Welche Auswirkungen könnten die Zwischenwahlen in den USA auf Brasilien haben? Jair Bolsonaro hat eine öffentlich bekannte und langjährige Beziehung zu Donald Trump, einschließlich eines gemeinsamen Weggefährten.
Im brasilianischen Präsidentschaftswahlkampf sowie auch bei den US- Zwischenwahlen (US-Midterms) sind es Themen von Werten und Moral, die im Vordergrund stehen. Die Aufhebung des Urteils Roe vs. Wade (welche das Recht auf Abtreibung in der Verfassung festschrieb) durch den Obersten US-Gerichtshof befeuerte die politische Debatte in den USA mit heftigen Protesten auf beiden Seiten des politischen Spektrums, auf den Straßen und in den Medien. In Brasilien stellen die Kandidaten (insbesondere der amtierende Präsident) wiederholt Glaubensfragen wie Religionsfreiheit, Familie und Gott in den Mittelpunkt.
Der Disput in Brasilien ist so aufgeladen, dass gegen beide Kandidaten sogar schon Satanismusvorwürfe laut wurden. Die von Moral und Werten getriebene Agenda, die während des Wahlkampfs hochgehalten wird, ist symbolisch für beide Länder. Diese Agenda, radikalisiert durch den „Trump- (und Bolsonaro-) Faktor“, bildet die Grundlage der politischen Plattform der extremen Rechten, die nun auch andere rechtsgerichtete Gruppen und Parteien sowie amerikanische und brasilianische Konservative vereinnahmt.
In den Vereinigten Staaten hätte man nach der Niederlage Trumps gegen Joe Biden im Jahr 2020 und dem Sturm auf das Kapitol zur Anfechtung des Wahlergebnisses vielleicht annehmen können, dass die Unterstützung der Republikaner (und des Landes) für den „Trumpismus“ schwindet und sich die öffentliche Debatte wieder normalisiert. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Das unaufhörliche Zweifeln am Wahlsystem und an den Wahlergebnissen zeigt ihre Wirkung und schürt das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem politischen System und dem Wahlsystem nur noch weiter. In einer kürzlich durchgeführten Umfrage sind beachtliche 61 % der Republikaner nach wie vor der Meinung, dass Biden die Wahl nicht fair gewonnen hat. Aufgrund dieser Ansichten haben die Mehrheit der Republikaner (67 %) die Absicht, Trump auch 2024 zu unterstützen.
Trotz Wahlniederlage: Trump weiterhin stark
Diese Zahlen zeigen, dass Trump trotz der Wahlniederlage weiterhin stark ist und sich seine Agenda in der Republikanischen Partei sogar noch gefestigt hat. Die Zwischenwahlen werden den „Trumpistischen“ Flügel der Partei vermutlich noch weiter stärken und die Machtverhältnisse in den Bundesstaaten und im Kongress neu justieren. Auch die Möglichkeit einer „roten Welle“ im Kongress mit einer deutlich erhöhten Republikanischen Präsenz ist durchaus denkbar. Bei einem solchen Erfolg könnten die Republikaner beispielsweise gegen die Demokraten gerichtete Untersuchungsausschüsse einrichten, wie Anthony Zurcher in der BBC schreibt.
Ein Sieg der Republikaner, insbesondere der Trump nahestehenden Kandidaten, würde ihm selbst eine hervorragende Ausgangslage für die Wiederwahl geben und einer (ultra-) konservativen Agenda, wie beim Thema Abtreibung, weiter die Tür öffnen. Es sei daran erinnert, dass es Trumps‘ Ernennungen waren, die den Obersten Gerichtshof mit konservativen Mehrheiten ausstatteten. Das bereits genannte Roe vs Wade Urteil, welches das verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung kippte, wird enorme Auswirkungen auf reproduktive Rechte in Amerika haben. Es sind diese Entscheidungen, welche zu einer Zersplitterung der Gesellschaft führen und heftige Opposition seitens Menschenrechtsgruppen hervorrufen.
