„Globale Gerechtigkeit ohne den ökologischen Umbau von Gesellschaft und Wirtschaft gibt es nicht“

Interview

Es ist Halbzeit für die Agenda 2030. Doch die 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung liegen in weiter Ferne. Warum das so ist, und wie die Weltgemeinschaft ihrer Umsetzung näher kommen könnte, darüber spricht Imme Scholz im Interview.

Ein Slum aus vielen aneinander und aufeinander gebauten Hütten, die auf Pfählen an einem verschmutzen Kanal stehen
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Schwerpunkte der Agenda 2030 sind im diesen Jahr Stadtentwicklung, Ungleichheiten und die Versorgung mit Trinkwasser und Abwassersystemen

Was ist die Agenda 2030? Was sind die 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung?

Imme Scholz: Auf die Agenda 2030 haben sich alle 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen geeinigt, um eine Welt zu erreichen, in der alle Menschen besser leben können. Eine Welt, in der Armut überwunden ist; in der alle Menschen eine gute Gesundheitsversorgung und Zugang zu Bildung genießen. Und das alles, ohne die natürlichen Lebensgrundlagen weiter zu zerstören. Denn bisher ist es so, dass wirtschaftlicher Wohlstand mit ebendieser Zerstörung der Ökosysteme und der Anheizung der Klimakrise einhergegangen ist. Dagegen wendet sich die Agenda 2030.

Mit den 17 Zielen nachhaltiger Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs, siehe Kasten bzw. siehe unten), beschreibt die Agenda positiv, worauf sich die Staatengemeinschaft verpflichtet hat. Es gibt soziale Entwicklungsziele, die auf die Verringerung von Armut und Ungleichheit abzielen, auf die Bekämpfung von Diskriminierung und auf die Gleichstellung der Geschlechter. Dann gibt es wirtschaftliche Ziele, zum Beispiel den Zugang zu nachhaltiger Energie für alle und menschenwürdige Arbeit. Dann gibt es explizit ökologische Ziele wie die Bekämpfung des Klimawandels und des Biodiversitätsverlusts. Auch die Städte sollen sich verändern, lebenswerter werden.

Ein Demokratie-Ziel war leider nicht möglich, weil dies die nicht demokratischen Staaten in den Vereinten Nationen verweigert haben. Aber man hat sich darauf geeinigt, dass die Regierungen dazu verpflichtet sind, für Frieden zu sorgen, für Nichtdiskriminierung in jeder Hinsicht und dazu, wirksam für ihre Bürgerinnen und Bürger zu arbeiten. Und die internationale Zusammenarbeit spielt auch eine wichtige Rolle: Alle Länder sollen in die Lage versetzt werden, die 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung zu erreichen und dafür auch Ressourcen erhalten.

Du hast einige der 17 Ziele beschrieben. Aber was ist das Kernziel oder das übergeordnete Ziel dieser Agenda 2030?

Das definiere ich immer so: ein gutes Leben für alle, bei gleichzeitiger Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen, also des Klimas, der Böden und Wälder, der Seen, Flüsse und Ozeane, der Artenvielfalt. Das bedeutet, dass sich alle Länder verändern müssen. Anders als bei den Vorgängerzielen, den acht Millenniums-Entwicklungszielen (Millennium Development Goals, MDGs), die nur für die Entwicklungsländer galten und bei denen die Industrieländer sich im Wesentlichen darauf beschränkten, deren nachholende Entwicklung über internationale Zusammenarbeit abzustützen. Die MDGs haben sie selbst aber nicht in Frage gestellt.

Bei den 17 Zielen nachhaltiger Entwicklung haben die Entwicklungsländer ganz klar gesagt: Wenn wir eine Entwicklungschance haben sollen, müssen sich die Industrieländer auch verändern. Sie dürfen unserer Entwicklung nicht mehr im Wege stehen. Wenn es um den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen geht, liegt die Hauptlast bei den reicheren Ländern. Das sind heute nicht nur die alten Industrieländer, sondern auch China, Indien und andere große Schwellenländer, die sich wirtschaftlich rasant entwickelt haben.

