Perspektiven und Reaktionen auf den Ukraine-Krieg in Asien

Einführung

Der Beitrag gibt einen Überblick, wie der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine in verschiedenen Regionen und Ländern Asiens betrachtet und bewertet wird und wie die dortigen Regierungen sich positionieren und reagieren: in den südostasiatischen ASEAN-Staaten, in Nordost-Asien sowie in Indien, China und Myanmar.

Proteste in Tokyo gegen Russlands Ukraine-Krieg.
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Proteste in Tokyo gegen Russlands Ukraine-Krieg.

Reaktionen in Südost-Asien

Das Spektrum der Reaktionen südostasiatischer Staaten auf die russische Invasion der Ukraine reicht von ausdrücklicher Verurteilung bis konsequenter Enthaltung. Geopolitisch spielt hier auch das Verhältnis zu China eine wichtige Rolle.

Vom Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) kam eine sehr schwache Reaktion zum Ukraine Krieg.  Weder die Worte „Russland“ noch „Invasion“ werden in der Erklärung der ASEAN-Außenminister verwendet, in der zu friedlichem Dialog und Verhandlungen aufgerufen wird. Das entspricht dem Prinzip des Verbands, sich nicht in die Angelegenheiten anderer Länder einzumischen und zwischen größeren Staaten auszubalancieren. Gleichzeitig ist Russland ein wichtiger Handelspartner und – laut Daten des Stockholm International Peace Research Institute – Südostasiens wichtigster Waffenlieferant, während aus der Ukraine wichtige Rohstoffe in die Region exportiert werden. Dementsprechend könnte Russlands Invasion der Ukraine die wirtschaftliche Erholung der Region nach COVID beeinflussen, da der Konflikt verschiedene Rohstoff- und Energiepreise – insbesondere Öl, Nickel, Weizen und Mais – in die Höhe schnellen lässt.

Innerhalb Südostasiens herrscht allerdings Uneinigkeit und die Reaktionen fallen sehr unterschiedlich aus. Neun der elf Länder haben für die erste UN-Resolution gestimmt, Laos und Vietnam haben sich enthalten. In der Resolution zum Ausschluss Russlands aus dem Menschenrechtsrat haben sich die meisten südostasiatischen Staaten enthalten, nur die Philippinen und Timor Leste haben dafür gestimmt.

Singapurs Reaktion auf die Sanktionen und die ausdrückliche Verurteilung des Vorgehens Russlands war die stärkste aus der Region und spiegelt die Priorität und den Einsatz des kleinen Staates für eine internationale Ordnung wider. Gleichzeitig verfügt Singapur auch über die höchsten Militärausgaben pro Kopf und das am besten ausgestattete Militär in Südostasien. Andere Länder, darunter auch wichtige Staaten wie Thailand, Indonesien und Malaysia, waren sehr viel vorsichtiger in ihren öffentlichen Verlautbarungen.

Die Bemühungen von Thailands de-facto Militärregierung um Neutralität zeigen sich anschaulich anhand der stillschweigenden Absetzung des Chefs des armee-eigenen Fernsehkanals, Channel 5. Dieser hatte eine russlandfreundliche Politik vertreten, entsprechende Sendungen gezeigt und (Falsch-)Informationen verbreitet, bis Ende März eine seiner Sendungen plötzlich unterbrochen wurde und sich die Armee öffentlich für „technische Probleme“ entschuldigte. Ähnlich wie in Myanmar stehen hier viele Mitglieder der alten Eliten hinter Russlands Angriffskrieg, während jüngere pro-demokratische Aktivist:innen die russische Politik stark kritisieren.

