Das neue Belarus begann für sie mit der Frauenrevolution 2020 und dauert bis heute an. Julia Mickiewicz erinnert sich an die Inspiration, die ihr die schönen und klugen Frauen bei den Kundgebungen gegeben haben, und an die Überzeugung, siegen zu können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Partnerinnen und Partner, meine Freundinnen und Freunde,
die ich in diesem Saal sehe und die, wie ich weiß, diese Zeremonie auf YouTube verfolgen. Es ist mir eine große Freude, eine Ehre und sogar ein Privileg, hier zu stehen und gemeinsam mit den wunderbaren Darya und Irina den Anne-Klein-Frauenpreis entgegenzunehmen.
Es ist schön, jeden Preis als Anerkennung für Erfolge und Ergebnisse der geleisteten Arbeit zu erhalten. Aber einen Preis für feministisches Engagement zu erhalten – das ist besonders wertvoll. Leider werden weltweit nicht viele Auszeichnungen an Frauen vergeben. Vieles von dem, was wir tun, bleibt nach wie vor unsichtbar oder verliert mit der Zeit seine Bedeutung.
Wissen Sie, auf meinem Schreibtisch in meiner Wohnung steht ein Schild mit der Aufschrift Full time feminist (Vollzeitfeministin), welche mein Wesen als Person und alles, was ich tue und woran ich glaube, widerspiegelt. Zumindest in den letzten 25 Jahren. Feministin zu sein bedeutet für mich engagiert, nicht gleichgültig, empathisch und einfühlsam zu sein. Und so war es bei mir, seit ich an mich zurückdenken kann. Schon als Kind hatte ich ein ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit, ich wollte denjenigen helfen und sie unterstützen, die meiner Meinung nach Unrecht erfahren mussten, und ich habe dafür öfter von den Erwachsenen Tadel bekommen. Ich bin in der sowjetischen und später in der postsowjetischen Zeit aufgewachsen, als die Rollen der Mädchen und Frauen ziemlich eng gefasst waren. Ihre Rechte und Möglichkeiten waren begrenzt und die Erwartungen an uns entsprachen oft nicht unseren Wünschen. Und ich spürte, dass hier etwas nicht stimmte, konnte es aber nicht in Worte fassen, mir fehlten das Wissen und die Erfahrung, aber ich versuchte trotzdem, jegliche Ungerechtigkeit zu verhindern und darauf Einfluss zu nehmen, dass sie nicht mehr passierte. Und das ist der Hauptgrund, warum ich Anfang der 2000er Jahre zum Bürgerengagement kam und damit in einer LGBTQ+-Initiative begann. Später wurde ich Journalistin, leitete danach eine sozialdemokratische Jugendorganisation und rief nach einer Weile mit schwedischen Partnerinnen und Partnern ein Bildungsprojekt ins Leben. Bei allem, was ich getan habe und weiterhin tue, begleiten mich der Feminismus und der feministische Blick stets als Ausgangspunkt meiner Arbeit, meiner Aktivitäten und meines Lebensstils. Heute bekleide ich verschiedene Positionen in unterschiedlichen Strukturen und Organisationen und verfüge dadurch über ein öffentliches Gewicht, Status und Einfluss. Das versuche ich so weit wie möglich als Werkzeug zur Förderung feministischer Ideen und Werte einzusetzen.
Ohne Teilhabe und Führung von Frauen keine demokratische Politik
All das ist während der Proteste bei mir und in meinem Leben besonders deutlich zum Vorschein gekommen. Das neue Belarus begann für mich mit der Frauenrevolution 2020 und dauert bis heute an. Die Erinnerungen an die Inspiration, die uns die schönen und klugen Frauen bei unseren Märschen und Kundgebungen gegeben haben, und an die Überzeugung, dass wir die Situation schon bald zu unseren Gunsten wenden und unbedingt siegen können, werden für immer in meinem Herzen bleiben. Und ich werde weiterhin die Ansicht vertreten und darauf bestehen, dass der belarusische Protest 2020 (bewusst oder unbewusst) auf feministischen Prinzipien der Inklusion, verteilten Führung, Horizontalität, Vielfalt und solidarischen Fürsorge beruhte. Meine Freundin Olga Shparaga und ich haben darüber viel gesprochen, als wir in der Haft waren und dort Seminare über Frauenrechte für unsere Gefängnisschwestern abhielten. Damals wurde mir klar, dass die feministische Bildungsarbeit nie endet und wir jede Möglichkeit und jedes Umfeld nutzen müssen, um sie fortzuführen. Ich habe von den willensstarken und furchtlosen Frauen, mit denen ich 15 Tage lang auf engstem Raum eingesperrt war, so viele wertvolle Erfahrungen gesammelt. Und ich bin ihnen sehr dankbar sowie allen, mit denen ich das Glück hatte, im Bürgerengagement und insbesondere in der Politik zusammenarbeiten zu dürfen. Ich weiß genau, wie schwer es die Frauen dort haben, welche zusätzlichen Barrieren, Hindernisse und Schwierigkeiten sie überwinden müssen, wie viel Sexismus, Druck und Abwertung sie ertragen müssen. Und auch das Gefühl der Einsamkeit, des Hochstapler-Syndroms und des Mangels an Unterstützung. Obwohl ich viel Erfahrung habe, öffentliche Ansprachen zu halten, habe ich manchmal immer noch Angst, meine Meinung auszusprechen. Ich weiß jedoch und ich glaube daran, dass es ohne die Teilhabe und Führung von Frauen keine demokratische Politik geben kann – eine Politik, die den Interessen und Forderungen der Frauen selbst und anderer sensiblen Gruppen gerecht wird. Und ohne sie gibt es auch keine soziale Gerechtigkeit und keine echte Gleichstellung in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht. In schwierigen Momenten hilft mir unsere feministische Schwesternschaft und die Inspiration der unglaublichen belarusischen Frauen, die meine große Liebe sind. Sie setzen ihren Widerstand fort, und ich werde nie müde, mit ihnen zusammen weiter in die gleiche Kerbe zu schlagen, und ich gebe nicht auf.