Und macht es diese Anforderung schwerer, die Ziele zu erreichen?

Erst mal ist es eine realistischere Grundannahme. Man wird den Klimawandel nicht bremsen, wenn man das nur als Aufgabe der Industrieländer ansieht.  Die Staaten der G20 – die führenden Industrie- und Entwicklungsländer – sind für 80 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Etwa 65 Prozent entfallen auf China, die USA, Indien, die Europäische Union (EU) und Russland. Gleichzeitig sind die Emissionen pro Kopf sehr unterschiedlich – das spiegelt die Unterschiede im allgemeinen Lebensstandard und in den Infrastrukturen wieder. Wenn wir uns zudem das zehnte Ziel anschauen – weniger Ungleichheiten – dann ist das häufig eine Aufgabe auf nationaler Ebene, die alle Länder betrifft: Diskriminierung abzubauen, nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch von ethnischen oder von religiösen Minderheiten. Aber gleichzeitig entsteht eben auch Ungleichheit, weil das Völkerrecht nicht überall gleich wirksam durchgesetzt wird oder weil die Regeln des Welthandels doch diskriminierend wirken, auch wenn sie nicht so formuliert sind. Da sind reiche wie ärmere Länder gemeinsam in der Pflicht.

Jetzt ist Halbzeit. Wo stehen wir da bei der Erreichung der 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung?

Es sieht nicht gut aus. Nur bei zwölf Prozent der 140 Indikatoren sind wir auf einem guten Weg, also im grünen Bereich. Bei 30 Prozent sind wir im negativen Bereich, es gibt Rückschritte, und der Rest bewegt sich im Mittelfeld. Aber Mittelfeld bedeutet in diesem Fall, dass die Ziele nicht bis 2030 erreicht werden. Das ist also keine gute Bilanz. Damit stellt sich die Frage, woran es liegt, dass wir so schlecht unterwegs sind. Die Krisen der letzten Jahre haben uns zurückgeworfen, vor allem die Pandemie. Durch sie hat die Zahl der extrem Armen zugenommen, das war nicht mal bei der Finanzkrise 2008/2009 der Fall. Um die sozialen Folgen der Pandemie und der Isolation abzumildern, mussten sich viele Entwicklungsländer zu hohen Zinsen verschulden, das belastet nun ihre Wirtschaft und ihre Haushalte. Ein zweiter Faktor ist jetzt die Verteuerung von Nahrungsmitteln und Energiepreisen durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Deshalb wird es nicht möglich sein, bis 2030 die extreme Armut zu beenden.