Am Beispiel Vietnam wird das geopolitische Dilemma besonders deutlich, in dem sich viele südostasiatische Staaten momentan befinden – schließlich war Vietnam bereits während des Kalten Krieges zwischen die Fronten des geopolitischen Dreiecks USA-China-Russland geraten. Russland ist nicht nur Vietnams wichtigster Waffenlieferant, sondern auch zentraler strategischer Partner für die Exploration von Öl- und Gasvorkommen im südchinesischen Meer. Auch die Biden-Administration in Washington schreibt in ihrer Indo-Pazifik-Strategie Vietnam als prioritären Sicherheitspartner fest und investiert zunehmend in wirtschaftliche und militärische Beziehungen trotz ideologischer Differenzen. Sowohl die USA als auch Russland sind für Vietnam zentral, um mit der wachsenden Bedrohung seiner Sicherheit durch Beijing umzugehen. Hier wächst seit dem Ukraine-Krieg die Angst, dass sich China bei seinem Vorgehen im Konflikt im südchinesischen Meer, unter anderem noch stärker auf sogenannte „grey zone“ Taktiken (knapp unterhalb der Kriegsschwelle) konzentrieren könnte.

Reaktionen in Nordost-Asien

Die nordostasiatischen Demokratien Japan und Süd-Korea haben die russische Invasion der Ukraine Ende Februar in der Sondersitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 2. März 2022 verurteilt. Dies war eine grundsätzlich wertegeleitete Entscheidung. Beide Staaten verstehen sich als Teil der globalen Allianz demokratischer Kräfte, was nicht zuletzt von deutscher Seite auch dadurch gespiegelt wird, dass Bundeskanzler Olaf Scholz für seinen ersten Besuch in Asien am 29. April 2022 Japan (und nicht etwa die Volksrepublik China) bereiste.

Zugleich wird die Perzeption des Kriegs von politischen Eliten und Bevölkerung in beiden Ländern jedoch stark von der eigenen regionalpolitischen Situation geprägt. Da ist zum einen die Angst vor dem aggressiven und undurchschaubaren Nachbarn Nord-Korea, der an seiner nuklearen Aufrüstung arbeitet und immer wieder ballistische Raketentests durchführt; zum anderen sind mit China und Russland zwei Großmächte in der Region präsent, mit denen zumindest Japan auch Territorialkonflikte hat, die in Krisensituationen Eskalationspotenzial haben. Der Angriff auf die Ukraine aktualisiert solche Bedrohungsperzeptionen und -szenarien in der Bevölkerung. In Japan wird diese Lage, wie der Partner der Heinrich-Böll-Stiftung, Akira Kawasaki von „Peace Boat“ [vgl. separates Interview] sagt, von Teilen der Liberal Democratic Party (LDP), der wichtigsten Partei in der gegenwärtigen Regierungskoalition, dazu genutzt, eine Ausweitung des rüstungspolitischen Spielraums zu verfolgen: Der Rüstungshaushalt soll analog zu NATO-Standards erhöht werden; die Definition von unter der „pazifistischen“ Verfassung Japans erlaubten Rüstungsgüter soll ausgeweitet werden, ohne allerdings die Verfassung selbst zu ändern. Solche Vorschläge sind und bleiben in der japanischen Gesellschaft kontrovers.

Während für beide Länder China der bei weitem wichtigste Partner für Handel und Investitionen in der Region ist, haben sie auch intensive wirtschaftliche Verbindungen mit Russland. Die japanische Regierung hat sich den westlichen Sanktionen gegen Russland angeschlossen; eine Ausnahme besteht – wie in Europa – bei Energieimporten, wo Japan allerdings keinen vergleichbaren Grad der Abhängigkeit von Russland hat wie etwa Deutschland. Süd-Korea hat zunächst versucht, seine relevanten wirtschaftlichen Interessen im Handel mit Russland nicht durch Sanktionen zu gefährden, doch haben die USA seit Februar erheblichen politischen Druck auf die Regierung ausgeübt, sich an den umfassenden Handelssanktionen gegen Russland zu beteiligen.

Zivilgesellschaftliche Netzwerke wie Peace Boat in Japan und People’s Solidarity for Participatory Democracy in Süd-Korea stehen der Regierungspolitik in eigenen Land oft kritisch gegenüber und mobilisieren Kontakte zu Regierungen, Think Tanks und NGOs in allen Staaten der Region, um zu einer Deeskalation der Spannungen in Nordostasien beizutragen und Verhandlungsoptionen auszuloten.

