Belarus: Die Medienlandschaft nach den Verboten der Unabhängigen

Hintergrund

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020 und den darauf folgenden Massenprotesten hat das Regime von Lukaschenko seine Haltung gegenüber unabhängigen Medien drastisch verändert. Eine Bilanz nach der “Säuberung”.

Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko bei einem Treffen in Eriwan, Armenien.

Schon vor den Präsidentschaftswahlen 2020 standen unabhängige Medien unter großem Druck, wurden mit Klagen überzogen und mit Durchsuchungen schikaniert. Im Großen und Ganzen konnten sie dennoch ihre Arbeit fortsetzen. Die "Tauben" in der Administration von Lukaschenko sahen im Wesentlichen zwei Gründe für die Erhaltung unabhängiger Medienplattformen. Erstens waren unabhängige und kritische Medien ein wichtiger Gradmesser für Stimmungen gegenüber der Regierung. Zweitens wäre die durch Schließung dieser Medien entstehende Lücke wohl kaum von den vergleichsweise schlecht ausgestatteten staatlichen belarusischen, sondern eher von den besser finanzierten und auch technisch fortschrittlicheren russischen Medien besetzt worden. Die "unbequemen" nationalen Medien schienen für das Regime das kleinere Übel zu sein. Aber alles änderte sich nach dem August 2020.

Das Regime war mit präzedenzlosen Massenprotesten im ganzen Land konfrontiert und sah fortan in der Arbeit der unabhängigen Medien und NGOs eine existenzielle Bedrohung der eigenen Macht. Es begann eine erbitterte Säuberung im Bereich der Medien. Von der Blockade von Websites, Einstufungen von Medien als "extremistische" Organisationen und deren Liquidation bis hin zu Strafverfahren individuell gegen Journalist/innen und Geschäftsführende – der Instrumentenkasten war groß. Ein Höhepunkt dieses Prozesses war die Zerschlagung des belarusischen Portals TUT.BY im Mai 2021 - der größten Internetressource des Landes, die jahrelang als zentristisches, ausgewogenes Medium galt. Es veröffentlichte unterschiedliche Standpunkte der Akteure im politischen Feld. Die Auflösung des “Volksmediums” TUT.BY hinterließ zunächst eine große Leerstelle.

Wie auch im Falle anderer in Belarus verbotener Medienressourcen, gründeten frühere Redaktionsmitglieder von TUT.BY neue Plattformen im Ausland. Zerkalo.io als Nachfolger von TUT.BY und Nashaniva.com haben inzwischen hunderttausende Leserinnen und Leser.

Den im Vergleich größeren Anteil der Lücke füllten, nach Auswertung der zugänglicher Nutzungsstatistiken, dennoch zunächst die "Sprachrohre des Regimes", die Zeitung der Lukaschenko-Administration "Belarus Segodnya" (sb.by) und der staatlichen Agentur BelTA (belta.by). Der Traffic auf der von der staatlichen russischen Agentur “Russia Today” gegründeten Ressource sputnik.by, ist ebenso nach 2020 erheblich gestiegen. Inzwischen erreicht "Sputnik" in Belarus ein wesentlich größeres Zielpublikum als sb.by und belta.by. Die unabhängigen Exil-Portale zerkalo.io, nashaniva.com und charter97.org fallen im Vergleich kaum ins Gewicht. Hinzu kommen formal private, quasi-unabhängige Internetportale wie belnovosti.by und smartpress.by In ihrer Redaktionspolitik räumen sie viel Platz für nicht-politische Themen ein, die für eine sehr breite Leserschaft interessant sind. Gleichzeitig übertragen sie aber aktiv die Erklärungen von Alexander Lukaschenko. Sie schreiben über die Situation in der Ukraine - unter Verwendung sowohl von russischen als auch ukrainischen Quellen. Themen wie die Massenrepressionen in Belarus, politische Gefangene, Erklärungen von Swetlana Tichanowskaja und anderen Gegnern von Lukaschenko werden jedoch nicht behandelt. Die Redaktionen dieser Ressourcen befinden sich physisch in Belarus. Einige von ihnen haben eine offizielle Lizenz für ihre Tätigkeit als Medien, die vom Ministerium für Information ausgestellt wurde.

Der bezogen auf die Nutzungszahlen größte Medienanbieter in Belarus ist derzeit "Onliner" (onliner.by). Das Portal ist seit 2001 auf dem Markt und war bis 2020 die zweitbeliebteste Ressource im Land nach TUT.BY. Es berichtete aktiv über die Ereignisse im Zusammenhang mit den Wahlen im August 2020. In letzter Zeit hat sich der redaktionelle Fokus jedoch stark auf soziale, häusliche und Lifestyle-Themen verlagert und ist nicht mehr politisch akzentuiert.