Aber schon 2019 hatte der erste wissenschaftliche Bericht zur Umsetzung der Ziele nachhaltiger Entwicklung (Global Sustainable Development Report (GSDR))  festgestellt, dass die Fortschritte zu klein waren, um alle Ziele weltweit bis 2030 zu erreichen. In unserem Bericht haben wir deshalb auch die Frage gestellt, ob dies auch an den Schwierigkeiten von Transformationsprozessen an sich liegt. Vieles spricht dafür. Wenn man sich die Indikatoren mit Blick auf Deutschland anguckt, dann riskieren wir, unsere Ziele bei den Treibhausgasemissionen, dem Ausbau der erneuerbaren Energien, der Senkung des Energie- und Rohstoffverbrauchs und dem Artenschutz um mehr als 20 Prozent zu verfehlen. Das gilt auch für die Bekämpfung von Zivilisationskrankheiten und die Verringerung der vorzeitigen Sterblichkeit. Noch schlechter sieht es bei jungen Menschen ohne Abitur oder Berufsausbildung aus: Deren Anteil steigt insgesamt und ist bei jungen Männern höher als bei Frauen. Und es gelingt uns auch nicht, den Anteil der ausländischen Schulabsolvent*innen ohne Abitur zu senken. Angesichts des bereits hohen Fachkräftemangels ist das sehr schlecht. Hier handelt es sich um komplexe Aufgaben: In der Bildungspolitik müssten wir die Leistungsfähigkeit der Schulen verbessern, um allen Kindern gleiche Chancen zu eröffnen. Vorzeitige Sterblichkeit hängt zudem sehr eng mit Ernährung und Bewegung zusammen; dafür sind eine steuerliche Belastung von Zucker und Fett und andere Ansätze in der Verkehrspolitik wichtig. Die Infrastrukturen für Energieversorgung, Verkehr und Produktion müssen umgebaut werden, Produktionsmethoden müssen so geändert werden, dass sie eben nicht mehr dem Klima und der Biodiversität schaden. In der Landwirtschaft zum Beispiel hat die EU das Ziel festgelegt, den Einsatz von Pestiziden um 50 Prozent zu verringern. Das alles müssen wir uns vornehmen. Transformation bedeutet, in relativ kurzer Zeit große Veränderungen zu erzielen und das ist eine große Anstrengung für unsere Gesellschaften. Es ist aber möglich; wir haben das Wissen und die Mittel dafür, und viele Menschen sind bereit für diese Veränderungen. Der wirtschaftliche Umbau ruft aber auch Verunsicherung und Ängste hervor, und Widerstände. Ob Länder bereit sind, diese Aufgabe anzunehmen, hängt daher auch von den politischen Konstellationen und der gesellschaftlichen Unterstützung ab. Die notwendigen Veränderungen sind anspruchsvoll, aber notwendig, um ein gutes Leben zu erreichen und zu sichern. Sie bedeuten auch, dass Wohlstand anders aussehen wird als heute.

Um es noch etwas konkreter zu machen: Du hast gesagt, nur bei 12 Prozent der Indikatoren gibt es Fortschritte. Welche sind das? Und wo gibt es Rückschritte?

Fortschritte gab es zwischen 2020 und 2023 weltweit bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung, beim Zugang zu mobiler Telefonie und der Internetnutzung sowie bei der Wohnsituation. Die Vereinten Nationen sind zuversichtlich, dass es auch Fortschritte geben wird beim Ausbau der sozialen Sicherung, der Abwassersysteme, dem Zugang zu Strom und der Verbesserung der Energieeffizienz. Rückschritte gab es vor allem wegen der Corona-Pandemie bei der Bekämpfung der extremen Armut, der Kindersterblichkeit, dem Impfschutz, dem Schulbesuch, dem Wirtschaftswachstum und der weltweiten Mordrate. Besonders schlimm sieht es bei den Subventionen für fossile Energieträger aus: Die wurden nicht abgebaut, sondern haben sich verdoppelt. Auch die CO2-Emissionen nehmen weltweit zu, anstatt zu sinken und es gibt Rückschritte beim Schutz der Fischbestände in den Meeren und beim Artenschutz insgesamt. Die Verringerung von Ungleichheiten in den Ländern kommt nur langsam voran.  

Wie verbindlich sind die Nachhaltigkeitsziele?

Die Agenda 2030 ist im völkerrechtlichen Sinne nicht verbindlich. Sie lebt davon, dass sich Regierungen immer wieder positiv für ihre Ziele entscheiden. Zwei Gründe, warum ich es für richtig halte, an der Agenda festzuhalten: Zum einen benennt sie in vielen Bereichen die richtigen Herausforderungen, vor denen jede Gesellschaft steht. Zum anderen sind sich die Länder der Welt immer noch einig, dass sie an diesem Zielekatalog festhalten wollen. Und das ist angesichts der Krisen, die wir erleben, auch in der internationalen Zusammenarbeit, so wichtig: eine Plattform zu haben, auf der man sich trotz aller Differenzen noch treffen kann. Dass man zum Beispiel auch Saudi-Arabien fragen kann, wo sie denn mit ihren Zielen stehen. Und auch Deutschland muss sich der Frage stellen, was es tut, um der Verpflichtung zur internationalen Zusammenarbeit und zur eigenen Veränderung für das nationale und das globale Gemeinwohl nachzukommen. Das ist der eigentliche politische Wert dieser Agenda und ihrer Ziele.