In Taiwan hat der Ukraine-Krieg die Furcht vor einer Invasion der Insel durch die chinesische Volks­befreiungsarmee aktualisiert. Der Kriegsverlauf scheint die Stärken einer motivierten, technologie­gestützten Verteidigungsstrategie gegen einen überlegenen Angreifer aufzuzeigen, was in Taiwan zu einer Überprüfung der eigenen Konzepte führt. Taiwans strategische Position in der globalen Halbleiterproduktion scheint durch Sanktionen und Störungen in den Lieferketten kurzfristig nicht gefährdet. Doch aufgrund der fundamentalen Unsicherheit über die Zukunft der Insel hat bereits vor dem Krieg eine geographische Diversifizierung des Sektors durch den Aufbau von „Fabs“ (Produktionsanlage für integrierte Schaltkreise) in den USA, Japan und Europa begonnen.

Reaktion Indiens und seine Diplomatie des „Multi-Alignment“

Seit Beginn des Krieges in der Ukraine wurde ein strenges Sanktionsregime gegen Russland etabliert, das von führenden Regierungen der EU, den Vereinigten Staaten und ihren Koalitionspartnern vorangetrieben wird. Mit der neutralen Positionierung Neu-Delhis sind diese Länder alles andere als glücklich. Ihre Botschaft ist eindeutig: Indien sollte eine härtere Gangart gegenüber Russland an den Tag legen. In den letzten Wochen besuchten in schneller Abfolge etliche Diplomat*innen Indien, unter anderem aus den USA, dem Vereinigten Königreich, Deutschland, Japan und den Niederlanden. Der „Westen“ fordert Indien auf, einen „prinzipienbasierteren“ Standpunkt gegenüber Russland einzunehmen und seine Position bei der UN und anderen multilateralen Foren zu ändern. Indien solle dabei Russland kein Öl abkaufen oder auch von einer Rupien-Rubel-basierten Handelsvereinbarung mit Russland absehen, welche möglicherweise die Sanktionen umgeht oder die russische Wirtschaft stützt. 

Die USA und Europa haben Indien darüber hinaus signalisiert, es dabei zu unterstützen, seinen Bezug von Waffen und militärischem Gerät dahingehend zu diversifizieren, dass Indien auf keine Waffensysteme aus Russland mehr angewiesen ist. Ihre frühere Zurückhaltung bei der Weitergabe moderner militärischer Ausrüstung an Indien haben die USA und Europa dabei aufgegeben.

Der indische Außenminister S. Jaishankar erklärte, Indiens Position zur Lage in der Ukraine basiere auf der „sofortigen Einstellung der Gewalt und der Beendigung der Feindseligkeiten“, „einer Rückkehr zum Weg des Dialogs und der Diplomatie und einer globalen Ordnung, die auf dem Völkerrecht, der UN-Charta und der Achtung der territorialen Integrität und Souveränität aller Staaten beruht“. Jaishankar sagte, dass Indiens außenpolitische Entscheidungen in derartigen Angelegenheiten im Einklang mit den nationalen Interessen getroffen würden und von den Überzeugungen, Ansichten und Interessen seines Landes geleitet seien. Indien hat sich in den Resolutionen des UN-Sicherheitsrates und der Generalversammlung, in denen das Vorgehen Moskaus verurteilt wurde, wiederholt der Stimme enthalten. Auf der anderen Seite hat Indiens Premierminister Narendra Modi sowohl mit Präsident Putin als auch mit Selenskyi darüber gesprochen, was Indien tun könne, um eine Einstellung der Feindseligkeiten und den Dialog als Weg zur Lösung und Deeskalation der Spannungen zu fördern. Auf Ersuchen der Ukraine leistete Indien humanitäre Hilfe und schickte medizinische Hilfsgüter in die Ukraine.

Trotz des westlichen Drucks und Indiens grundsätzlicher und sich verstärkender Nähe zum Westen wird sich Indiens Reaktion auf den Ukraine-Krieg wahrscheinlich nicht ändern. Denn es sind komplexe und unvermeidliche geopolitische Gründe sowie nationale Interessen im Spiel. Die Betonung auf „Dialog und Diplomatie“ ist bezeichnend dafür, wie Indien den Krieg sieht: Es handelt sich aus indischer Perspektive um einen geopolitischen Konflikt zwischen Russland und der NATO, der seine Wurzeln in der Sicherheitsordnung der Zeit nach dem Kalten Krieg hat. Indien hat eine Geschichte der Blockfreiheit, ein außenpolitischer Imperativ,  der es ablehnt, in die Politik der Großmächte verwickelt zu werden. Obgleich sich diese Politik seither weiterentwickelt hat, bleibt die „strategische Autonomie“ ein wichtiger Schwerpunkt der indischen Außenpolitik.

