Die drei Preisträgerinnen wirken auf die gesellschaftspolitischen Debatten in Belarus ein und ermöglichen eine Gegenerzählung zum russischen Diskurs und dem zutiefst patriarchalen Gesellschaftsbild von Machthaber Lukaschenko. Sagt Dr. Imme Scholz

Liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Preisträgerinnen,
liebe Gäste,
seit 30 Jahren herrscht Alexander Lukaschenko auf diktatorische Art und Weise über Belarus, erst im Januar ließ er sich in einer Scheinwahl erneut zum Präsidenten küren. Die Medien sind gleichgeschaltet, viele unabhängige Nachrichtenportale sind blockiert und wer sich kritisch äußert, riskiert Gefängnis und Straflager. Über 1.200 Menschen sitzen aktuell in politischer Haft; von Angehörigen und Anwälten abgeschirmt, unter Zwangsarbeit und zum Teil ohne medizinische Versorgung. Mehr als zehn politische Gefangene werden in Isolationshaft gehalten, vier sind vergangenes Jahr in Haft gestorben. – Das alles keine 1.000 Kilometer Luftlinie von hier entfernt.
Es ist deutlich, dass wir in Europa auf eine krisenreiche Zeit mit vielen Gefährdungen zusteuern. Unter den Großmächten – USA, Russland, China -, die sich die Welt aufteilen wollen, haben wir keine Verbündeten mehr. Rechtsradikale und Faschisten gewinnen zusehends und überall in Europa an Macht und Einfluss (nicht zuletzt bei den Bundestagswahlen hier in Deutschland vor knapp zwei Wochen), die Rechte von Frauen, Minderheiten und Verfolgten werden in Frage gestellt, Diskurse verhärten sich und driften gefährlich weit nach rechts. Und gleich hinter den EU-Grenzen besteht in Belarus eine von Russland gewollte Diktatur. Und die Ukraine wehrt sich seit drei Jahren gegen den brutalen Angriffskrieg Russlands. Bei aller Überzeugung von der Kraft der Demokratie, fallen mir Hoffnung und Optimismus in diesen Zeiten zunehmend schwer.
Umso beeindruckender ist für mich das Engagement unserer diesjährigen Preisträgerinnen. Mit großer Entschlossenheit traten und treten Darya Afanasyeva, Irina Alkhovka und Julia Mickiewicz für Frauenrechte, Repräsentanz und Teilhabe ein und sprechen über geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt – ohne sicher sein zu können, damit nicht zur Zielscheibe von Repressionen zu werden und sich auch im Ausland Risiken auszusetzen. Sie zeigen uns wieder einmal, dass der Weg zur Gleichberechtigung und zu einer gerechten Gesellschaft nicht nur durch Gesetzgebung und institutionelle Reformen verläuft, sondern durch vielfältiges und ausdauerndes zivilgesellschaftliches „Machen“.
Keine Option: Den Kampf um Würde, Rechte und Demokratie aufzugeben, Sich pragmatisch den Problemen zu stellen, den Dialog mit Behörden zu suchen, Veränderungen im Kleinen zu erreichen und Menschen zu helfen – das war lange Zeit ein Erfolgsrezept in Belarus. Als Heinrich-Böll-Stiftung haben wir Kurse für Polizeibeamte und Sozialarbeiter*innen unterstützt, um sie für geschlechterbasierte Gewalt zu sensibilisieren – heute sind solche Projekte unvorstellbar. Nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020 mussten viele engagierte Menschen das Land verlassen, Menschenrechts-, Kultur-, Umwelt- und Bildungsorganisationen wurden aufgelöst, ebenso Organisationen im Sozialbereich. Trotzdem engagieren sich viele Menschen weiter; in Belarus und im Exil, zum Beispiel in einer der vielen Initiativen, die sich in Polen und dem Baltikum gebildet haben.
Menschen wie Darya, Irina und Julia zeigen uns: Den Kampf um Würde, Rechte und die Demokratie aufzugeben, ist keine Option. Wir dürfen uns nicht von Hoffnungslosigkeit und Angst lähmen lassen, auch dann nicht, wenn die Bedrohung real ist oder der Kampf schon verloren geglaubt ist. Darya, Irina und Julia sind Frauen, die auch unter widrigen Umständen Tatkraft beweisen, und tun, was möglich ist. Damit stehen sie stellvertretend für die vielen Frauen in der belarusischen Demokratiebewegung. Die Bilder von Lukaschenkos Herausforderin Swetlana Tichanowskaja gingen um die Welt. Nach dem Wahlbetrug führten Frauen die riesigen Demonstrationen nicht nur an, sondern beteiligten sich an den Protesten. Viele von ihnen haben dafür einen hohen Preis gezahlt. Sie wurden inhaftiert oder mussten sich, wie unsere Preisträger*innen, ins Exil retten. Darya Afanasieva gelang dies erst nach einer mehr als zweijährigen Lagerhaft.