Deswegen gibt es diese jährlichen Zusammenkünfte in New York, immer im Juli. Dort erstatten die Länder dann 14 Tage lang freiwillig Bericht zur nationalen Umsetzung der Agenda 2030. Jedes Jahr werden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Dieses Jahr geht es um Stadtentwicklung und um Ungleichheiten, aber auch um die Versorgung mit Trinkwasser und Abwassersystemen. Das ermöglicht den Ländern, voneinander zu lernen: Wie haben es andere Länder geschafft, Fortschritte zu erzielen? Das läuft nicht immer optimal, weil sich Regierungen in der Regel in einem guten Licht darstellen möchten und eher von Erfolgen als von dem, was nicht gut läuft, berichten. Um wirklich Fortschritte zu erzielen, ist es daher unheimlich wichtig, dass diese Berichterstattung nicht nur in New York stattfindet, sondern auch vor Ort im eigenen Land. Dass es bei der Vorbereitung des Berichts einen öffentlichen Konsultationsprozess gibt, bei dem sich interessierte Akteure aus der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und der Wissenschaft zu Wort melden können und den Bericht der Regierung kommentieren und weiter verbessern oder auch einen parallelen Bericht vorlegen können. Die Berichterstattung soll ja auch dazu dienen, die Bürgerinnen und Bürger zu informieren und vor ihnen Rechenschaft abzulegen. Damit sind zivilgesellschaftliche Gruppen dann in der Lage, über eine öffentliche Debatte Druck auszuüben, damit die Politik entschiedener und wirksamer für die Durchsetzung der Nachhaltigkeitsziele arbeitet. Ideal wäre es, wenn diese Rechenschaftslegung auch im Bundestag und im Bundesrat stattfinden würde, um die Verbindlichkeit der Ziele nachhaltiger Entwicklung für alle Politikfelder zu stärken und die Kooperation zwischen dem Bund und den Ländern dafür zu verbessern.

Welche Rolle kommt Deutschland in diesem Prozess zu?

Deutschland hat sich sehr engagiert in den Verhandlungen zur Entstehung der Agenda 2030. Und es gehört auch zu den Ländern, die 2016 ihren ersten nationalen Umsetzungsbericht vorgelegt haben. Zuständig für die Umsetzung der Agenda 2030 ist das Kanzleramt, weil die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie beim Kanzleramt liegt. Das ist im Prinzip eine gute Ausgangsbasis.

Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie ist also die Übersetzung der Ziele in nationales Handeln.

Ja, genau. Das birgt auch Herausforderungen, weil dadurch ein paralleler Prozess entsteht. Eigentlich müsste die Agenda 2030 zentraler Bezugspunkt jedes Ressorts sein. Das ist sie aber nicht. Es gibt in den Ministerien zwar jeweils Beauftragte dafür. Aber letztlich ist es jeder Minister*in selbst überlassen, wie stark sie die Ziele nachhaltiger Entwicklung tatsächlich ins Zentrum stellt. Das erfordert jedes Mal Überzeugungsarbeit, wenn eine neue Regierung entsteht und eine neue Person ins Amt kommt. Die Nachhaltigkeitsstrategie hat den übergeordneten Anspruch, Nachhaltigkeit in der Politik über Legislaturperioden hinweg auf einem hohen Niveau zu halten und den Finger in die Wunde zu legen, wenn es nicht gut läuft. Deshalb müssen die Ziele auch wirklich ambitioniert sein.

Welche Rolle spielt die EU?