Denn ich habe einen Traum: In Belarus zu leben, wo die Entscheidungsträger den politischen Willen zur Gleichstellung der Geschlechter haben, ohne den eine inklusive Demokratie unmöglich ist. Und mindestens die Hälfte davon sind Frauen. Sonst ist es wie ein Stuhl mit drei Beinen. Dies gibt nicht nur mir selbst Hoffnung, sondern auch die Hoffnung für andere – insbesondere für Mädchen wie meine Nichten Lisa und Mascha, zehn und sechs Jahre alt, die ebenfalls im Exil leben. Sie gehören zu der neuen Generation, ich lerne sehr viel von ihnen, zum Beispiel, wie man für sich und seine Grenzen einsteht, und ich glaube, dass sie eine bessere Zukunft vor sich haben.
Menschenrechte sind unsere besten Begleiter
Angesichts der zunehmenden Anti-Gender-Bewegungen in ganz Europa und der Machtergreifung durch Diktatoren, die nicht nur durch Wahlfälschungen, sondern auch mit demokratischen Mitteln an die Macht kommen, glaube ich, dass die Welt den Feminismus als Ideologie und Handlungsstrategie mehr denn je braucht. Und als Erstes beginnen die Autorkraten, geschlechtsspezifische Fragenstellungen zu bekämpfen: Sie heben nationale Gleichstellungs- und Inklusionspolitik oder feministische Außenpolitik auf, verbieten Schwangerschaftsabbrüche oder Gesetze gegen häusliche Gewalt. Dies liegt in der Logik von Autokraten, für die Sexismus und Homophobie gängige Praxis sind, und Feminismus wird von ihnen als Extremismus wahrgenommen. Unsere gemeinsame Solidarität – nicht nur unter Feministinnen – muss umso stärker sein. Wir müssen solidarisch bei der Bewahrung der demokratischen Institutionen und ihrer humanistischen Grundlagen sein, weil es sich hier im Grunde um einen Kampf um die Achtung unserer Menschenwürde handelt.
Ich teile diesen Preis mit meiner geliebten FemGroup und meinen lieben Kolleginnen aus der ABF-Organisation und mit allen belarusischen Aktivistinnen, die sich im Gefängnis befinden, die weiterhin in Belarus bleiben oder im Exil leben, die jedoch nicht aufgeben. In der Schwesternschaft liegt unsere Stärke – und das ist nicht nur ein Slogan oder schöne Worte. Das verbindet uns untereinander und mit unseren Schwestern und Freundinnen in verschiedenen Ländern der Welt, die unseren feministischen Kampf 24/7 für eine Welt ohne Gewalt, Diskriminierung, Kriege und Konflikte fortsetzen. Unsere Stimmen stehen für unsere Wahl, und Menschenrechte sind unsere besten Begleiter.
Ich widme diesen Preis meinen Großmüttern und meiner Mutter sowie Mascha, mit der ich im Gefängnis war, und allen Frauen, die viele Talente, Wünsche und Träume haben, aber aufgrund von Vorurteilen und Hindernissen keine Möglichkeit hatten, diese zu verwirklichen. Auch die unbeugsame Anne Klein kämpfte für die Rechte und Chancen für solche Frauen, und die Erinnerung an sie ist auch meine Inspiration und meine innere Ressource.
Herzlichen Dank an die Organisatoren des Preises, die Jury, die Heinrich-Biel-Stiftung und an alle Beteiligten. Ich bin heute glücklich. Zhyve Belarus - Es lebe Belarus!