Auf nationaler Ebene hat die indische Regierung für ihre Position sogar von der politischen Opposition Lob erhalten, was selten ist. Die indisch-russische Freundschaft reicht bis in die 1950er Jahre zurück. Und obwohl die Beziehungen seit einigen Jahrzehnten nicht mehr dieselben sind, gilt die diplomatische „Freundschaft“ als bewährt. Russland hat Indien beigestanden, als andere Länder dies nicht taten. So hat Russland z.B. mehrfach sein Vetorecht bei der UNO genutzt, um Indiens Interessen zu verteidigen, unter anderem in der Kaschmirfrage. Russland (bzw. damals die Sowjetunion) stand während des Kalten Krieges fest an der Seite Indiens, als die USA sich mit Pakistan verbündete. Die aktuelle Haltung der indischen Regierung gegenüber Russland findet auch bei einer großen Mehrheit der indischen Bevölkerung Anklang. Die indische Öffentlichkeit bringt Russland seit jeher ein hohes Maß an Wohlwollen entgegen.

Auch jenseits diplomatischer Beziehungen und der öffentlichen Meinung bleibt Russland zudem ein wichtiger Lieferant von Waffen, Rohstoffen und Importen, die für die Energiesicherheit Indiens benötigt werden.

Nicht weniger als 60 Prozent der indischen Militärausrüstung wird aus Russland bezogen, die es Indien ermöglichen sollen, gegenüber seinen beiden atomar bewaffneten Nachbarn Pakistan und China, gewappnet zu sein. Trotz der Androhung von Sanktionen durch die USA hat Indien die Einfuhr des für seine militärische Abschreckungsstrategie wichtigen russischen Raketensystems S-400 vorangetrieben. Wenngleich das Land in den letzten zehn Jahren versucht hat, seine Waffenkäufe zu diversifizieren und mittlerweile vermehrt Rüstungsgüter von Großbritannien, Frankreich, Israel und den USA zu beziehen, so bleibt die Beschaffung aus Russland doch kostengünstig und macht weiterhin den Löwenanteil aus.

Darüber hinaus besteht eine Pfadabhängigkeit aufgrund bisheriger Rüstungsimporte aus Russland, auch in Bezug auf Ersatzteile und Handhabung, die eine Abkehr Indiens von der russischen Lieferabhängigkeit auf kurze Sicht unrentabel macht. Dies gilt insbesondere in der gegenwärtigen Situation, in der Indien mit großen Sicherheitsbedrohungen in der Region konfrontiert ist.

Die Kernenergie ist ein weiterer Bereich, in dem die Zusammenarbeit mit Russland von entscheidender Bedeutung ist, da Russland das einzige Land ist, das in Indien erfolgreich in den Bereich der Kernenergieerzeugung eingestiegen ist.

Allerdings sind auch andere geopolitische Entwicklungen wie die Intensivierung der Beziehungen zwischen Russland und China in den letzten Jahren besorgniserregend für Indien. Sei es die „Groß-Eurasische Partnerschaft“, die das Eindringen des Westens in die Region verhindern soll, oder eine „Grenzenlose Freundschaft“ zwischen den beiden Mächten. Nicht weniger besorgniserregend ist aus indischer Perspektive das wachsende bilaterale Engagement Russlands mit Pakistan, das ebenfalls starke Verbindungen zu China pflegt.

In gewissem Maße sichert sich Indien gegen seine sicherheitspolitischen Herausforderungen ab, indem es sich einerseits in den von Russland und China geführten Institutionen wie der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), dem RIC-Forum (Russland, Indien, China) und den BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) engagiert, während es zugleich Mitglied im „quatrilateralen Sicherheitsdialog“ (QUAD) für den indopazifischen Raum, bestehend aus den USA, Australien, Indien und Japan, ist. Dies steht im Einklang mit den Bemühungen Indiens um ein multipolares Asien sowie mit Indiens nationalen Interessen, die durch diesen außenpolitischen Ansatz des „multi-alignment“ (multiple Ausrichtung der Außenpolitik) in den Vordergrund gestellt werden.