Das hängt von den Politikfeldern ab. Der European Green Deal deckt viele Bereiche der Ziele nachhaltiger Entwicklung ab: Europa soll bis 2050 klimaneutral werden und bis 2030 mindestens 55 Prozent der Treibhausgase im Vergleich zu 1990 einsparen. Außerdem geht es um entsprechende Investitionen in den Umbau von Infrastrukturen und um den Aufbau einer Kreislaufwirtschaft, damit weniger Müll entsteht, Dinge länger genutzt werden und so weniger Rohstoffe importiert und verbraucht werden. Die Landwirtschaft und unsere Ernährung sollen die Umwelt weniger belasten und es soll für die Wiederherstellung von Naturschutzgebieten gesorgt werden. Der European Green Deal baut darauf, dass die EU ihre Mitgliedstaaten motivieren kann, stärker voranzugehen, indem sie einen Ausgleich schafft zwischen den Ländern, die mehr Ressourcen haben und deswegen auch mehr Verantwortung, und jenen, die schlechter aufgestellt sind. Der Next Generation Fund ist zum Beispiel ein wichtiger erster Schritt in diese Richtung. Die EU-Mitgliedstaaten können damit Maßnahmen zur Bewältigung der Folgen der Pandemie finanzieren, müssen aber gleichzeitig darauf achten, dass diese den Klimawandel nicht verstärken.

Aber es muss solche Mechanismen dauerhaft und in allen Politikbereichen geben. Und die EU muss natürlich auch auf internationaler Ebene, zum Beispiel in ihrer Handels- und Investitionspolitik sowie der Entwicklungspolitik dazu beitragen, dass die Ziele nachhaltiger Entwicklung erreicht werden. Auch die Forschungsförderung der EU ist sehr wichtig, um Innovationen und Transformationspfade zu ermitteln, die jeweils zu den Kontexten in den Ländern passen. Gegenwärtig leben 70 Prozent der Menschen in Ländern mit sehr schwachen Forschungs- und Innovationssystemen. Deshalb muss die Forschungspolitik der EU auch in die Stärkung dieser Systeme investieren – das ist in unserem gemeinsamen Interesse, wie wir zum Beispiel während der Corona-Pandemie gesehen haben.

Es ist wichtig, dass bei den nächsten Europawahlen die Fraktionen gestärkt werden, die sich für eine europäische Vorreiterrolle in der Klimapolitik einsetzen und für eine konstruktive, reformorientierte Politik der internationalen Zusammenarbeit.

Was empfiehlt der Bericht, den du mitgeschrieben hast, um die Fortschritte bei den Zielen zu beschleunigen?

Wir empfehlen, dass die Staaten im September einen gemeinsamen Rahmen festlegen, um weltweit bei der nachhaltigen Entwicklung voranzukommen. Dazu gehört zuallererst, nationale Aktionspläne in den Bereichen zu erarbeiten, in denen die Länder stagnieren oder Rückschritte verzeichnen. Diese Aktionspläne sollen im Juli 2024 vorgelegt werden.

Ähnlich wie bei den Sofortprogrammen, die das deutsche Klimaschutzgesetz vorsieht.

Ja, und das bedeutet eben auch, sich zu fragen: Woran liegt es denn im Einzelnen, dass wir da nicht weiterkommen, und dann entsprechende Maßnahmen zu beschließen und diese Aktionspläne im nächsten Jahr vorzulegen. Für die reicheren Länder bedeutet es auch, nicht nur darauf zu gucken, was sie national tun müssen, sondern auch international, um andere Länder voranzubringen. Viele Entwicklungsländer sind jetzt mit ihren öffentlichen Finanzen total unter Druck geraten. Es gibt 61 Länder, die vor dem Bankrott stehen, weil sie durch die Pandemie gezwungen waren, sich zu verschulden oder eben durch die Rezession auch keine Steuereinnahmen mehr hatten. Und die haben jetzt gar keine Ressourcen mehr für die dringend notwendige Transformation. Deshalb ist unsere zweite vordringliche Empfehlung, Schuldenerlasse für Länder mit besonders niedrigen Einkommen und Schuldenumstrukturierungen für die anderen Länder voranzubringen.  Das müssen die Industrieländer in die Hand nehmen, denn bei denen sind diese Länder ja verschuldet. Und wenn ich Industrieländer sage, dann meine ich damit auch China, dessen Bankensystem sich dieser Initiative anschließen muss. Das Projekt „Debt Relief for a Green and Inclusive Recovery (DRGR: https://drgr.org/)“, eine Kooperation zwischen dem Global Development Policy Center der Boston University, dem Centre for Sustainable Finance der SOAS University of London und der Heinrich-Böll-Stiftung, kommt zu dem Ergebnis, dass diese 61 hoch verschuldeten Länder des globalen Südens auf eine Umstrukturierung ihrer Auslandsschulden in Höhe von mehr als 800 Milliarden US-Dollar angewiesen sind, als Voraussetzung für die Erreichung von Klima- und Entwicklungszielen.