Dass Frauen stärker und lauter werden, gibt ihnen Kraft
Heute, fünf Jahre später, ist die Situation in Belarus selbst, aber auch für die Opposition im Exil nicht einfacher geworden. Mit der inszenierten Wahl im Januar hat Lukaschenko seine Macht für weitere Jahre zementiert. Ich habe unsere Preisträger*innen gefragt: Habt ihr trotzdem Hoffnung? Auf eine demokratische und geschlechtergerechte Zukunft in Belarus? Ihre Antworten haben mich beeindruckt: Hoffnung macht ihnen, dass sich auch bei den Männern etwas verändert – gerade die jungen Männer haben heute seltener ein Problem damit, die Eigenständigkeit von Frauen anzuerkennen, und haben z.B. keine Angst mehr davor, sich die Restaurantrechnung mit ihrer Freundin teilen. Hoffnung gibt ihnen zu wissen, dass Frauen weltweit für die gemeinsame Sache kämpfen, dass sie selbst Teil einer Bewegung sind und nicht allein, das gibt ihnen Kraft. Dass Frauen stärker und lauter werden und ihre Anliegen zur Sprache bringen – das gibt Kraft. Und sie hoffen, dies alles eines Tages nicht mehr tun zu müssen, sondern einfach leben zu können, wieder zuhause zu sein und mit den Freundinnen auszugehen.
Für mich, für uns als Jury des Anne-Klein-Frauenpreises, sind Julia, Irina und Darya selbst drei sehr gute Gründe für Hoffnung. Denn sie beweisen mit ihrem Tun auch, dass es dem Regime eben nicht gelingt, den Freiheitswillen, die demokratischen Werte und feministische Einstellungen innerhalb der belarusischen Gesellschaft zu zerstören. Mit ihrem Engagement wirken Julia, Irina und Darya aus dem Exil auf die gesellschaftspolitischen Debatten in Belarus ein und ermöglichen eine Gegenerzählung zum russischen Diskurs und dem zutiefst patriarchalen Gesellschaftsbild von Machthaber Lukaschenko. Sie sind mit ihren feministischen Positionen aber auch wichtige Trägerinnen des Wandels innerhalb der Exilopposition und kämpfen innerhalb dieser für genderpolitische Themen und die gleichberechtigte Repräsentanz und Teilhabe von Frauen.
Feminismus in und aus Belarus findet in einem Kontext statt, in dem Frauen nicht nur in politischen, sondern auch in sozialen und wirtschaftlichen Bereichen mit erheblichen Hindernissen konfrontiert sind. Die patriarchalen Strukturen, die das Land durchdringen, machen es für Frauen besonders schwierig, ihre Rechte einzufordern. Dennoch haben Darya, Irina und Julia nie nachgelassen. Sie haben gezeigt, dass Frauen nicht nur Opfer von Repressionen sind, sondern auch aktive Akteure der Veränderung.
Die Demokratie ist feministisch, oder es wird sie nicht geben
Die lateinamerikanischen Feministinnen haben ein Motto, das lautet „El futuro será feminista o no será“. Das heißt so viel wie: „Die Zukunft ist feministisch, oder es wird sie nicht geben“. Man könnte auch sagen: „Die Demokratie ist feministisch, oder es wird sie nicht geben“, denn ohne die Anerkennung von Frauen- und LGBTIQ-Rechten, ohne den Kampf gegen Diskriminierung und geschlechtsspezifische Gewalt, ohne gleichen Zugang zu Macht und politischer Teilhabe für alle Menschen – und ohne Frauen wie Julia, Irina und Darya, wird es weder in Belarus noch sonst irgendwo in Europa oder der Welt echte Demokratie geben.
Mit der Verleihung des Anne-Klein-Frauenpreises wollen wir dieses Jahr ein Zeichen der Solidarität setzen und unseren Respekt für das Engagement der drei Preisträgerinnen für ein freies und geschlechtergerechtes Belarus in einem demokratischen Europa ausdrücken. Die Auszeichnung dieser drei bemerkenswerten Frauen ist auch ein Signal an die Menschen in Belarus: Wir haben euch nicht vergessen, wir schauen genau hin – nicht nur auf russische Raketen, sondern auch auf Frauenrechte und soziale Gerechtigkeit.
Darya, Irina, Julia – eure Arbeit ist ein Leuchtfeuer der Hoffnung für uns alle. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Auszeichnung und vielen Dank für alles, was ihr für die Frauen in Belarus und weltweit tut.
Vielen Dank.
» Rede auf belarusisch (PDF)