

[2] Wo möglich und sinnvoll, wird in diesem Text die Bezeichnung türkischsprachiger Rap genutzt, da diese sowohl türkischsprachigen Rap aus der Türkei als Rap von türkischsprachigen Künstler*innen aus Deutschland miteinschließt.

[3] Aus Mangel an einem Begriff, der es adäquat ermöglicht, die ethnische Vielfalt der Türkei und ihrer Diasporas abzubilden, nutze ich in diesem Text das Wort „türkeistämmig“, obwohl ich mir der Kritik an dem Begriff bewusst bin.

[4] Siehe Ausschnitt aus der TV-Sendung VIVA Freestyle, Interview mit Karakan und verschiedenen Künstlern: https://www.youtube.com/watch?v=KqJkvNiCtTM

[5] Siehe +90: Kürtçe rap yapmak: "Bir Kürt rapçi de Ceza gibi geniş kitlelere ulaşabilir" https://www.youtube.com/watch?v=YREzh2y8jO8

[6] Siehe Ayhan Kaya »Sicher in Kreuzberg« Constructing Diasporas: Turkish Hip-Hop Youth in Berlin, 2001, transcript Verlag

[7] Siehe Ezhel – Malan Barkir: https://www.youtube.com/watch?v=hL5CH5rgYbg

[8] Siehe: Duvar English – Popular Turkish rapper Ezhel apologizes for past sexist, homophobic lyrics https://www.duvarenglish.com/popular-turkish-rapper-ezhel-apologizes-fo…