Notwendig ist auch eine bessere Steuerbasis, um Einnahmen für die Transformation einzusetzen. Das ist ein gemeinsames Interesse aller Länder. Ohne eine massive öffentliche Förderung durch Steueranreize, durch Abbau und Umbau von Subventionen, durch Investitionen in eine erneuerte Infrastruktur, wird das nicht gelingen. Ein anderer Vorschlag, der auch modelliert und durchgerechnet wurde, ist, in Niedriglohnländern die öffentlichen Budgets für Gesundheit und Bildung zu verdoppeln. Die Budgets sind aktuell so niedrig, dass eine Verdopplung gar nicht so viel ist, aber doch große Wirkung erzielen würde. Und auch im sozialen Bereich muss dringend mehr investiert werden. Das hat auch wirtschaftliche Vorteile: Ohne gut ausgebildete Arbeitskräfte kann die Wirtschaft nicht vorankommen. Menschen, die sich selber um ihre Kinder kümmern müssen oder um Kranke, weil die Krankenhäuser so schlecht ausgestattet sind, fallen im Arbeitsleben aus. Es gerät manchmal in Vergessenheit, dass soziale Sicherungssysteme und Investitionen in Bildung auch einen wirtschaftlichen Zweck erfüllen. Der dritte Punkt, den wir sehr stark machen, ist, dass Investitionen in die ökonomische, rechtliche, politische und soziale Stärkung von Frauen nötig sind. Damit kämen die Staaten ihrer Pflicht nach, sich der Missachtung der Rechte von Frauen und Mädchen entgegenzustellen. Darüber hinaus zeigen Analysen von Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen Zielen, dass die Geschlechtergleichstellung positive Auswirkungen auf sehr viele andere Ziele hat.

Wie zum Beispiel?

Gebildete und rechtlich gestärkte Frauen können am Arbeitsmarkt aktiv teilnehmen, können Unternehmen gründen und sie investieren dann in die nächste Generation. Ein anderes wissenschaftlich bestätigtes Beispiel ist, dass Friedensabkommen in Konflikten und Bürgerkriegen, die unter der Beteiligung von Frauen ausgehandelt werden, stabiler sind und der Gesellschaft insgesamt zugutekommen. Frauen verhandeln meist nicht aus der Sicht der Kriegsparteien, die möglichst viel für sich selbst herausholen wollen, sondern aus der Sicht der Zivilbevölkerung, die schutzlos der Gewalt des Krieges ausgesetzt war und unter Hunger und zerstörten Infrastrukturen gelitten hat. Sie haben oft eine genauere Vorstellung davon, welche Bereiche für einen nachhaltigen Frieden wiederaufgebaut und reformiert werden müssen.

Und das bringt mich zur vierten wesentlichen Empfehlung: internationale Anstrengungen zu unternehmen, um die vielen Kriege und Konflikte in der Welt beizulegen – jedes Jahr, um den sich ein Krieg verlängert, wirft die beteiligten Gesellschaften in sozialer, ökologischer und ökonomischer Hinsicht um ein Vielfaches zurück.

Inwiefern trägt auch die Arbeit der Heinrich-Böll-Stiftung zur Erreichung der Ziele nachhaltiger Entwicklung bei?