Offensichtlich haben private Medienunternehmen, die innerhalb von Belarus weiter arbeiten konnten, die "Spielregeln" akzeptiert, die derzeit im Land gelten. Kurz gesagt dürfen Inhalte nicht auf eine Weise dargestellt werden, die die belarusische Gesellschaft an die tiefe innere Krise infolge der Wahlen 2020 erinnern.

Herausforderungen für unabhängige Medien

Der TUT.BY-Nachfolger Zerkalo.io hat unter den unabhängigen Exil-Medien das größte Publikum in Belarus (sowohl nach absoluten Klickzahlen als auch nach Anteil des belarusischen Datenverkehrs). Dies gelang trotz fortdauernder Kriminalisierung beteiligter Personen in Belarus. Das frühere Management von TUT.BY befindet sich seit Mai 2021 in Haft. Erst im Januar 2023 wurde vor dem Minsker Stadtgericht ein Strafverfahren gegen Mitarbeitende der LLC "TUT.BY Media", der Eigentümerfirma des Portals, eröffnet. Der Generaldirektorin und der Chefredakteurin drohen auf Basis von Vorwürfen wie Steuerhinterziehung oder der “Anleitung zu Handlungen, die die nationale Sicherheit der Republik Belarus gefährden" Freiheitsstrafen von 5 bis 12 Jahren.

Das Zerkalo.io-Team hat aus objektiven Gründen nicht vollständig die früheren Positionen des "belarusischen Yahoo", wie das TUT.BY-Portal manchmal genannt wurde, wiederherstellen können. Gemius-Daten zufolge hatte TUT.BY im April 2021, kurz vor seiner Liquidation, allein in Belarus ein Publikum von 3,3 Millionen Menschen und erreichte damit mehr als die Hälfte der aktiven Internetnutzenden des Landes (die Gesamtbevölkerung von Belarus beträgt laut offizieller Statistik 9,256 Millionen Menschen). Im April 2021 überstieg die Anzahl der einzelnen Besuche auf der TUT.BY-Website laut SimilarWeb 82 Millionen.

Die Behörden stuften dann jedoch den Inhalt der gesamten Webseite als “extremistisch” ein. Damit wird jede Verlinkung und Verbreitung über Social Media als Rechtsverstoß gewertet – in der Konsequenz ist die Reichweite nun stark eingeschränkt. Auch andere unabhängige Medien wie "Nasha Niva", "Euroradio", Belsat, Belarusian Radio Liberty Service, "Charter 97" und andere wurden als extremistisch erklärt und ihre Websites und sozialen Netzwerke blockiert.

Nach den Präsidentschaftswahlen 2020 begannen belarusische Sicherheitskräfte mit "selektiven Überprüfungen" von persönlichen Smartphones und Computern von Bürgern. Teilweise wurden dafür wahllos Passanten direkt auf der Straße angehalten. Wenn Inhalte von "verbotenen" Ressourcen gefunden wurden, wurden administrative Haftstrafen von bis zu 15 Tagen verhängt. Überfüllte Zellen, in der Regel ohne minimale Annehmlichkeiten wie Matratzen, persönliche Hygieneprodukte. Später wurden Menschen auch mit strafrechtlicher Verfolgung eingeschüchtert. Im Oktober 2021 erklärten Vertreter der Hauptabteilung zur Bekämpfung von organisiertem Verbrechen und Korruption des Innenministeriums, dass für "die Verbreitung (Repost, Retweet), Speicherung extremistischer Materialien und das Abonnieren extremistischer Ressourcen" Haftstrafen von 3 bis 7 Jahren verhängt werden können. Natürlich haben solche Perspektiven auch Menschen davon abgehalten, Inhalte auf unabhängigen Ressourcen zu konsumieren.

Andere haben sich – ob aus Desinteresse oder zur Vorbeugung von Frustration - komplett von jeglichem politischen Nachrichtenkosum verabschiedet. Noch im Jahr 2021 hatte der Telegram-Kanal von Zerkalo.io mehr als 500.000 Abonnent/innen, im Februar 2023 nur noch 318.000. Auch nicht alle Leser unabhängiger Medien, insbesondere ältere, wollten VPN-Dienste nutzen, um technische Blockaden von "verbotenen" Websites zu umgehen. Der Anteil des belarusischen Verkehrs auf den Seiten der unabhängigen Exilmedien beträgt nach Angaben von SimilarWeb derzeit weniger als 50%.