Große Teile der indischen Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit lehnen den Krieg grundsätzlich ab und unterstützen daher die Position der indischen Regierung zur sofortigen Einstellung der Gewalt in der Ukraine. Von der Linken bis zur Rechten des politischen Spektrums scheint hier Einigkeit zu herrschen. Viele Inder*innen hegen aber auch ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber dem Westen aufgrund seiner langen Geschichte der Kolonisierung. Viele sind zynisch gegenüber der Verteidigung von „Demokratie und Freiheit“ durch den Westen, die zu oft als Deckmantel für die Ausweitung geopolitischer Einflusssphären durch Stellvertreterkriege und „regime change“ diente. In der öffentlichen Erinnerung steht die russische Solidarität durch die Hilfe während des Höhepunkts der COVID 19-Pandemie im Jahr 2021 in scharfem Kontrast zur Weigerung des Westens, die geistigen Eigentumsrechte an COVID 19-Impfstoffen auszusetzen. Eine solche Aussetzung (waiver) wurde von Indien und Südafrika bei der WTO beantragt, um mehr Impfgerechtigkeit für den Globalen Süden zu erreichen.

Nur sehr wenige indische Kommentare und Leitartikel haben den Krieg in der Ukraine als „Invasion“ bezeichnet. Einige haben die allgemeinere Frage gestellt, ob ein Land, das eine globale Führungsrolle anstrebt, sich „Neutralität“ überhaupt leisten kann und ob sich Indien nicht viel mehr dafür entscheiden sollte, eine aktive Rolle bei der Gestaltung der Weltpolitik zu spielen. Auch wurde die Frage aufgeworfen, welchen Preis die „Neutralität“ Indiens gegenüber Russland für Indiens moralisches Ansehen und seine Glaubwürdigkeit mit sich bringen würde.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheint es für Indien jedoch wichtig, seine „strategische Autonomie“ zu bewahren, um seine Kerninteressen zu verteidigen, indem es sich für Pragmatismus und nicht für „moralischen Absolutismus“ entscheidet. Regionale Sicherheitsbedenken und die Auswirkungen der Ukraine-Krise auf Asien zwingen Indien außerdem dazu, seine zentralen Sicherheits- und Entwicklungsinteressen zu schützen. Eine multiple Ausrichtung der Außenpolitik, also eine in mehrere Richtungen (multi-alignement) und ein damit verbundenes starkes diplomatisches Engagement zur Aufrechterhaltung guter Beziehungen sowohl zum Westen als auch zu Russland bleiben die Eckpfeiler der indischen außenpolitischen Bestrebungen.

Reaktionen Pekings: „Virale Front“ im eigenen Land bindet die Aufmerksamkeit

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar wird in der Volksrepublik China, noch vorwurfsvoller als bisher, über den – aus chinesischer Sicht – eigentlichen Aggressor gesprochen: die Vereinigten Staaten von Amerika. Aus offizieller Sicht, aber auch aus Perspektive vieler Angehöriger der Elite, begann Russland keinen Angriffskrieg. Stattdessen werden die russischen Beschreibungen des Kriegs in den chinesischen Medien weitestgehend übernommen. Dies gilt insbesondere für das Narrativ einer „Verteidigungsoffensive“ gegen die in Russland so benannte „NATO-Osterweiterung“. Zu welchen sprachlichen Verrenkungen die chinesische Regierung in den ersten Tagen der russischen Invasion griff und wie die Reaktionen aus Hongkong und Taiwan ausfielen, hat das Singapurer Portal Initium Media bereits zusammengetragen.