Zum Beispiel dadurch, dass wir den Schwerpunkt unserer Arbeit auf Fragen der Menschenrechte und Demokratie und der Geschlechtergerechtigkeit legen. Und auf Fragen der sozial-ökologischen Transformation. Wir kooperieren mit mehr als 100 Partnern in rund 60 Ländern und bearbeiten die globalen Herausforderungen, die die Ziele nachhaltiger Entwicklung beschreiben. Für uns ist die Arbeit mit Partner*innen sehr wichtig, da sie am besten wissen, wo man in ihrem spezifischen Kontext am besten ansetzt. Unser Ziel ist es, gemeinsam mit unseren Partner*innen Veränderungsprozesse anzustoßen und voranzubringen und ihre kritischen Positionen in der internationalen Debatte sichtbar zu machen. So können wir auch globale Ungleichheiten angehen.

Auch unsere inländische politische Bildungsarbeit zielt darauf ab, die Demokratie zu stärken und die Transformation in Deutschland voranzubringen. Hier spielen die 16 Landesstiftungen und die Zusammenarbeit im Stiftungsverbund eine wichtige Rolle. Außerdem gehört zu der Heinrich-Böll-Stiftung auch das feministische Gunda-Werner-Institut, das sich mit seinem Partnernetzwerk für Geschlechterdemokratie, die Rechte von LGBTIQ und gegen antifeministische Diskurse einsetzt. Schließlich befassen sich auch die Stipendiat*innen unseres Studienwerks in fächerübergreifenden Arbeitsgruppen mit Fragen der Transformation. Unser Ziel ist es, mit all unseren verschiedenen Aktivitäten Menschen und Organisationen zu stärken, um gemeinsam an einer besseren und nachhaltigen Zukunft für alle zu arbeiten. Globale Gerechtigkeit ist im 21. Jahrhundert ohne einen ökologischen Umbau von Gesellschaft und Wirtschaft nicht zu haben – aber auch politische Freiheit, der Kampf gegen Diskriminierung und Ausgrenzung und für die Achtung der Rechte aller Menschen gehören dazu. Dafür bin ich zur Stiftung gekommen.

Das Interview führte Laura Endt.

 

Imme Scholz, Vorstand Böll-Stiftung vor einem hellen Hintergrund blickt in die Kamera

Dr. Imme Scholz ist seit April 2022 Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Sie ist zudem Ko-Vorsitzende der unabhängigen Gruppe von Wissenschaftler*innen (Independent Group of Scientists), die von den Vereinten Nationen beauftragt ist, bis September 2023 den zweiten wissenschaftlichen Bericht zur Umsetzung der Ziele nachhaltiger Entwicklung (Global Sustainable Development Report (GSDR)) vorzulegen.


Das sind die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs):

1. Keine Armut: Armut in allen ihren Formen und überall beenden

2. Kein Hunger: Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern

3. Gesundheit und Wohlergehen: Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern

4. Hochwertige Bildung: Inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten lebenslangen Lernens für alle fördern

5. Geschlechtergleichheit: Geschlechtergerechtigkeit und Selbstbestimmung für alle Frauen und Mädchen erreichen

6. Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen: Verfügbarkeit und nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser und Sanitärversorgung für alle gewährleisten

7. Bezahlbare und saubere Energie: Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und moderner Energie für alle sichern

8. Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum: Dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern

9. Industrie, Innovation und Infrastruktur: Eine widerstandsfähige Infrastruktur aufbauen, breitenwirksame und nachhaltige Industrialisierung fördern und Innovationen unterstützen

10. Weniger Ungleichheiten: Ungleichheit in und zwischen Ländern verringern

11. Nachhaltige Städte und Gemeinden: Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig gestalten

12. Nachhaltige/r Konsum und Produktion: Nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sicherstellen

13. Maßnahmen zum Klimaschutz: Umgehend Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen ergreifen

14. Leben unter Wasser: Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne nachhaltiger Entwicklung erhalten und nachhaltig nutzen

15. Leben an Land: Landökosysteme schützen, wiederherstellen und ihre nachhaltige Nutzung fördern, Wälder nachhaltig bewirtschaften, Wüstenbildung bekämpfen, Bodendegradation beenden und umkehren und dem Verlust der biologischen Vielfalt ein Ende setzen

16. Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen: Friedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen

17. Partnerschaften zur Erreichung der Ziele: Umsetzungsmittel stärken und die globale Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung wiederbeleben