Unabhängige Medien sind heute ferner konfrontiert mit Schwierigkeiten bei der Informationsbeschaffung in Belarus. Die Redaktionen sitzen im Exil, die Lage für die informellen Informant/innen im Land ist schwierig. Von stabiler Zusammenarbeit mit einem Korrespondent/innennetzwerk kann kaum die Rede sein. Freie Berichterstattung oder Interviews sind nicht möglich.

Nicht zuletzt fehlen den unabhängigen Medien auch personelle Ressourcen aufgrund politischer Verhaftungen im Land. Anfang 2023 saßen 33 Medienvertreter/innen in Belarus mit drakonischen Strafen von bis zu 15 Jahren im Gefängnis, unter anderem die früheren Chefredakteure von TUT.BY und Nasha Niva, leitende Mitarbeitende von BelaPAN und andere.

Die Staatspropaganda

Die wichtigsten staatlichen Portale in Belarus sind die der Nachrichtenagentur BelTA (belta.by) und der Präsidentenadministration "Belarus Today" (sb.by), die jeweils eine ähnlich große Zielgruppe von etwa 2 Millionen Nutzern pro Monat haben. Über 80% des durch diese Ressourcen generierten Traffics stammen aus Belarus. Diese Zahlen lassen vermuten, dass nicht nur Beamte und Sicherheitskräfte, sondern auch eine große Anzahl von “normalen” belarusischen Leser/innen hier unterwegs sind.

Beide Medien generieren täglich eine große Zahl von bis zu 250 neuen Inhalten – viel mehr als von unabhängigen Portalen leistbar. Eine solche Menge beeinflusst zweifellos die Verlinkung von belta.by in Suchmaschinen positiv. Die Agentur hat auch das Monopol für die Übermittlung von Informationen aus dem Präsidentenpalast und anderer staatlicher Institutionen. Verschiedene Internetquellen zitieren belta.by daher als Primärquelle, was wiederum einen großen Umfang an Referral-Traffic generiert. Referral-Traffic und organischer Traffic von Google und anderen Suchmaschinen machen zusammen fast 60% aller Besuche auf belta.by aus. Eine ähnliche Traffic-Struktur gibt es auch auf sb.by.

Der Einfluss aus Russland

Die zur staatlichen russischen Agentur "Russia Today" gehörende Seite sputnik.by ist heute die wichtigste Ressource im bai.net und erreicht mit 15 Millionen Nutzer/innen pro Monat mit Abstand die größte Reichweite im Land. Neben dem Abschnitt "Nachrichten aus Belarus" gibt es auf Sputnik.by auch einen Abschnitt "Nachrichten aus Russland". Die Agentur fördert aktiv die Kreml-Erzählungen über den Krieg in der Ukraine, den sie als "spezielle militärische Operation" zur "Entnazifizierung" der Ukraine bezeichnet. In den Kommentaren auf Sputnik.by wird das ukrainische Volk von der "Kiewer Regierung" "verunglimpft und terrorisiert".

In der Vergangenheit hat die Regierung von Lukaschenko versucht, die Ideen der "russischen Welt" im kollektiven Bewusstsein nicht zu fördern. Im Jahr 2016-2017 wurden die Autoren der russischen Informationsressource Regnum in Belarus und Moskau auf Antrag des belarusischen Ermittlungskomitees verhaftet. Yuri Baranchik, der Chefredakteur der Analyseabteilung von Regnum, wurde beschuldigt, "Rassen-, National- oder Religionshass zu schüren". Er wurde sogar gezwungen, einen Brief an Putin zu schreiben und politisches Asyl zu beantragen.

Aber die Zeiten haben sich geändert. Nach 2020 hat das belarusische Regime anscheinend einen erheblichen Teil seiner Souveränität verloren, auch im Informationsbereich. Die Propagandanarrative des Kremls werden nun nicht nur von Sputnik.by, sondern auch von den belarussischen Staatsmedien dupliziert.

Quasi-unabhängige Medien

Nach der Liquidation des TUT.BY-Portals und einer Reihe anderer unabhängiger Medien in Belarus zeigten aber auch Internetressourcen, die formell im privaten belarusischen Eigentum stehen, einen Traffic-Anstieg. Bei der Analyse ihres Inhalts ist es jedoch schwer zu schlussfolgern, dass sie in ihrer redaktionellen Politik wirklich unabhängig sind.