Demokratie unter Beschuss - Trumps Steilvorlage für Bolsonaro
Und welche Auswirkungen könnten die Zwischenwahlen in den USA auf Brasilien haben? Zunächst muss man sich den Wahlprozess und die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen in Brasilien anschauen. In einer extrem polarisierten und in der Geschichte des Landes unvergleichbar heftig geführten Auseinandersetzung bewirbt sich Präsident Bolsonaro um die Wiederwahl gegen den ehemaligen Präsidenten Lula. Bolsonaro hat eine öffentlich bekannte und langjährige Beziehung zu Trump, einschließlich eines gemeinsamen Weggefährten, Steve Bannon, der beiden Präsidenten als enger Verbündeter diente.
Die Nähe der beiden Staatsoberhäupter zeigt sich auch in ihren Äußerungen und Posts in den sozialen Medien. Im September erklärte Trump in seinem eigenen sozialen Netzwerk seine Unterstützung für Bolsonaro und nannte ihn den „Trump der Tropen“. Diese enge Beziehung schlägt sich ebenso in den Reden und in der politischen Taktik nieder, sei es bei Anschuldigungen gegen politische Gegner, die als Kommunisten verunglimpft werden, weil sie die Werte und Grundsätze von „Gott und Familie“ bedrohen (eine brasilianische Version der „traditionellen amerikanischen Werte“) oder durch eine rohe Strategie des digitalen Populismus, bei dem Fake News, emotional aufgeladene Posts und eine Betonung traditioneller Moralvorstellungen zur Tagesordnung gehören. Dazu gehören offensichtliche Versuche, Vertrauen und Zustimmung zu demokratischen Institutionen und dem Wahlsystem zu untergraben. Man denke nur an die ständigen Angriffe auf den brasilianischen Obersten Gerichtshof und die nicht enden wollenden Tiraden über Korruption.
Die Rolle des Militärs in Brasilien
Trotz ihrer Nähe gibt es jedoch auch einen wichtigen Unterschied zwischen den beiden, nämlich Bolsonaros Beziehung zum Militär. Bolsonaro verfolgte vor seinem Einstieg in die Politik eine militärische Laufbahn. Unter seiner Regierung wurden zahlreiche Militärs in zivile Ämter berufen. Laut einer Erhebung des Rechnungshofs (TCU) aus dem Jahr 2020 gibt es 6.157 aktive und Reserveangehörige in zivilen Positionen, mehr als doppelt so viele wie in der vorherigen Regierung. Sowohl im aktuellen als auch in seinem ersten Wahlkampf waren Bolsonaros Kandidaten für das Vizepräsidentenamt Generäle. Seine enge Beziehung zum Militär führt zu Spannungen in der politischen Gewaltenteilung.
Das jüngste Beispiel dafür war die Entscheidung der Streitkräfte, die Wahl parallel zu überwachen, eine in der Geschichte der Demokratie beispiellose Maßnahme, die auf die vom Präsidenten geäußerten Zweifel an der Sicherheit der Wahlmaschinen zurückgeh. Es wird befürchtet, dass Bolsonaro diese Maßnahme nutzen könnte, um das Wahlergebnis perspektivisch infrage zu stellen. Am Ende des ersten Wahlgangs und in den darauffolgenden zwei Wochen waren die Ergebnisse der militärischen Bestätigung immer noch nicht veröffentlicht worden, woraufhin der Vorsitzende des Obersten Wahlgerichts (TSE) am 18. Oktober den Verteidigungsminister aufforderte, innerhalb von 48 Stunden Kopien aller Dokumente über die Überwachung des Wahlprozesses durch die Streitkräfte zu übergeben. In dem Urteil bekräftigte der Vorsitzende des TSE, dass das Vorgehen der Streitkräfte bei der Überprüfung der Stimmenauszählung und ihre mögliche Unterstützung von Präsident Bolsonaro einen Machtmissbrauch darstellen könnte.
Zwei Szenarien
Was die Wahlergebnisse betrifft, so würde ein Sieg Bolsonaros die extreme Rechte in Lateinamerika und weltweit stärken und die progressive Welle in Südamerika vorerst bremsen (die erst kürzlich durch die Wahl von Boric in Chile und Gustavo Petro in Kolumbien gestärkt wurde). Auch würde er die auf konservativen Werten beruhende Allianz zwischen Brasilien und rechtsgerichteten Gruppen in Ländern wie den USA, Ungarn und Italien weiter stärken. Weiterhin besteht die Möglichkeit eines offenen Bündnisses mit Trump, wobei Bolsonaro dessen Kandidatur öffentlich unterstützen würde (es sei daran erinnert, dass Bolsonaro bei den Wahlen 2020 seine Unterstützung für Trump auch nach der Bekanntgabe des Ergebnisses bekundete und damit die in den USA geäußerten Betrugsvorwürfe wiederholte).