Zwar ist in den chinesischen Staatsmedien mittlerweile auch schon von einem „bewaffneten Konflikt“ die Rede, nach wie vor gelten „Invasion“ oder „Annexion“ als Tabuwörter. Freie Bahn jedoch haben staatliche Think Tanks und Mikroblogs einflussreicher Kommentatoren bei ihrer ganz eigenen geopolitischen Prognose: das nächste Großziel sogenannter US-finanzierter Aggression und Sanktionen werde China selbst sein. Entsprechend groß fällt die Unterstützung für Wladimir Putin aus, der nicht nur in den sozialen Medien von einer großen Zahl an Sympathisanten als starker Mann verherrlicht wird. Er erhält auch Unterstützung von nationalistischen Intellektuellen und Akademiker:innen, sogenannten zuogun, lautstarken „linken Prügeln“, die Moskaus Entnazifierungspropaganda teils wörtlich übernehmen. Angesichts des öffentlichen intellektuellen Vakuums in der Volksrepublik bleiben diese Aussagen medial größtenteils unwidersprochen. Im Privaten sympathisieren jedoch viele, gerade auch die junge urbane Elite, mit der ukrainischen Sache.  Zwei Dinge fallen auf: öffentlich verhalten sich wichtige Akteure, wie die Parteihochschule in Peking, erstaunlich still. Und von einer echten strategischen Partnerschaft zwischen China und Russland sprechen selbst die parteinahen Think Tanks der chinesischen Elite-Universitäten nicht.

Seltener Widerstand gegen den Krieg

Natürlich finden sich in einem Land von der Größe Chinas auch einige Stimmen, die sich, zum Beispiel in einem offenen Brief prominenter Akademiker:innen, gegen die Invasion der Ukraine aussprechen. Diese Stimmen fallen im streng kontrollierten Mediensystem Chinas jedoch meist bereits nach wenigen Stunden der Zensur zum Opfer. Die bislang deutlichste Einlassung gegen den Krieg kommt von einem hochrangigen Regierungsberater aus Shanghai, der am 5. März davor warnte, sich zu sehr an Russlands Seite zu stellen, und der die konstruktive Rolle Chinas betonte: „Wenn Putin nicht mehr auf die chinesische Unterstützung bauen kann, wird er höchstwahrscheinlich den Krieg beenden oder zumindest eine weitere Eskalation vermeiden“, so Prof. Hu Wei, Vizevorsitzender eines Beratergremiums, das direkt dem chinesischen Staatsrat unterstellt ist (国务事室 das guowuyuan canshishi). International dürfte China für die Bewahrung des Weltfriedens großes Lob gewiss sein. Das wird das Land vor Isolation schützen und ihm Gelegenheit geben, die Beziehungen zu den USA und zum Westen zu verbessern“, so Hu weiter. Das politische System der VR China sieht gemeinhin vor, dass derart prominente Einlassungen nicht ohne Zustimmung der Vorgesetzten stattfinden dürfen. Im Machtzentrum der Partei ist also keinesfalls sichergestellt, dass der „nach oben offenen“ Freundschaft zwischen Russland und China, wie es in der gemeinsamen Erklärung vom 4. Februar hieß, auch tatsächlich alle Spitzenkräfte zustimmen. Der Artikel ist offiziell gesperrt, wird aber von chinesischen Netzbürger:innen durchaus weiter diskutiert.

Tauschhandel statt Partnerschaft

Die Achse Moskau – Peking geht in erster Linie aus ähnlichen nationalen Interessen hervor. Wladimir Putins Besuch vor Beginn der Olympischen Winterspiele in Peking besiegelte möglicherweise einen geopolitischen Tauschhandel: chinesische Unterstützung für Russland gegen russische Unterstützung für China in Bezug auf die im Februar veröffentlichte Indo-Pazifik-Strategie von US-Präsident Biden, durch die sich China in seinen Sicherheitsinteressen bedroht fühlt.

Die für China relevantere Schlacht findet aktuell im Inland statt: eine erfolgreiche Umsetzung der „Zero Covid“-Strategie, mit welchen drakonischen Maßnahmen auch immer, stellt bis zum 20. Parteitag im November eine wesentlich wichtigere Messlatte für die politische Stabilität im Land dar als die militärischen Kampfhandlungen in Europa. Grundsätzlich ist der Krieg für die allermeisten Chines:innen weit weg. Er wird vor allem als Ausdruck eines Showdowns der USA gegenüber dem Erzrivalen aus Zeiten des Kalten Krieges verstanden – mit einer nahenden offenen Auseinandersetzung mit China als logischer Folge daraus.