Die Ressource belnovosti.by zeigt beeindruckende Traffic-Zahlen - mehr als 5 Millionen Besucher/innen pro Monat und mehr als 21 Millionen Besuche. Etwa 70% des Website-Traffics stammen aus Belarus. Dominiert wird die Seite von Nachrichten zu sehr alltäglichen Themen mit Schlagzeilen wie: "Warum beißen Hauskatzen?" "Hering: Nutzen und Schaden", "Machen Sie diese Fehler nicht beim Kochen von Borschtsch", und ähnliche.

Gleichzeitig veröffentlicht belnovosti.by Inhalte über den Krieg in der Ukraine (bezeichnet es jedoch als "Militäroperation"). Bei der Berichterstattung zu diesem Thema zitiert die Ressource nicht nur russische Medien, sondern auch ukrainische und internationale Medien und gibt die Positionen nicht nur von Putin und Lukaschenko, sondern auch die Kommentare von Zelensky und westlichen Politikern wieder.

Gleichzeitig gibt es auf der Website belnovosti.by im Abschnitt "Politik" nur einen Nachrichtenanker zu Fragen der Innenpolitik - Alexander Lukaschenko. Svetlana Tichanowskaja wird auf belnovosti.by nur in Notizen von BelTA erwähnt (z.B. "Der Prozess gegen Tichanowskaja und Latuschko hat in Minsk begonnen", "Der Generalsekretär des Sicherheitsrates: Tichanowskaja, Latuschko und Co. sind die Hauptfiguren für ein neues Nürnberg" usw.). Innenpolitische Berichte sind im Stil ähnlich den Materialien der Staatsmedien. Visuell ist das Portal belnovosti.by in staatlichen rot-grünen Farben gestaltet. Die Ressource ist offiziell als Medien von dem Informationsministerium der Republik Belarus registriert.

Der Sponsor des Portals belnovosti.by ist das private Unternehmen "Media News", dessen Gründer Vitali Kisterny ist. Er ist Absolvent der Akademie des Innenministeriums von Belarus und der Fakultät für Journalismus der Belarusian State University. Kisterny ist eine nichtöffentliche Person und in den Medienkreisen von Belarus nicht sehr bekannt. Nach sozialen Netzwerken zu urteilen, lebt Vitali Kisterny derzeit in Moskau und arbeitet auch an Medienprojekten für den russischen Markt.

Ein weiteres privates Medium, das schnell an Gewicht auf dem Medienfeld in Belarus gewinnt, ist das Portal smartpress.by, das vom bekannten Medienmanager und Journalisten Vyacheslav Zenkovitch gegründet wurde. Dieser kehrte 2020 nach den Präsidentschaftswahlen aus Moskau nach Minsk zurück und gründete die Seite neu. Sie hat heute ein Publikum in Belarus, das größer ist als das der betrachteten unabhängigen Medien. Das Portal positioniert sich als "politisch ungebundene, objektive Medienressource, die Ereignisse in Belarus und auf der Welt abdeckt". Genau wie belnovosti.by präsentiert smartpress.by verschiedene Positionen und zitiert verschiedene Medien, um über den Krieg in der Ukraine zu berichten. Die Rubrik, die dieser Frage gewidmet ist, heißt "Situation in Ukraine" (also weder "Krieg" noch "Sonderoperation"). Innenpolitisch gibt es aber auch hier keine Experimente.

Fazit

Nach dem Abklingen der beispiellosen Proteste von 2020 war eine Welle von Apathie und Enttäuschung zu konstatieren. In einer Mischung aus Übersättigung mit schlechten Nachrichten und Angst vor Repressionen beschränkten viele Menschen den Konsum unabhängiger Medien. Das Informationsfeld in Belarus wird klar von russischen und belarusischen Propagandamedien dominiert. Unabhängige Medien setzen ihre Arbeit zwar fort, erreichen aber sowohl aufgrund der Kriminalisierung als auch durch die mangelnde Masse von unpolitischen alltäglichen Nachrichten nur sehr kleine Zielgruppen im Land und werden eher von Belarus/innen im Exil gelesen. Die unabhängigen Medien müssten ein breiteres Themenspektrum abdecken. “Die totale negative Agenda [in Bezug auf die belarusische Gesellschaft] bietet dem Leser zwei Rollenmodelle: Opfer oder Vergewaltiger” – so fasste es die Kommunikationsexpertin Irina Sidorskaya in ihrem Vortrag für den belarusischen Pressclub “Sol” zusammen. Das sei für die Menschen im Land keine attraktive Wahl, die Medien hätten nun die neue Aufgabe, die Menschen in der Realität zu halten und sie gleichzeitig nicht den Verstand verlieren zu lassen.


Gekürzte Fassung des russischsprachigen Originaltextes. Redaktion: Robert Sperfeld