Andererseits könnte ein Sieg Lulas ‒ ehemaliger Gewerkschaftsführer und zweimaliger Präsident Brasiliens ‒ die Rolle der Demokratie im Land stärken und die Bestrebungen der extremen Rechten zügeln, die bei den letzten Wahlen deutlich mehr Sitze im Kongress erringen konnte. Während des Wahlkampfs sprachen sich zahlreiche brasilianische Politiker*innen und andere Persönlichkeiten aus dem gesamten politischen Spektrum im Interesse der Demokratie für Lula aus, wie etwa der ehemalige Präsident Fernando Henrique Cardoso und Joaquim Barbosa, ehemaliger Minister des Obersten Bundesgerichts (und Vorsitzender Richter im als „mensalão“ bekannt gewordenen Korruptionsskandal während der Regierung Lula).
Die politische Richtung einer möglichen Regierung unter Lula wäre vorerst unsicher, denn sie würde aus einer breiten Front unterschiedlicher demokratischer Kräfte bestehen, deren Interessen geeint werden müssten. Aufgrund seiner Erfahrung und seiner politischen Fähigkeiten kann man jedoch davon ausgehen, dass eine von Lula geführte Regierung Debatten und Maßnahmen zum Schutz demokratischer Rechte befördern würde, die unter der aktuellen Regierung bedroht sind. Außerdem würde es mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Rückkehr zu Maßnahmen und Programmen der sozialen Gerechtigkeit geben, die ein Merkmal seiner früheren Amtszeit waren.
Ohne Zweifel wird Brasilien in den kommenden Jahren ein wichtiger regionaler und globaler Akteur sein. Die Ende Oktober anstehenden Wahlen sind für den künftigen Kurs des Landes entscheidend. Ein Regierungswechsel in Brasilien mit Lula an der Spitze könnte die Beziehungen zum Rest von Südamerika wiederherstellen helfen, insbesondere zu Argentinien (das in den letzten Jahren durch das unterkühle Verhältnis zwische Bolsonaro und der argentinischen Präsidentin Fernandez sowie durch seine Skepsis gegenüber Mercosur beeinträchtigt war). Außerdem ist dann wahrscheinlich, dass das Land eine größere Rolle in internationalen Verhandlungen anstreben würde, wie es die früheren Regierungen pflegten.
Kontrast zur Umweltpolitik der derzeitigen Regierung
„Grüne Themen“ könnten eine Priorität werden, so wie es auch in Lulas Wahlagenda beschrieben wird. Dies würde einen Kontrast zur Umweltpolitik der derzeitigen Regierung darstellen. Ferner würden Zusammenarbeit und gemeinsame Initiativen wie der Amazonas-Fonds wohl wiederaufgenommen werden. Die Biden-Regierung könnte durch einen Regierungswechsel in Brasilien einen Partner für grüne Themen zurückgewinnen, der in den letzten Jahren an dieser Stelle fehlte. Trotz einiger politischer Divergenzen, sei es in Bezug auf Nicaragua und Venezuela oder Lulas Unterstützung für die BRICS-Staaten (zu denen auch Russland und China gehören), liegt der entscheidende Unterschied in einem Führungsstil, der auf Multilateralismus und Dialog setzt. Darüber hinaus könnten die USA ein wichtiger Verbündeter in Südamerika gegen rechtsextreme Gruppen und Bewegungen in der Region werden.
Nach den Wahlen wird sich das Schicksal des amerikanischen Kontinents neu ordnen. Ob der Wind nach rechts oder nach links weht, erfahren wir erst, wenn die Wahlstimmen ausgezählt sind, und die Ergebnisse endgültig feststehen. Der weitere Verlauf des Wahlprozesses, einschließlich der Zeit nach den Wahlen, wird für den Ausblick auf das Jahr 2023 sowohl regional als auch global von grundlegender Bedeutung sein.