Es scheint, dass die chinesische Führung die mit ihrer Unterstützung für Russland einhergehende wachsende internationale Isolation bereit ist solange aufrechtzuerhalten, wie der virale Kampf zu Hause Fortschritte macht. Doch diese Front erweist sich momentan als fast genauso zäh wie der Widerstand der Ukraine gegen Russlands Angriff. Es bleibt abzuwarten, ob auf dem 20. Parteitag der KPCh im November neben zukunftsweisenden Personalfragen der Erfolg im Kampf gegen das Virus auf ähnliche Weise verkündet werden wird wie die geplante russische Siegesfeier am 9. Mai.

Myanmars Putschisten ergreifen Partei für Russland

Mit Myanmars Militärregierung hat Russland einen der wenigen Verbündeten weltweit. Die Demokratiebewegung hingegen verurteilt den russischen Angriffskrieg, solidarisiert sich mit der Ukraine und fordert auch für ihre eigene Sache mehr internationale Unterstützung.  

In Myanmar werden der Ukrainefeldzug Russlands und die internationalen Reaktionen genau beobachtet. Demokratieaktivist:innen sehen Parallelen der russischen Invasion zur eigenen Unterdrückung und dem Mangel an Selbstbestimmungsrechten im eigenen Land. Das burmesische Militär, das sich im Februar 2021 an die Macht geputscht hat, führt zahlreiche blutige Konflikte mit Prodemokratie-Bewegungen im Zentralland und ethnischen bewaffneten Organisationen in den Grenzregionen. Die internationalen Reaktionen nach dem Putsch hielten sich jedoch in Grenzen – wichtige Anrainerstaaten wie Thailand, China und Indien bezogen keine Positionierung und rangen sich nur zu milden Verurteilungen der Gewalt durch, während die USA und EU einige Sanktionspakete schnürten, die sich gegen Militärangehörige und militärnahe Firmen richten. 

Seit Ausbruch des Ukrainekriegs gibt es zahlreiche Solidaritätsbekundungen aus der myanmarischen Zivilbevölkerung mit Ukrainer:innen. Gleichzeitig werden Rufe nach militärischer Unterstützung der prodemokratischen Kräfte laut, analog wie sie die Ukraine jetzt vom Westen erhält. Auch geraten Länder wie Japan, Singapur oder Südkorea, die zwar Sanktionen gegen Russland und Belarus mittragen, aber keine Sanktionen gegen Myanmar verabschiedet haben, verstärkt in die Kritik.

Historisch steht das Militär in Myanmar sowohl Russland als auch der Ukraine nahe. Beide Länder haben in den vergangenen Jahren Waffen an die burmesischen Streitkräfte geliefert, denen insbesondere Russland als starker Partner gilt. Deshalb ist es auch wenig verwunderlich, dass die burmesischen Generäle die russische Invasion unterstützen und verlauten ließen, dass Russland nur seine Souveränität verteidige. In der UN-Vollversammlung zeigt sich dennoch ein anderes Bild: Myanmar wird dort von U Kyaw Moe Tun, einem Pro-Demokraten, vertreten, der vom Militär des Hochverrats beschuldigt wird, aber auf UN-Ebene noch nicht von den Putschisten ausgetauscht werden konnte. U Kyaw Moe Tun schloss sich im Namen Myanmars allen Verurteilungen gegen die russische Invasion in der Vollversammlung an.

Insbesondere die weiteren Positionierungen der USA und der EU zum Ukrainekrieg werden für den Myanmarkonflikt von großer Bedeutung sein, denn mit jeder neuen Sanktionsrunde gegen Russland und jeder neuen Waffenlieferung an die Ukraine steigt auch die Erwartungshaltung der myanmarischen Demokratiebewegung mit der Frage, warum ähnliche Maßnahmen nicht für Myanmar ergriffen werden, um die Militärjunta in die Knie zu zwingen.

 


Wir bedanken uns bei allen Kolleg:innen in Berlin und in den Auslandsbüros, die an dem Artikel mitgearbeitet haben.